KAPITEL 20
Deep
Zwei Tage, nachdem es Lanfen gelungen war, alle bis auf einen Teilnehmer ihres ersten Kurses dazu zu bringen, dass sie sich mit einigem Erfolg warfen, fand sie ihren Unterrichtsraum leer vor, als sie bei Forward Kinetics eintraf. Von keinem ihrer Schützlinge war etwas zu sehen, es gab keine Nachricht, die ihre Abwesenheit erklärte, und auch der Dienstkalender lieferte keine Aufklärung.
Verwirrt machte sie sich auf den Weg zu Matts Labor, um zu sehen, ob er wusste, was los war.
Sie wollte gerade an seine Tür klopfen, als jemand ihren Namen rief.
„Ms. Chen.“
Sie drehte sich um und sah Brian Reynolds im Flur nahe der Eingangshalle stehen. Wie immer trug er eine schmucklose, dunkelblaue Uniform.
„Hallo, Brian. Wo sind alle?“
„Sie warten in unserer Einrichtung. Wir arbeiten von jetzt an dort.“
Lanfen war ein ausgeglichener Mensch, aber die rücksichtslose Haltung, die in dieser mehr als kurzfristigen Änderung zum Ausdruck kam, weckte ihren normalerweise schlafenden Zorn. Sie blieb stehen, atmete tief durch und überlegte einen Moment, ob sie einfach Matts Bürotür aufreißen sollte, um herauszufinden, was das sollte.
„Ma’am?“ Reynolds sah sie mit dieser Miene wohlerprobter Geduld an, die das Militär den Leuten offenbar beibrachte, nein, abverlangte.
Nun gut. Sie würde die Sache mit Matt ausfechten, wenn sie zurückkam. Sie nickte und folgte Brian zum Dienstwagen, der draußen auf sie wartete.
Die Kinetik-Anlage von Deep Shield war beeindruckend, wenigstens der Teil, den Lanfen zu Gesicht bekam. Der Arbeitsbereich war groß, gut geschnitten und mit allem und noch etwas mehr ausgestattet, was für ein Kung-Fu-Training nötig war. Eine riesige blaue Matte nahm den größten Teil des Bodens ein. Um sie herum standen die Mitglieder ihrer Gruppe, jeweils begleitet von einem funkelnden neuen Roboter.
Lanfen brauchte einen Moment, bis sie wahrnahm, dass ein einsamer Roboter neben der großen Doppeltür Wache stand: Bilbo.
Ihr Zorn von vorhin wurde neu entfacht. Dass man sie einfach ohne Vorwarnung hierher verfrachtet hatte, war schlimm genug, aber dass sie in ihren Zuständigkeitsbereich eingedrungen waren und Bilbo mitgenommen hatten, ohne ihr auch nur ein Wort zu sagen …
Sie wusste nicht, auf wen sie ihren Zorn richten sollte – auf Howard, weil er sich mit ihr, ihrer Gruppe und ihrem Roboter davongemacht hatte, oder auf Matt und Chuck, weil sie es zugelassen hatten.
Nur dass Bilbo genau genommen nicht ihr Roboter war.
Sie zügelte ihre Wut wieder. Sie würde ihr hier nichts nützen und nur ihre Trainingsbemühungen und ihren persönlichen Fortschritt behindern. Auch war es nicht fair gegenüber ihren Schülern, sie für das Verhalten ihres Meisters verantwortlich zu machen. Nicht zum ersten Mal an diesem Tag nahm sie sich vor, ein ernstes Wort mit Matt Streegman zu reden, wenn sie zu Forward Kinetics zurückkam. Sie machte einen tiefen, reinigenden Atemzug, ließ die Luft entweichen und musterte die Mitglieder ihrer Gruppe mitsamt ihren metallischen Gegenstücken.
„Ich hatte keine Ahnung, dass Dices Team so viele von diesen kleinen Kerlen gebaut hat“, sagte sie und merkte erst, als sie es aussprach, dass „diese kleinen Kerle“ um rund ein Drittel größer waren als Bilbo. Es gab noch weitere Unterschiede – leicht veränderte Dimensionen, kräftigere Glieder, ein anderes Material für den Schutzpanzer des Rumpfs.
