12. Kapitel
Der erste Laden, in den Tracie Jon schleppte, war
ein Second-Hand-Shop nördlich der City, in dem nur erlesenste Ware
verkauft wurde. Jon betrachtete die seltsamen Angestellten und die
Kleiderständer mit noch seltsameren Klamotten. »Aber Tracie, das
ist ja alles gebraucht«, sagte er.
Sie hatte keine Zeit für Erklärungen. »Nein, nein,
das Zeug ist Spitze«, erklärte sie und arbeitete sich durch den
ersten Ständer. Sie konnte ihm natürlich auch neue Hemden, Sweater
oder sogar Jeans kaufen, aber um seine unmögliche Micro-Jacke zu
ersetzen, brauchte sie etwas, das nicht aussah, als käme es direkt
von Gap. Ihrer Ansicht nach kleidete sich ein Mann dann
interessant, wenn er sich nicht allzu sehr von den anderen
unterschied, außer in einem ganz bestimmten Punkt – etwa mit einem
klasse Jackett oder mit tollen Stiefeln. Außerdem musste es etwas
sein, was man nicht einfach aus dem Katalog bestellen oder in einer
Boutique kaufen konnte, weil das natürlich kein bisschen originell
oder interessant war. Ein Jackett von Prada war zwar schweineteuer,
aber trotzdem konnte es mit der entsprechenden Scheckkarte jeder
Idiot kaufen. Tracie suchte etwas Einzigartiges, etwas
Faszinierendes.
Vielleicht war es deshalb so schwer, etwas
Gebrauchtes, Einzigartiges und Passendes zu finden. In gewisser
Weise machte man sich damit zur lebenden Werbetafel, aber statt für
Bill Gates oder Micro/Con warb man für sich selbst, für sein
inneres Ich: »Seht her, so bin ich. Einer, der vor zwanzig Jahren
diese schwarze Lammnappajacke gekauft und so lange getragen hat,
bis sie sich genauso zart anfühlt wie Babyhaut. Und ich liebe sie.«
Prüfend betrachtete sie Jon mit zusammengekniffenen Augen.
Dann ging sie zum Kleiderständer zurück. Also dann,
welches Jackett wird den Leuten sagen, wer Jon ist – oder besser,
wer er sein möchte? Quietschend schob Tracie die Bügel an der
Stange entlang und ließ dabei Bowlingjacken, Kurzmäntel aus
Polyester und die Oberteile von Freizeitanzügen hinter sich.
Nichts. Nichts. Dann hielt sie inne. Vielleicht war das ja eine
Möglichkeit. Ein langer schwarzer Gehrock mit schmalem Revers. Als
sie ihm das gute Stück in die Hand drückte, stand ihm das blanke
Entsetzen ins Gesicht geschrieben.
»Das?«, fragte er mit einer Stimme, die dem
Quietschen der Kleiderbügel recht nahe kam. »Das soll ich
anprobieren?«
»Das wäre immerhin ein Anfang«, erklärte sie ihm
mit grimmiger Entschlossenheit, bevor sie sich weiter durchs
Angebot arbeitete. Vor ihr war ein Typ ebenfalls am Suchen, und er
sah ganz so aus, als wüsste er, was er wollte. Er war geschmackvoll
gekleidet, cool und wahrscheinlich reich. Er würde ihnen all die
guten Sachen vor der Nase wegschnappen.
Ihre Nervosität drängte sie so zur Eile, dass sie
beinahe ein kleines Juwel übersehen hätte: ein enges schwarzes
Lederhemd, das auf links gewendet auf dem Bügel hing. Sie musterte
es und sah dann Jon an, der tatenlos neben ihr stand. Er
betrachtete sie, als wäre sie nicht ganz bei Trost.
Sie suchte und suchte. Am Ende hatte sie, trotz des
Typen vor ihnen und obwohl es nicht viele brauchbare Sachen gab,
einige Stücke in die engere Wahl gezogen – Sachen, die Jon in der
Hand hielt, als ginge von ihnen eine erhöhte Ansteckungsgefahr aus.
Sie hatte sogar eine coole Hose gefunden, die ihm eventuell passen
konnte. Sie führte Jon in die Ecke mit den Umkleidekabinen und
zeigte auf eine von ihnen. »Na los«, sagte sie. »Probier die Sachen
an.« Reglos stand er da.
