42. Kapitel
Jon saß an einem Tisch am Fenster, eine
Speisekarte vor dem Gesicht. Draußen lag Lucky unter einer Bank,
damit er nicht Passanten in die Quere kam. Jon fiel sofort auf,
dass auf der Speisekarte ein halbes Dutzend Haftnotizzettel
klebten, auf denen die Tagesgerichte angeboten wurden. Beth hatte
wohl doch Recht. Die flatternden gelben Zettel auf der Speisekarte
waren für ihn schöner als Narzissen auf einer Frühlingswiese. Das
Herz raste ihm in der Brust. Er beobachtete aus der Ferne, wie
Tracie eine Bestellung aufnahm, Kaffee nachgoss und einen Tisch
abwischte.
Es war seltsam, sie bei ihrer Tätigkeit als
Kellnerin zu beobachten. In all den Jahren, die er sie kannte,
hatte sie in seinem Beisein noch nie eine Serviette gefaltet. Und
als er sie jetzt so ansah, erlebte er etwas, was die
Psychotherapeuten gemeinhin als »kognitive Dissonanz« bezeichnen.
Aber in den vergangenen achtundvierzig Stunden hatte er ohnehin
eine heillose Verwirrung erlebt zwischen dem, was er sah, und dem,
was er zu wissen glaubte.
Nachdem er mit Beth gesprochen hatte, war er nach
Hause gegangen und hatte darüber nachgegrübelt, was zwischen ihm
und Tracie wirklich – im Gegensatz zu dem, was seiner Ansicht
nach passiert war – geschehen war. Soweit er es rekonstruieren
konnte, hatte Allison ihn angelogen, was Tracies Verlobung betraf.
Ob sie es getan hatte, um ihn Tracie zu entfremden, oder ob etwas
anderes dahinter steckte, wusste er nicht und würde es wohl auch
nie erfahren. Er hatte Phil aufgesucht, und obwohl er dabei ein
wenig das Gesicht verloren hatte, war es Phil keinen Deut besser
ergangen. Dessen war er sich sicher.
Phil saß in der winzigen Büronische in der
Abteilung, der er
zugewiesen worden war, und fühlte sich wahrscheinlich ziemlich
gedemütigt, als sich alle umdrehten, um zu sehen, warum ein Neuling
in der Firma von einem der Oberbosse aufgesucht wurde. Phil hatte
mit einiger Verbitterung Beth’ Geschichte bestätigt.
Tracie kam an seinen Tisch. »Darf ich Ihre
Bestellung aufnehmen?« Jon ließ die Speisekarte sinken und starrte
sie an. Tracie schreckte überrascht zurück. Sie brachte es kaum
fertig, seinen Blick zu erwidern, hielt aber trotzdem tapfer
dagegen. So trafen sich ihre Augen, und in ihrem Gesichtsausdruck
lag alles, was sie für ihn empfand. »Was machst du denn
hier?«
»Was machst du hier?«
»Ich arbeite hier«, sagte sie. »Das in der Zeitung
ist nicht so gelaufen.«
»Ich hab gehört, dass du mit Phil verlobt
warst.«
»Das ist auch nicht so gelaufen. Ich heirate doch
niemanden nur aus Enttäuschung.« Dann biss sie sich auf die
Unterlippe, als wollte sie sich dafür bestrafen, dass sie zu viel
gesagt hatte. Sie schaute wieder auf ihren Bestellblock, und er
sah, wie sie versuchte, sich zusammenzureißen. »Kann ich jetzt
bitte deine Bestellung aufnehmen?«, fragte sie.
»Adam und Eva auf einem Floß«, sagte er.