„Eigentlich war es so, dass wir ein paar Prototypen herübergebracht und den Rest von ihnen hier zusammengebaut haben“, sagte Reynolds.
Sie drehte sich zu ihm um. „Weiß Dice das?“
Errötete er etwa ein wenig?
„Dr. Kobayashi hat mitgeholfen, unsere Produktion aufzubauen.“
Lanfen beruhigte sich ein wenig. „Na dann. Lassen Sie uns anfangen, ja? Wir müssen diese neuen Roboter einem Testverfahren unterziehen, und wir sind schon spät dran.“
„Ja, Ma’am.“ Reynolds ging zu seinem Roboter.
„Lassen Sie mich zuerst mit einem von den Ihren arbeiten, damit ich sehe, ob sie sich anders anfühlen. Das könnte mir helfen, falls es irgendwann ein Problem zu lösen gibt.“
Sämtliche Rekruten sahen Reynolds an.
„Sie können meinen benutzen“, sagte er.
Sie inspizierte den Roboter zuerst visuell, fragte Reynolds nach Höhe und Gewicht und stellte fest, dass Hände und Füße jetzt mehr wie die von Menschen waren. Das war gut. Es gab außerdem eine kleine Messingplakette auf der rechten Schulter des Roboters, in die etwas eingeätzt war: „#DSRS04 Thorin.“
Sie lächelte Reynolds an. „Ihr habt ihnen Namen gegeben?“
Er lächelte zurück. „Natürlich.“
„Okay. Was sind die wesentlichen Unterschiede?“
„Sie sind rund fünfzehn Kilo schwerer und zwanzig Zentimeter höher, und ihre Fortsätze sind anders konstruiert, wie Sie sehen.“
„Die Köpfe sind ebenfalls größer“, bemerkte Lanfen. „Gibt es dafür einen bestimmten Grund?“
„GPS-System, Infrarotkamera, Wärmesensoren.“
„Wärmesensoren?“
„Stellen Sie sich vor, Sie suchen in einem stockdunklen Bergwerk nach Überlebenden. In Situationen, in denen selbst Infrarottechnik nicht hilft, kann ein Wärmesensor die Anwesenheit einer lebenden Person feststellen. Vielleicht die einzige Möglichkeit, in einer solchen Situation Überlebende zu finden.“
„Cool. Dann wollen wir mal sehen, wie sie funktionieren.“
Lanfen wandte dieselbe Methode an, um in Thorins Mechanismus zu gelangen, wie bei Bilbo. Dieser Teil funktionierte reibungslos. Es erforderte ein wenig Übung, sich an das zusätzliche Gewicht und die veränderten Abmessungen zu gewöhnen, aber letzten Endes bekam sie es schnell in den Griff. Für die neuen Fortsätze war ein wenig mehr Eingewöhnung nötig. Beide Hände und Füße konnten wahlweise einen Finger als Daumen benutzen. Sie arbeitete einige Minuten lang daran, die Hände zu öffnen und zu schließen, bis sie mit dem Resultat zufrieden war.
Sie ließ den neuen Roboter ferngelenkt vorführen, was er konnte, und beobachtete aus ihrer eigenen Sicht, wie er sich bewegte. Schließlich warf sie sich in den Roboter. Die Welt sah ziemlich genauso aus wie aus Bilbos Sicht. Sie ließ Thorin ein paar Rollen, Kicks und Stellungen machen, ehe sie ihn an Reynolds zurückgab, der sie mit beinahe übertriebener Sorge ansah.
„Was ist?“
Er schüttelte den Kopf. „Nichts. Ich wollte mich nur vergewissern, dass wir alles richtig gemacht haben. Thorin schien Ihnen in Ordnung zu sein? Keine Macken?“
„Nichts“, sagte sie. „Ich bin allerdings ein wenig neidisch auf Ihr neues Spielzeug.“
Reynolds drehte den Kopf zu seinen Mitschülern. Sie folgte seinem Blick und sah, dass Seneca Hughes ein Lächeln unterdrückte … und zu Bilbo schaute.