»Stammen die vielleicht von Toten?«, fragte
er.
»Wer weiß? Probier sie einfach an. Erst die Hose
und die langen Jacketts.«
»Hast du gewusst, dass die Beulenpest von
Kleiderflöhen übertragen wurde?«, fragte Jon sie.
Sie ignorierte ihn und schob ihn in eine Kabine.
»Na los, zieh das an«, drängte sie. Dann wartete sie. Und wartete.
»Wieso dauert das denn so lang?«, rief Tracie hinein.
Sehr langsam öffnete sich die Tür der
Unkleidekabine. Heraus trat Jon in einem Outfit, das stark an die
Sachen erinnerte, die Lincoln trug, als er erschossen wurde. Der
schwarze Gehrock reichte ihm bis zu den Knien, und die lange
gestreifte Hose – nun ja, in die Gothic-Szene würde er wohl nie
passen. Tracie schoss ein Foto, bevor sie den Daumen nach unten
hielt. »Gott sei Dank«, murmelte Jon offensichtlich erleichtert und
verschwand wieder in der Kabine.
Wenige Minuten später ging die Tür erneut auf.
Diesmal hatte Jon einen Austin-Powers-Jumpsuit und ein Hemd mit
Puffärmeln an. Hatte sie das ausgesucht? Tracie war
entsetzt. Er sah aus wie ein schwuler Clown aus dem Weltraum.
»Das war nicht für dich gedacht«, sagte sie. »Wo
hast du das denn gefunden?«
»Hier auf der Stange«, sagte Jon
achselzuckend.
Sie riskierte einen Blick in die Umkleidekabine. Da
hingen auch noch ein orangefarbener Overall und ein aquafarbener
wadenlanger Rock. »Wolltest du das etwa auch anprobieren?«, fragte
Tracie und erkannte im selben Augenblick den Tonfall wieder, in dem
ihre Stiefmutter sie gefragt hatte, ob sie auch vom Dach springen
würde, wenn ihre Freunde aus Encino es ihr vormachten. Mitunter
weckte das Einkaufen die Tyrannin in ihr.
Sie schnappte sich die falschen Sachen aus der
Kabine und deutete auf die von ihr ausgewählten Kleidungsstücke.
»Nur die da«, sagte sie. »Das übrige Zeugs müssen irgendwelche
Clowns in der Kabine gelassen haben.« Sah er denn nicht den
Unterschied? Wenn nicht, war er wirklich ein hoffnungsloser
Fall.
Er probierte zwei weitere Stücke an, und sie
entschied sich jeweils dagegen. Jon zuckte jedes Mal mit den
Achseln und warf Tracie einen dankbaren Blick zu. Dann verschwand
er wieder in der Umkleidekabine. Tracie dachte schon, sie
verschwendeten ihre Zeit, bis die Tür aufging und Jon in einer
zerrissenen Blue
Jeans und dem geschmeidigen schwarzen Lederhemd heraustrat. Jetzt
merkte Tracie auf.
Perfekt war es nicht, aber immerhin ein Schritt in
die richtige Richtung. Taxierend betrachtete sie Jon von allen
Seiten. Dann gab sie ihm auch noch den Lodenmantel zum Anziehen.
Ja! Jetzt sah er wirklich interessant aus. Vielleicht sogar gut.
Sie stieß einen schrillen Freudenschrei aus, doch dann kam ihr ein
Gedanke. Jetzt noch eins von diesen Sportsakkos, und zwar vom Ende
der Stange. Sie rannte los und kam mit einem ausgebeulten, aber
eleganten Tweedsakko zurück, das sie ihm an Stelle des Lodenmantels
in die Hand drückte. Dann begutachtete sie ihr lebendes
wissenschaftliches Projekt. Unglaublich. Jetzt sah er richtig
scharf aus.
Im Schuhgeschäft konnte Jon sich endlich setzen.
Er fiel in den Stuhl, als hätte ihm jemand einen Stoß gegeben. Noch
nie im Leben war er so müde gewesen. Wer hätte auch gedacht, dass
Einkaufen so anstrengend sein konnte wie ein olympischer Zehnkampf?