Tracie wirkte zutiefst getroffen. Die Tränen
schossen ihr in die Augen, und sie musste den Kopf für ein paar
Sekunden abwenden. Jon konnte es kaum glauben. Als sie sich ihm
wieder zuwandte, war sie wütend. »Das ist nicht fair!«,
protestierte sie. »Ich weiß ja, dass ich dich verletzt habe, aber
ich muss hier meine Arbeit machen. Mich hier aufzuziehen ist
-«
»Ich zieh dich nicht auf«, sagte Jon, so sanft er
konnte. »Wer hat dich denn so enttäuscht?«
»Was glaubst du denn?«, fauchte sie, warf den Block
hin und wollte davonstürmen. Jon sprang auf und packte sie an der
Hand. Sie versuchte vergeblich, sich loszureißen. Er drehte sie zu
sich. Tracie senkte den Kopf, um jeden Blickkontakt zu vermeiden.
Tränen tropften zu Boden. Jon schaute zu Molly hinüber.
»Hat sie nicht die schönsten Augen der Welt?«,
fragte er Molly.
»Bitte quäl mich nicht«, weinte Tracie, und aus
ihren schönen Augen quollen neue Tränen. Wieder versuchte sie, sich
loszureißen.
»Fair Play bitte!«, warnte ihn Molly. »Keine
Gemeinheiten.«
»Und wann willst du heiraten?«, fragte Jon. Molly
winkte Laura herbei, die aus der Küche kam und mit weit
aufgerissenen Augen und offenem Mund zu den beiden
hinüberstarre.
Tracie wandte sich Jon zu. »Ich hab’s dir doch
schon gesagt: Ich werde Phil nicht heiraten.«
»Stimmt«, pflichtete er ihr bei. »Du heiratest
mich.«
Dann stand sie wie erstarrt da, und Jon hatte einen
Augenblick lang Zeit, darüber nachzudenken, wie schön, wie absolut
vollkommen jedes einzelne Detail an ihr war. Hätte er sie selbst
erschaffen, würde er nicht das Geringste ändern. »Du heiratest
mich«, wiederholte er, diesmal mit der ganzen Liebe, die er für sie
empfand.
»Wirklich?«, fragte sie, und er sah, wie ihr
Gesichtsausdruck sich zu verändern begann, als flösse Blut in eine
Marmorstatue und hauchte ihr Leben ein.
»Klar machst du das, du Dummchen«, rief Laura von
der Küchentür aus.
»Ihr spinnt ja alle miteinander«, sagte Molly, die
so tat, als würde sie schimpfen. »Na, es ist wohl am besten, wenn
ihr beide euch zusammentut. In und um Seattle herum gibt es sonst
keinen, der einen von euch haben möchte.«
»Ich heirate dich?«, fragte Tracie ihn wieder. Sie
musste zwinkern. »Und warum?«
»Weil du mich liebst«, erklärte er. »Und zwar schon
lange. Du hast es nur jetzt erst gemerkt«, fügte er hinzu, als
wollte er es ihr und zugleich sich selbst erklären.
Tracie wischte sich mit dem Handrücken über ihr
tränenüberströmtes Gesicht.
Jon reichte ihr eine Serviette und fuhr fort: »Und
weil wir
wunderschöne Kinder haben werden. Und weil ich ein großartiger
Vater und du eine großartige Mutter sein wirst. Und weil wir beide
Seattle lieben und für immer hier leben möchten. Und weil du selbst
eine Teilzeitmutter brauchen könntest und meine Mutter schon ganz
scharf auf den Job ist. Außerdem will sie unbedingt
Enkelkinder.«
Tracie schluckte, wischte sich noch einmal die
Tränen aus dem Gesicht und warf ihm die Arme um den Hals. »Das sind
genug Gründe«, sagte sie. Sie drückte sich an Jons Brust, und er
sog den Duft ihrer warmen Haut und ihres frisch gewaschenen Haars
ein. Sie schaute zu ihm auf, seufzte und lehnte den Kopf an seine
Brust. Er passte da genau hin.
Jon legte seine Arme um sie. Sie passten sogar noch
besser. »Ich liebe dich, Jonathan«, sagte Tracie.
»Ich habe dich immer geliebt«, erklärte Jon. »Und
ich werde dich immer lieben.«
Und er sollte Recht behalten.