Lanfen blickte ebenfalls zu ihrem Roboter, und erst jetzt erkannte sie, dass auch er mit den praktischen neuen Füßen ausgestattet war.
„Sehr hübsch“, sagte sie begeistert. „Habe ich auch GPS?“
„Tut mir leid“, sagte Reynolds. „Das Labor hielt es bei ihm nicht für erforderlich. Aber die Greifwerkzeuge sind eine Konstruktion von Dr. Kobayashi.“
„Nun, dann wollen wir mal Gebrauch von ihnen machen. Schluss mit der Bummelei, meine Damen und Herren. An die Arbeit. Haben Sie überhaupt schon praktisch mit ihnen gearbeitet?“
„Ein wenig. Nur Funktionstests. Kinetisch haben wir noch nichts versucht.“
„Dann wird es Zeit“, sagte sie. „Nicht dass die Robos noch denken, wir trauen ihnen nichts zu.“
Dafür erntete sie tatsächlich eine Runde Gelächter.
Vielleicht würde es ja doch noch ein ganz guter Tag werden.
Mini fand ihre Erfahrung mit den Deep-Shield-Leuten sowohl bizarr als auch unangenehm – und wahrscheinlich ging es ihnen andersherum genauso. Sie verstand die Leute nicht, die Leute verstanden Mini nicht, und am Anfang floh sie nach jeder Sitzung in die Gartenanlagen des Businessparks, wo sie sich in der Gesellschaft von Jorge Delgado entspannte, einem der Gärtner, mit dem sie sich angefreundet hatte.
Jorge war ein Mann vieler Worte mit einer Meinung zu allem, was aus dem Boden wuchs. Sie fand seine botanischen Weisheiten beruhigend und benutzte die Gelegenheit, um die Bauweise der Pflanzen zu studieren, um die er sich kümmerte. Sie verriet ihm natürlich nicht alles, woran sie arbeitete – nur dass sie Künstlerin war und so realistische Blumen malen wollte wie nur möglich.
„Ich will, dass sie aus der Leinwand springen“, sagte sie zu ihm, was er zum Anlass nahm, sie mit kleinen Töpfen zu versorgen, die Abschnitte seiner leuchtendsten Blüten enthielten, zusammen mit weitschweifigen Erläuterungen über die Pflege und Ernährung grüner Haustiere.
„Wenn sie springen sollen“, sagte er, „müssen Sie ihnen Energiefutter geben.“
Mini war sich nicht sicher, ob Jorges Weisheit ihr mit den Deeps helfen würde. Tatsächlich war sie sich zu Beginn ihres gemeinsamen Aufenthalts nicht sicher gewesen, ob sie ihnen überhaupt etwas beibringen konnte, das für eine militärische Anwendung brauchbar war. Was interessierte sie daran, Künstler-Software zu beeinflussen oder sogar Pixel und Photonen auf einem Bildschirm?
Also hatte sie schließlich gefragt.
„Unser Ziel“, hatte Rachel Cohen, der weibliche Lieutenant der Gruppe, ihr geantwortet, „ist es, Pixel direkt beeinflussen zu können, so wie Sie es tun. Dann wäre die Notwendigkeit einer speziellen Software hinfällig.“
„Ja, sicher, aber zu welchem Zweck?“
„Stellen Sie sich nur die Zeitersparnis vor, wenn wir Prototypen der Überzüge für unsere Roboter erschaffen und Rettungsszenarien entwickeln und demonstrieren können, ohne dass wir mithilfe von Drahtgittermodellen und Animationssoftware alles fein säuberlich ausarbeiten müssen. Die Anwendungsmöglichkeiten sind praktisch unbegrenzt.“
Also brachte sie ihnen die Kunst der Pixelbeeinflussung bei, erst mithilfe der Software, dann gingen sie darüber hinaus, um Bilder einfach auf dem Schirm zu erschaffen. Es entging der Gruppe jedoch nicht, dass Minis Bilder und Animationen eine andere Qualität hatten.