Kein Wunder, dass junge Frauen so zäh waren. Selbst Tracie, die
einstige Miss-Super-Shopping von Encino, war nach der Tour wie
gerädert. Der nicht annähernd so kampferprobte Jon musste, so
befürchtete sie, völlig hinüber sein. Doch ein Artikel auf ihrer
Liste war noch immer nicht durchgestrichen, und wenn Tracie etwas
für sich beanspruchen konnte, dann Gründlichkeit.
Wer hätte gedacht, dass Tracie beim Einkaufen einen
solchen Fanatismus entwickeln könnte? Sie war gnadenlos. In ihren
Augen leuchtete ein Urtrieb auf, wenn sie sich auf Textilien
stürzte, die Jon eher überflüssig und langweilig fand. Stundenlang
waren sie nun schon unterwegs, zumindest kam es ihm so vor, und er
hatte heute mehr für Kleidung ausgegeben als in den letzten zwanzig
Jahren.
Jetzt hielt Tracie ihm ein Paar Schuhe vor die
Nase. Sie waren aus Wildleder und einfach schrecklich. Angewidert
verzog er das Gesicht. Tracie zeigte auf ein anderes Paar. Die
waren zumindest
nicht schlecht, sofern einem Zuhälterschuhe gefielen. Jon setzte
sich auf und versuchte ein gewisses Interesse an den Tag zu legen.
Tracie reichte ihm den linken Schuh, den er behutsam in die Hand
nahm.
»Nicht schlecht«, räumte er ein, um etwas mehr
Begeisterung bemüht. Dann warf er einen Blick auf das Preisschild
auf der Sohle. Er wäre fast in Ohnmacht gefallen. Dafür konnte man
ja eine moldawische Familie zehn Jahre lang durchfüttern!
»Das kosten gute Schuhe eben«, erklärte Tracie, als
könnte sie seine Gedanken lesen. Er wusste, dass er besser den Mund
hielt, wenn er auf ihre Hilfe Wert legte. Also gehorchte er und
probierte die Schuhe an. Tracie zückte seine Kreditkarte, und schon
waren sie gekauft. An der Kasse lächelte der Inhaber des Ladens sie
an. Hinter ihm hing ein Schild, auf dem in Antiquaschrift stand: IN
DEN SOHLEN LIEGT DIE SEELE. Tracie deutete darauf, nickte Jon zu
und stieß ihn an, als wollte sie »Siehst du?« sagen. Jon ergab sich
in sein Schicksal und schlüpfte in die Schuhe.
Vor dem Schuhgeschäft begutachtete Tracie Jon. Er
trug die coolen Schuhe und das tolle Jackett, das sie entdeckt
hatte, aber allmählich konnte er seine Müdigkeit nicht mehr
verbergen. Armer Kerl. Nur noch ein paar Stationen.
»Du machst dich wirklich wunderbar«, sagte sie,
nahm ihn bei der Hand und führte ihn über die Straße zu einer
Parfümerie. Als sie auf dem Zebrastreifen einer jungen Frau
begegneten, drehte sie sich nach Jon um. Ja! Tracie fiel allerdings
auch auf, dass Jon ihr Interesse nicht einmal bemerkt hatte. Was
ist nur los mit seinem Radar?, dachte sie. Vielleicht hat er es so
lange nicht mehr benutzt, dass es irreparabel kaputt ist.
Sie stieß ihn an. »Du wirst beobachtet!«, flüsterte
sie ihm zu.
Wie ein Vollidiot reckte er den Kopf in alle
Richtungen, bevor er das Mädchen sah. Er erwiderte ihren Blick und
drehte sich zu Tracies Entsetzen langsam im Kreis, um sich
möglichst vorteilhaft zu präsentieren.