„Ihre sehen dreidimensional aus“, sagte Rachel. „Wie machen Sie das?“
Die Frage war eine schöne Belohnung für Minis harte Arbeit. Sie hatte Stunden allein im Labor verbracht und selbst zu Hause die Pixel hin und her geschoben und sich in das Medium hinein ausgedehnt, um sie herauszuziehen und ihnen drei Dimensionen zu verleihen.
Unter Zuhilfenahme der Blütenpflanzen, die ihr Jorge freundlicherweise geschenkt hatte, führte Mini ihre Gruppe in 3-D ein, trainierte sie darin und war schließlich zufrieden mit ihrer Arbeit, auch wenn sie in ihrem Innersten wusste, es kam nicht dem gleich, was sie selbst konnte. Das erfüllte sie durchaus mit ein wenig Stolz, den sie aber rasch unterdrückte, da sie wusste, am Ende würde man von ihr verlangen, dass sie ihr ebenbürtig waren.
Schon während Mini ihre Schüler weiterentwickelte, wusste sie, dass sie selbst kurz davor war, über das hinauszugehen, was sie ihnen beibrachte. Die Aussicht erregte sie … genau wie ihre Tagträumereien von einer angemessenen Art, ihren neuen Trick vorzuführen.
Sie würde ihn zuerst Eugene zeigen.
„Bilde ich es mir nur ein, oder streifen heute mehr Smiths durch unsere Gänge als gestern?“ Sara stellte ihre Tasse mit heißem Kaffee auf den Tisch zwischen Tim und Mike und zog sich einen Stuhl heran.
„Warum nennt ihr sie so?“, fragte Mike und schlürfte von seinem eigenen Getränk. Heiße Schokolade, wie Sara wusste. Der Mann war süchtig danach.
„Das ist aus den Matrix-Filmen“, antwortete Tim. „Ich dachte, das wüsstest du.“ Auf Mikes Kopfschütteln fügte er an: „Agent Smith ist so eine Art generischer, schwarz gekleideter Typ mit Sonnenbrille, der praktisch überall ist.“
„Ich schwöre, sie haben sich vervielfacht“, sagte Sara. „In der Haupteingangshalle sind drei, und weiß der Himmel, wie viele in den Fluren herumlaufen.“
„Zwei sind beim Espressoautomaten“, murmelte Tim und warf einen Blick in diese Richtung. „Vielleicht sind es Klone.“
Mike lachte. „Nein, der linke ist kleiner als der auf der rechten Seite. Siehst du es?“
„Was tun sie hier?“, fragte Tim.
„Laut Matt“, sagte Sara, „sollen sie sicherstellen, dass niemand in unsere Party platzt oder geheime Dinge aus dem Labor entwendet. Wahrscheinlich wären die Feinde der Vereinigten Staaten sehr interessiert an dem, was wir hier treiben. Diese Zeta-Wellen-Geschichte spielt in einer ganz eigenen Liga, was die technologische Entwicklung einer Schnittstelle Mensch-Maschine angeht. Ich würde wetten, niemand hat so etwas.“
„Da wäre ich mir nicht so sicher“, sagte Tim. „Dieses Zeug scheint in der Luft zu liegen. Ich habe mit Lektoren gesprochen, die sagen, dass ihnen viele Autoren in kurzer Zeit dieselbe Romanidee aufgetischt haben, und außerdem scheinen wissenschaftliche Entdeckungen immer schubweise zu geschehen. Wisst ihr, wie viele Nobelpreisträger sich die Auszeichnung mit Leuten teilen, die am anderen Ende der Welt an derselben Idee gearbeitet haben?“
„Ich glaube nicht, dass es diesmal so ist, Timmy. Damit wir dahin kamen, wo wir jetzt sind, war ein zufälliger und glücklicher Zusammenfluss zweier total unterschiedlicher Geister nötig. Ich meine, überleg mal, wie viele Fäden sich verbinden mussten: Kreativität, Offenheit für scheinbar hanebüchene Ideen, eine Kenntnis des menschlichen Gehirns, ein tiefes Interesse … nein, eine Besessenheit vom Funktionieren des menschlichen Verstands und die mathematischen und mechanischen Kompetenzen, um es durchzuziehen. Ich glaube, wir sind es einfach, Männer. Und deshalb ist es wohl vernünftig, dass Uncle Sam uns wie die nationalen Schätze bewacht, die wir sind.“
Tim verzog das Gesicht. „Dann sind wir also ein Stück Technik für sie? Willst du das sagen?“
„Nicht unbedingt. Wir sind eine menschliche Ressource.“
„Personal?“, meinte Mike.
„Wetware“, konterte Tim.
„Seid nur froh, dass sie euch keinen Ledernacken-Haarschnitt verpasst haben.“ Sara wandte sich an Mike. „Wie geht es mit deiner Truppe voran, Mikey?“
„Ziemlich gut. Sie bedienen Servos, als hätten sie nie etwas anderes getan. Nur …“ Er zögerte.
„Was?“
„Es ist nur … Ich frage mich, wozu wir die Servos überhaupt brauchen.“
Tims Augen leuchteten. „Sara und ich benutzen keine.“
„Was willst du damit sagen? Dass ihr alles mit eurem Geist bewegen könnt?“
„Wohl kaum, sonst würde Kate Upton auf der Stelle hier sitzen.“
Saras Augenrollen war beinahe hörbar.
„Ich bin mir nicht sicher, ob ich das, was wir tun, in Worte fassen kann, aber es ist keine mechanische Schnittstelle dafür nötig. Wir sind einfach dazu in der Lage, nicht modifizierte Maschinen zu steuern.“
„Wow, Timmy, bei dir klingt das, als wäre es so einfach wie ein Korbleger“, sagte Mike.
„Den kriege ich noch immer nicht hin.“ Tim runzelte die Stirn.
„Es müssen Maschinen und Mechanismen sein, von deren Funktionsweise wir eine Vorstellung haben“, sagte Sara. „Aber bei dir ist das so ziemlich alles. Hast du es nicht versucht?“
Mike sah zu der Espressomaschine mit ihren funkelnden Kupfer- und Messingarmaturen. Die beiden Smiths standen immer noch daneben und unterhielten sich über etwas.
Sara folgte seinem Blick und sah, wie sich eine der Düsen auf der Seite drehte und ein Dampfstrahl aus ihr schoss, der die beiden Agents zwang, einige Schritte zurückzuweichen.
Sie sah Mike wieder an. Seine Miene war unbeteiligt und vollkommen unschuldig.
Tim lachte glucksend. „Junge, Junge, lass sie lieber nicht wissen, dass du die Macht auf diese Weise benutzen kannst. Sonst stufen sie deinen Arsch als geheim ein.“
Würden sie das tun? Sara hatte sich diese Frage schon viele Male gestellt, seit sie sich auf die Partnerschaft mit Deep Shield eingelassen hatte. Was wenn das Militär zu der Ansicht kam, die Zetas seien wenig mehr als geheime Warmware? Was geschah mit Menschen, der Gehirne samt den Gedanken darin als geheim eingestuft wurden?
„Wir sind doch bereits topsecret, oder nicht?“, fragte sie.