»Bist du bescheuert?«, zischte Tracie, packte ihn
am Arm und zerrte ihn in den Laden. »Weißt du denn nicht, wie man
sich benimmt?«, fragte sie ihn so streng wie eine Mutter, die ihren
Neunjährigen tadelt. »Sie dürfen um keinen Preis merken, dass du
zurückguckst.«
»Aber wie sollen sie dann merken, dass ich an ihnen
interessiert bin?«
»Du sollst dich ja auch gar nicht für sie
interessieren. Sie sollen sich für dich
interessieren.«
»Aber wie kommen wir dann je zusammen?«, fragte
Jon. Die Frage war eigentlich ganz vernünftig, aber irgendwie hatte
Tracie diesen Teil der Geschichte nicht in Betracht gezogen. Sie
hatte sich lediglich überlegt, wie sie ihn attraktiver machen
konnte, nicht aber, wie sie es schaffen konnte, dass er mit dem
Mädchen auf dem Zebrastreifen in Kontakt kam – obwohl das natürlich
der Sinn der ganzen Übung war.
»Dazu kommen wir später«, sagte sie und schleppte
ihn zu den Eau-de-Colognes und After Shaves für den Herrn. Eine
Gruppe gelangweilter Verkäuferinnen wollte sich schon auf sie
stürzen, aber Tracie schickte alle bis auf eine weg – die älteste
und mütterlichste von allen. Die Verkäuferin besprühte verschiedene
Körperregionen Jons – Handgelenk, Unterarm, Oberarm, Ellenbogen und
Nacken – mit dreißig verschiedenen Düften. Tracie sah zu, wie Jon
bei jedem Sprühen zusammenzuckte, und dachte, dass er immer ein
wenig unbeholfen, aber doch irgendwie niedlich gewesen war. Jetzt
fiel ihr auf, dass er aus der tapsigen Phase herausgewachsen war.
Aber wann war das geschehen? Erst jetzt, mit den neuen Klamotten –
oder war es schon früher passiert, und sie hatte es gar nicht
bemerkt? »Wie finden Sie das?«, fragte die Verkäuferin immer
wieder, und zwar auf eine ganz und gar nicht mütterliche
Weise.
Tatsächlich rottete sich schon eine kleine Gruppe
von Verkäuferinnen zusammen. Tracie betrachtete Jon. Sobald sie
sein langweiliges, lahmes Äußeres geändert hatte, entpuppte er sich
als recht niedlich, und die Art und Weise, wie er die Verkäuferin
und
ihren Rat ernst nahm, war so süß, dass bald auch die anderen
hinzukamen. Er hatte viel zu wenig Erfahrung, um zu wissen, dass es
bei Düften noch stärker als bei allen anderen Produkten auf die
richtigen Tricks ankam und dass eine Verkäuferin sich auch nicht
scheute, einer Kundin mit Größe zweiundvierzig zu erklären, ein
Rock in Größe achtunddreißig stünde ihr »einfach großartig«. Wie
schon ihre fiese, aber durchaus clevere Stiefmutter zu sagen
pflegte: »Die lügen so selbstverständlich, wie sie atmen.« Jetzt
hatten sich zum Kreis um Jon auch zwei jüngere Frauen – eine
Blondine und eine mit furchtbar künstlichem rotem Haar – gesellt,
die zu flirten und mit den Wimpern zu klimpern begannen.
»Ich glaube, er ist ein Aramis-Mann«, sagte die
Blonde.
»Und wie ist ein Aramis-Mann so?«, erkundigte sich
Jon.
»Schön. Wichtig. Und Single.« Die Blonde warf einen
Blick auf Tracie. »Ist das Ihre Schwester?«
»Nein, ich bin seine Mutter«, fauchte Tracie und
starrte Jon an, der errötete. »Wir suchen nach etwas weitaus
Subtilerem, als Sie zu bieten haben«, erklärte sie und wandte sich
wieder der älteren Frau zu.
Mittlerweile hatte die Rothaarige Jons rechten Arm
gehoben und knabberte daran wie an einem Maiskolben. Jon lächelte
sie reichlich blöde an, bis Tracie ihr seinen Arm entriss.
Der Verkäuferin war derweil auf Jons Handgelenken
und Armen alle verfügbare Haut ausgegangen. Sie nahm eine
Kristallkaraffe in die Hand und lächelte ihm zu. »Vielleicht sagt
Ihnen ja das hier zu«, meinte sie. »Es ist zwar sehr teuer, aber
ich glaube, das würde zu Ihnen passen.« Sie sprühte es auf seinen
Hals und wandte sich an die Blondine. »Was sagst du dazu,
Margie?«
Margie machte sich sofort an Jon heran, hielt ihr
Gesicht an seine Brust und schnupperte an seinem Hals. Tracie
fasste es nicht. Frauen waren absolut schamlos.