Tim warf noch einen Blick zu den Smiths. „Ja, und dasselbe gilt anscheinend auch für ein paar von den Projekten, an denen unsere Schüler arbeiten.“
„Was willst du damit sagen?“
„Ich bin vorhin noch rasch ins Labor hinaufgegangen, um meine Kaffeetasse zu holen, und einer meiner Schüler – der Lieutenant, wie heißt er gleich noch … Pierce – saß an seinem Computer. Ich glaube, ich habe es mir nicht nur eingebildet, wie schnell er das Programm geschlossen und die Sache auf den Schirm geholt hat, an der wir gestern gearbeitet haben.“
Sara beugte sich vor. „Hast du mitbekommen, woran er eigentlich gearbeitet hat?“
„Jedenfalls etwas, wofür er dieselbe Software benutzte. Er hat etwas konstruiert. Es sah wie eine Panzerung für mich aus.“
Mike lachte. „Du hast ihn beim Spielen erwischt, Tim. Er entwirft wahrscheinlich ein Videospiel in seiner Freizeit.“
Tim schien einen Moment darüber nachzudenken, dann grinste er. „Ein Mann nach meinem Geschmack.“
Sara sah wieder zu den beiden Smiths hinüber, die jetzt an einem Tisch saßen und alles andere als entspannt wirkten. „Da wäre ich mir nicht so sicher.“
„Ich könnte ja zu ihm sagen, ich hätte bemerkt, dass er an einem privaten Projekt arbeitet und dass ich ihm gern dabei helfen würde. Dann würde er es mir zeigen, oder?“
„Auf dein eigenes Risiko, Timmy.“ Sie stand auf und griff nach ihrer Kaffeetasse. „Es ist bald Zeit für den Kurs. Ich gehe in mein Labor hinunter. Sei vorsichtig, wenn du deine Nase in ihre Angelegenheit steckst, ja?“
„Du bist paranoid“, sagte Tim.
„Das bist du normalerweise ebenfalls“, erinnerte sie ihn.
„Warum jetzt nicht?“
Und mit dieser Frage ließ sie Tim sitzen und machte sich auf den Weg zu ihrem Unterricht.
Ein Duft nach Holz und Blumen drang in Chucks olfaktorisches System. Etwas, das die Vorstellung weckte, er würde Wasser fließen hören und Gras unter seinen Füßen spüren. Er kannte dieses Parfum. Lächelnd wandte er den Kopf zur Tür und sah Lanfen dort stehen.
Ihr Gesichtsausdruck setzte seiner guten Laune einen Dämpfer auf. „Was ist los?“
Sie gestikulierte zur Tür und gab zu erkennen, dass sie diese gern schließen würde. „Können wir reden?“
Aha. Diese drei Worte haben selten ein angenehmes Gespräch eingeleitet. „Natürlich. Kommen Sie herein.“
Sie schloss sorgfältig die Tür und vergewisserte sich, dass sie richtig eingerastet war.
Dann setzte sie sich auf die andere Seite seines Schreibtischs, verschränkte die Arme vor der Brust und sah stirnrunzelnd die Schneekugel auf seinem Schreibtisch an, als hätte die sich irgendwie danebenbenommen.
„Wo waren Sie heute?“, fragte Chuck, als sie nichts sagte.
Die Frage erschreckte sie offenbar. Sie ließ die Arme sinken und sah ihn an. „Sie wissen es nicht? Sie wissen es wirklich nicht?“
„Nein. Was ist passiert? Was ist los?“
„Ich wurde heute Morgen entführt, Bilbo ebenfalls. Von den Deeps. Sie haben uns beide zu ihrer Anlage verfrachtet, wo wir den Tag mit unserer Gruppe von Rekruten und ihren nagelneuen und verbesserten Robotern verbrachten.“
„Sie … das haben sie getan?“
Sie nickte.
Er hatte von den neuen Robotern gewusst, aber nicht, dass die Deeps geplant hatten, den Ort für ihr Training zu wechseln.
„Ihnen hat vorher niemand etwas gesagt?“, fragte sie.
„Nein, ich hatte keine Ahnung. Haben Sie mit Matt darüber gesprochen?“
„Matt ist seltsamerweise nicht in seinem Büro. Und nicht in seinem Labor. Und auch nirgendwo sonst, wo ich heute Abend nach ihm gesucht habe.“ Sie beugte sich vor und legte die verschränkten Hände auf die Schreibtischkante. „Chuck, ich habe nichts dagegen, in ihrer Anlage mit ihnen zu arbeiten. Ich habe auch nichts dagegen, dass sie Bilbo coole neue Fortsätze eingebaut haben. Aber ich habe sehr wohl etwas dagegen, wenn sie das alles tun, ohne mir vorher Bescheid zu sagen. Können Sie … werden Sie mit General Howard darüber reden? Können Sie ihm begreiflich machen, dass wir es nicht gewöhnt sind, herumgeschleppt zu werden wie … wie Geschütze. Ich bin kein Eigentum der Regierung. Und Bilbo auch nicht. Es ist nicht richtig von ihnen, uns einfach so mitzunehmen.“
„Nein, das ist es wirklich nicht.“ Chuck kämpfte gegen das Gefühl an, in einem sehr tiefen Tümpel zu schwimmen, dessen Boden er nicht sehen konnte. Es gab Strömungen hier, die er nicht kannte, und denen er noch viel weniger vertraute. „Ich werde mit Matt reden. Wir klären das.“
„Danke.“
„Sie sagten, sie haben Veränderungen an Bilbo vorgenommen?“
Ihre Miene hellte sich ein wenig auf. „Sie haben diese praktischen neuen Füße eingebaut, mit je nach Situation einsetzbaren Daumen.“ Sie wackelte mit ihren Daumen hin und her. „Von Dice konstruiert, sagen sie. Außerdem haben sie GPS und Wärmesensoren in ihren Robotern installiert. Für Rettungseinsätze.“ Sie legte die Stirn in Falten. „Benehme ich mich lächerlich? Ich meine, wir spielen alle für dasselbe Team, oder? Warum sollte es mich stören, wenn sie Veränderungen vornehmen?“
„Sie benehmen sich nicht lächerlich. Dass sie zum Militär gehören oder unser größter Kunde sind, gibt ihnen nicht das Recht, aus einer Laune heraus einfach alles zu verändern. Ich werde mit Matt reden.“
„Danke“, sagte sie noch einmal und zuckte mit den Achseln. Es war, als hätte sie sich des Problems damit entledigt, wie man eine Jacke ablegt, die einem zu warm geworden ist. Sie richtete sich auf, ihr Gesicht verlor den nachdenklichen Ausdruck und ihre Augen strahlten.
„Es ist sechs Uhr“, verkündete sie. „Haben Sie schon gegessen?“
Er schüttelte den Kopf, immer noch auf der Hut vor unsichtbaren Strömungen.
„Ich kenne ein großartiges Restaurant mit Sichuan-Küche, nur eine Meile von hier. Mögen Sie Sichuan?“
„Ich liebe es“, sagte er, obwohl er sich ziemlich sicher war, dass er Sichuan nicht von Kantonesisch oder Mandarin unterscheiden konnte. Es war ihm in Wirklichkeit egal. Wenn es bedeutete, dass er mit Lanfen essen ging, würde er auch sagen, dass er Limabohnen liebte.
Eugene sah von seinem Laptop auf und zu dem Fichtenzapfen, der gerade in die Mitte seines Labors gekullert war. Dann wandte er den Blick zur Tür, wo Mini stand und ihn geheimnisvoll lächelnd ansah.
Er sprang praktisch aus seinem Sessel. „Mann, ist es schon so spät? Es tut mir leid. Ich habe gesagt, ich komme zu dir ins Labor hinunter und rette dich, stimmt’s?“
Sie sagte nichts, sondern lockte ihn nur mit gekrümmtem Zeigefinger, während sie rückwärts aus der Tür ging.
Okay. Sie war wieder einmal zum Spielen aufgelegt. Es gefiel ihm durchaus, wenn sie so war; allerdings befürchtete er manchmal, es könnte nur ihre Art sein, damit umzugehen, dass sie oft als jung, süß und harmlos wahrgenommen wurde. Zwei von den dreien stimmen. Aber sie besaß einen starken Willen und einen scharfen Verstand. Sie konnte beträchtlichen Schaden anrichten, wenn sie wollte. Zum Glück wollte sie das selten.