»Da ist Patschuli drin«, wandte Tracie ein. »Das
trägt schon seit 1974 keiner mehr.«
»Das kommt jetzt wieder«, sagte Margie und warf Jon
einen verführerischen Blick zu. »Sie hoffentlich auch.« Jon
errötete erneut.
Tracie beschlich allmählich das Gefühl, dass ihr
die Situation entglitt, und das gefiel ihr gar nicht. Als die
ältere Verkäuferin einen weiteren Flakon hervorholte und begann,
Jons Hemd aufzuknöpfen, um ein wenig von dem Parfüm auf seine Brust
zu sprühen, schlug Tracie ihre Hand weg. »Die Auswahl ist schon
groß genug«, erklärte sie der Frau. Jon schnupperte weiter wie ein
Spürhund, während die drei Verkäuferinnen zwar nicht den Blick von
ihm wandten, aber wenigstens die Finger von ihm ließen. Jon schien
es zu genießen, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen, bis er
plötzlich zu niesen begann.
Und er nieste nicht nur einmal, sondern drei und
dann ein Dutzend Mal, bis er sie alle eingenebelt hatte. Selbst die
Blonde trat den Rückzug an. Tracie reichte ihm ein
Papiertaschentuch. Endlich von seinem Fanclub befreit, entschied
sie sich für Lagerfeld. Die Verkäuferinnen jubelten, und Jon hielt
sich den Kauf trotz seines Niesanfalls wie eine Trophäe über den
Kopf. Er grinste und zückte seine Kreditkarte, ohne dass Tracie es
ihm sagen musste.
Wieder auf der Straße, brach Jon unter der Last
seiner Einkäufe fast zusammen. »Ich bin fix und fertig«, erklärte
er.
»Ja, das Einkaufen kann einen ganz schön
schlauchen«, bestätigte Tracie, obgleich sie in Hochstimmung war.
Und als sie an der nächsten Ampel an einem Auto vorbeikamen, hob
die Fahrerin – eine ältere Blondine – ihre Sonnenbrille, um Jon
besser würdigen zu können. »Jetzt bist du so weit«, sagte
Tracie.
»Für was? Für ein paar abwehrsteigernde Medikamente
und einen Tag Bettruhe?«
In der Sicherheit des Java saßen Jon – in einigen
seiner neuen Kleidungsstücke – und Tracie an ihrem üblichen Tisch,
und um sie herum stapelten sich ihre Einkäufe. Molly steuerte auf
sie zu, doch Jon war sogar zu müde, den Kopf zu heben, um sie zu
begrüßen.
Er streifte die neuen Stiefel von den Füßen, denn sie taten schon
weh.
»Was machst du denn hier? Und wo ist Jon?«, fragte
Molly. Einen Augenblick lang fürchtete Jon schon, sich vor
Erschöpfung in Luft aufgelöst zu haben. Tracie aber lächelte nur,
als wüsste sie, was jetzt geschehen würde.
»Ich weiß, wo er ist, aber du musst es selbst
herausfinden«, erklärte sie Molly.
Molly reichte erst Tracie und dann Jon eine
Speisekarte. Als Jon danach griff, hielt sie inne, blinzelte ihn an
und erschrak. »Ach du meine Scheiße! Bist du das?« Sie schaute
Tracie mit ganz neuer Hochachtung an. »Gut gemacht, Mädel!
Ausgezeichnet!« Dann wandte sie sich wieder Jon zu. »Steh doch mal
auf, Aschenbrödel.« Molly nahm seine Hand, zog ihn in den Gang und
ging langsam um ihn herum. »Mein Gott! Du siehst ja fantastisch
aus. Mach dich auf was gefasst.«
»Wieso?«
»Wirst du schon noch sehen. Wo hast du das tolle
Jackett her? Und den fantastischen Jumper?«, fragte Molly.
Da er keine Ahnung hatte, was ein Jumper war,
zuckte er nur mit den Achseln. »Tracie hat mir geholfen«,
antwortete er.