Eugene verdrehte die Augen über seine eigenen Befürchtungen. Wie kam er dazu, sich über die Bewältigungsstrategien anderer Leute den Kopf zu zerbrechen? Er selbst hatte sie im Dutzend, angefangen von seinem streberhaften Einsatz von Jiddisch, um heraushängen zu lassen, dass er der geborene Nerd war, bis zur Wahl seiner Klamotten, mit denen er zu verbergen suchte, dass er einer war.
Im Augenblick beschloss er, den Nerd in sich anzunehmen, da Minerva es mochte. Er stand von seinem Schreibtisch auf und ging zur Tür, einen Fuß nachziehend und mit einer hängenden Schulter, sodass der rechte Arm schlaff am Körper baumelte.
„Fer wohl, Miftreff“, lispelte er. „Igor hört, und Igor ift folgfam.“
An der Tür angekommen, sah er, dass ihn Mini aus dem A-Labor lockte.
„Hierher, Igor“, rief sie.
Ihre Stimme hatte einen eigenartigen Klang, aber er konnte nicht recht sagen, was anders war. Bevor er dahinterkam, hörte sie auf, ihn zu locken, lächelte strahlend und streckte die Hand nach ihm aus. Er streckte ihr seinerseits eine Hand entgegen und schauderte, als ihre Finger sich trafen. Es fühlte sich falsch an – kalt, weich, wie eine Flüssigkeit. Sein Verstand hatte diesen merkwürdigen Tatbestand kaum verarbeitet, als sie verschwand. Wortwörtlich und vollständig. Sie löste sich in Nichts auf, als wäre sie nie da gewesen.
Eugene, der immer noch in Igor-Manie vornübergebeugt war, starrte auf die Stelle, wo sie gestanden hatte, und versuchte fieberhaft, sich einen Reim auf die Situation zu machen. Ich schlafe, sagte er sich. Ich bin an meinem Schreibtisch eingeschlafen und träume. Ich muss aufwachen.
Er sagte es sich laut vor. „Eugene Pozniaki, du musst aufwachen.“
Ein helles Lachen beantwortete seine Bemerkung.
Er hob den Kopf. Mini spähte aus dem Flur zu ihm ins Labor herein.
„Hat sie dir gefallen?“, fragte sie keck.
„Meine Doppelgängerin. Meine Geistererscheinung. Meine Projektion.“ Sie kam auf einer Welle des Gelächters ganz in den Raum. „Du solltest dein Gesicht sehen.“
„Nein, ich bin mir sicher, das sollte ich nicht. Was … was hast du getan?“
„Projiziert! Ich habe ein zweites Ich produziert. Ich habe dich hereingelegt, oder? Du dachtest wirklich, dass ich es bin, hab ich recht?“
„Ich … ja, das habe ich.“ Er machte einige Schritte auf sie zu, dann streckte er die Hand aus und berührte sie, nur um sicherzugehen. Sie war fest, warm, echt.
Sie strahlte ihn an.
„Das war unglaublich. Weiß Chuck, dass du das kannst?“
„Noch nicht. Ich wollte, dass du es als Erster siehst.“ Ihr Lächeln erstarb. „Ich habe es den Deeps noch nicht gezeigt. Ist das böse von mir? Ich wollte, dass du und Chuck es als Erste erfahrt.“
Eugene starrte auf die Stelle, die eben noch der Doppelgänger besetzt hatte. „Es … sie hat so echt ausgesehen. So stofflich. Überhaupt nicht wie eine Projektion, aber …“ Er rieb die Fingerspitzen aneinander bei der Erinnerung an das gespenstische Gefühl, als er versuchte, die Ersatz-Mini zu berühren. Wie konnte sich eine Projektion überhaupt wie etwas anfühlen?
„Ja“, sagte Mini. „Daran habe ich hart gearbeitet.“
Eugene schüttelte das unheimliche Gefühl ab und grinste sie an. „Das glaube ich dir aufs Wort. Komm, wir zeigen es Chuck. Und danach lade ich dich und deinen Zwilling zu einem …“
Ehe er zu Ende sprechen konnte, fühlte er einen nur zu stofflichen und spitzen Ellenbogen in den Rippen.