»Echt Wahnsinn! Bis auf die Brille gefällt mir
alles. Willst du ihm nicht noch so’ne Elvis-Costello-Brille
besorgen?«, fragte sie Tracie und bedachte sie mit einem Blick, der
schon fast an Hochachtung grenzte. »Ich nehm alles zurück. Du bist
doch nicht ganz unbrauchbar«, erklärte sie Tracie. Dann schaute sie
Jon besorgt an. »Sieht ganz schön fertig aus, der Knabe.«
Tracie schüttelte den Kopf. »Nein. Seine Augen sind
zu hübsch. Er kriegt Kontaktlinsen.«
Jon kam sich vor, als wäre er gar nicht anwesend.
Meinten das die Frauen damit, wenn sie sagten, dass Männer sie als
Objekt behandelten? Jon war sich nicht ganz sicher, ob es ihm
missfiel, aber merkwürdig fühlte es sich schon an.
»Tracie, ich kann diese Dinger nicht tragen.« Jon
nahm die Brille ab und rieb sich das Nasenbein.
»Wow!«, riefen Molly und Tracie gleichzeitig.
»Liegt es daran, dass er einen Sehfehler hat?«,
fragte Molly. »Oder hat er einfach so tolle Augen?«
»Weiß ich selber nicht, aber es funktioniert«,
grinste Tracie. »Ab sofort musst du ohne Brille auskommen«,
erklärte sie Jon.
»Ohne meine Brille knalle ich gegen sämtliche Wände
und Türen«, jammerte Jon.
»Super! Narben turnen jede Frau an.« Tracie stand
auf, trat ein paar Schritte zurück und betrachtete ihn aus einem
anderen Blickwinkel.
»Warum willst du eigentlich keine Kontaktlinsen?
Hast du es je probiert?«
»Halt mich jetzt meinetwegen für verrückt, aber mir
wird schon bei der Vorstellung schlecht, mir diese winzigen
Glasdinger in die Augen zu schieben.«
»Entweder Kontaktlinsen oder Blindflug, denn die
hier kannst du unmöglich weiter tragen«, erklärte Tracie
entschieden mit seiner Brille in der Hand. »Wenn du so blinzelst,
siehst du aus wie ein neugeborener Welpe.«
»Steht ihm aber verdammt gut.«
Verlegen spürte Jon, wie er rot anlief, und er
griff nach seiner Brille. Dann fiel Molly der Motorradhelm auf dem
Tisch ins Auge. Fang bitte nicht damit an, Molly, flehte er
innerlich.
»Hast du etwa auch ein Motorrad, Süßer?«, fragte
sie so atemlos wie ein weiblicher Beatles-Fan damals im
Shea-Stadion.
»Nein, aber Tracie meint, ich sollte mit dem Helm
herumlaufen, als hätte ich eins.«
»Das war aber auch mein einziges Zugeständnis an
seinen Geldbeutel«, erklärte Tracie der Kellnerin, in deren
Gegenwart sie sonst nie so gesprächig war. »Außerdem würde er sich
mit einem Motorrad nur umbringen und damit meine ganzen
Anstrengungen zunichte machen.«
»Vielen Dank für deine wirklich rührende Sorge um
mein Wohlergehen.«
»Ist er auch tätowiert? Oder gepierct?«, erkundigte
sich Molly.
Tracie seufzte enttäuscht. Den Seufzer kannte Jon.
Bevor die Woche um war, würde sie versuchen, ihn zu so was wie
einer Suzuki GS 1100 zu überreden. »Da hat er leider die Grenze
gezogen.« Dann schaute sie wieder Jon an. »Ich hab gar nicht
gewusst, dass du so einen starken Bartwuchs hast.«
»Ich rasier mich ja auch zweimal am Tag.«
»Ehrlich?«, fragte Molly und zog die Brauen hoch.
»Das deutet auf jede Menge Testosteron hin, Süßer.«
Tracie starrte ihn nachdenklich an. »Von jetzt an
rasierst du dich nur noch alle drei Tage«, verkündete sie.
»Oh. Die alte George-Michael-Geschichte«,
kommentierte Molly unter zustimmendem Nicken. »Könnte
hinhauen.«
»Wird es aber nicht«, erklärte Jon. »Ich kann doch
nicht so zur Arbeit kommen; das sieht ja aus, als hätte ich die
ganze Nacht durchgesoffen.«
»Warum eigentlich nicht? Dann würde sich bestimmt
die eine oder andere Frau Gedanken über dein Privatleben machen«,
sagte Molly und grinste lüstern.
»Ja. Und dann kriegst du vielleicht endlich eines«,
fügte Tracie hinzu.
Molly verschränkte die Arme und schaute auf die
beiden hinunter. »Also, was kann ich euch beiden Opfern der Mode
bringen? Ihr wart noch nie am frühen Abend hier, und ich bin schon
ganz neugierig.«
»Für mich nur ein Bier«, sagte Tracie.
»Ich nehm einen Cappuccino.«
Tracie schnitt eine Grimasse.
Molly zog ab, um die Getränke zu holen. Tracie
beugte sich über den Tisch. »Du siehst echt gut aus, Jon. Und du
warst sagenhaft geduldig. Du hast nicht ein einziges Mal
protestiert. Zur Belohnung« – sie legte eine Kunstpause ein – »lade
ich dich zum Cappuccino ein. Es könnte dein letzter sein.«
»Immer diese Versprechungen.« Jon seufzte. Nun, da
es vorbei war, schien es ihm, als hätte die Episode sogar einen
gewissen Charme gehabt. Er stellte sich vor, wie Tracie und er sich
viele
Jahre später einmal treffen und sich über diesen Tag unterhalten
würden: Weißt du noch, wie wir damals einkaufen waren bis zur
totalen Erschöpfung? Damals, als noch nicht alle ihre Einkäufe
online erledigt haben?
Tracie stand auf. »Die nächsten Lektionen folgen,
sobald ich von der Toilette zurück bin...« sagte sie und
verschwand, und Jon seufzte erleichtert auf.
Molly kam mit den Getränken. Sie ließ sich auf dem
freien Platz gegenüber von Jon nieder und musterte ihn noch einmal
von oben bis unten. »Einfach Wahnsinn«, sagte sie. Dann nahm sie
seine Hand. »Aber mal ernsthaft, Jon – meinst du nicht auch, dass
das ein bisschen zu weit gehen könnte? Vielleicht macht es ja Spaß,
mal Verkleiden zu spielen, wenn man zur Oscar-Verleihung oder so
was eingeladen ist. Aber seine ganze Persönlichkeit zu verändern...
das muss einem doch irgendwie Angst machen, oder nicht?«
»Ja. Vor allem, wenn ich in den Spiegel schaue oder
auf die nächste Kreditkarten-Abrechnung«, stimmte Jon zu. »Aber
allein heute Abend haben mich schon fünf oder sechs Frauen
angeschaut, und das ist mir noch nie passiert.«
»Ich hab auch noch nie Leberzirrhose gehabt, aber
das heißt noch lange nicht, dass es schön wäre, wenn ich sie hätte,
stimmt’s, Süßer?«, erwiderte Molly. »Und was bringt es dir schon,
wenn ein Mädel dir nachschaut? Schließlich bist das doch gar nicht
du.« Sie dachte nach. »Irgendwo ist das sogar ein Verrat an dir
selbst.« Sie wartete noch einen Augenblick, damit ihre Worte wirken
konnten, aber Jon war viel zu müde. Er saß einfach nur da und rieb
unter dem Tisch die Füße aneinander. Sie sah sich im Restaurant um,
als würde das erklären, was sie ihm sagen wollte. »Ich will dir ja
keinen Knüppel zwischen die Beine werfen, aber warst du schon mal
im Freeway Park?«, fragte sie.
Der Freeway Park war auf der Überdachung eines
Highway angelegt. Mit seinen Wasserfällen und Rasenflächen und dem
abgestuften Gelände wirkte er fast schon idyllisch. »Klar«, sagte
er. »Ich hab sogar das Entstehen der Anlage verfolgt.«
»Also, ich finde da nie Ruhe«, erklärte Molly.
»Egal, wie heiter und natürlich das alles auf den ersten Blick
wirkt – unten drunter herrscht in beiden Richtungen ein absolut
irrsinniger Verkehr. Ich will damit nur sagen, dass es letzten
Endes nichts bringt, sich unter einer schönen Grasnarbe zu
verstecken.« Sie zupfte an seinem Arm. »Unter diesen Klamotten
steckst immer noch du. Denk mal an das, was ihr Amerikaner immer
›das innere Kind‹ nennt. Weint es nicht ganz fürchterlich?«
»Ich hab kein inneres Kind, Molly. In meinem Innern
ist nur ein dummer kleiner Langweiler, und der tanzt jetzt Mambo,
weil er glaubt, dass er soeben die Zauberworte gelernt hat: ›Sesam
öffne dich.‹«
Molly schüttelte den Kopf. »Ich sag dir jetzt
schon, dass irgendwann der dumme kleine Langweiler in dir gegen den
wilden Mann an der Oberfläche rebellieren wird«, warnte sie Jon.
»Glaub mir, du wirst noch an mich denken.«
»Was für eine Welt! Da geht man mal zwei Minuten
aufs Klo, und schon entpuppt sich die so genannte Kellnerin als
Psychologin«, rief Tracie. Dann drängte sie sich auf ihren Platz
und schob Molly mit der Hüfte zur Seite. »Verräterin! Dachte ich
mir doch, dass du verdächtig nett bist heute Abend! Aber Jon
braucht deine Küchenpsychologie nicht.«
»Stimmt. Die kriegt er schon von dir, und das nicht
zu knapp.«
Tracie ignorierte Molly. »Weißt du, ich hab mir was
überlegt. Du brauchst auch einen neuen Namen. Jon ist zu kurz und
Jonathan klingt furchtbar langweilig.«
»Na wunderbar! Jetzt geht’s nicht mehr nur um seine
Klamotten und seine Persönlichkeit; jetzt ändern wir auch gleich
noch seinen Namen«, sagte Molly.
Tracie ignorierte sie weiterhin. »Hattest du jemals
einen Spitznamen?«
»Mein Dad hat mich manchmal Jason genannt, aber das
kam wahrscheinlich nur daher, dass er vergessen hat, wie ich
heiße«, gestand Jon. »Und meine zweite Stiefmutter nannte mich ›die
Pest‹.«
»Das vermittelt nicht unbedingt den Eindruck von
Gefahr und sexuellem Draufgängertum, der mir vorschwebt«, meinte
Tracie. »Wie wär’s mit Eric? Den Namen fand ich immer sexy.«
»Jetzt komm mal wieder auf den Teppich. Ich kann
doch nicht einen völlig neuen Namen annehmen«, wandte Jon
ein.
Molly begann zu lachen. »Wie wär’s mit Johannes
Freudenreich? Da ist der Name gleich Programm.«
»Genau«, meinte Jon aufgekratzt. »Nach einigen
Dates tut es dann auch der Johannes.«
»Solange du dabei nicht an die Bibel denkst,
Süßer.« Ob nun vor Müdigkeit, Nervosität oder weil er die Bemerkung
tatsächlich lustig fand, Jon fiel in Mollys Gelächter ein.
Tracie ignorierte die beiden. »Irgendwas müsste
sich doch finden lassen...«
»Tracie, ich ändere meinen Namen nicht«, beteuerte
Jon beharrlich.
»Und wie wär’s mit Johnny?«, fragte sie. »Typen,
die Johnny heißen, sind immer cool. Johnny Depp, Johnny
Dangerously, Johnny Cash. Sie tragen Schwarz und strahlen eine
große Intensität aus. Und Herzensbrecher sind sie auch.«
»Ja, wie Johnny Carson«, pflichtete Molly ihr bei.
»Oder Johnny Halliday, dieser französische Wichser.«
Er hatte sich mittlerweile wieder beruhigt. »Also,
ich wollte immer gern Bud heißen.«
»Bud?«, fragte Molly. »Wie das Bier? Das ist ja
wohl nicht dein Ernst.«
»Nein, wie in dieser Fernsehshow aus den Sechzigern
– Vater ist der Allerbeste«, erklärte Tracie. »Ich wollte
immer Prinzessin heißen.«
»Passt doch wunderbar zu dir«, kommentierte Molly
sarkastisch.
»Spaß beiseite«, erklärte Tracie. »Wir einigen uns
auf Johnny. Und jetzt möchte ich, dass du allein in die weite Welt
hinausgehst und anfängst, ein paar Frauen aufzureißen.«