29. Kapitel
Tracie saß im Java, The Hut am selben Tisch wie immer und wartete ungeduldig auf Jon. Sie zupfte an den Spitzen ihrer superkurzen Haare herum. So kurz hatte sie sie noch nie gehabt. Sie hasste ihre Frisur und hasste Stefan, der sie verbrochen hatte; sie hasste Phil, der sich über sie lustig gemacht hatte, und Laura, die sie damit abgespeist hatte, dass Haare ja zum Glück nachwuchsen. Aber auf Jons Unterstützung konnte sie zählen. Sie schaute auf ihre Armbanduhr. Sie war selber gut zwanzig Minuten zu spät gekommen, aber er war noch nicht einmal aufgetaucht. Das sah ihm gar nicht ähnlich.
Molly schlenderte zu ihr herüber, und Tracie zuckte schon zusammen, bevor sie bei ihr angekommen war. Sie machte sich auf einiges gefasst. »Ach du Scheiße! Bist du in ein Nonnenkloster eingetreten? Ich wusste gar nicht, dass du katholisch bist. Und außerdem bist du pünktlich, und er hat Verspätung. Das muss der Weltuntergang sein.«
»Ich komme schließlich nicht immer zu spät.«
Molly lehnte sich an den Stuhl. »Nicht, wenn einundfünfzig Wochen im Jahr, und das drei Jahre am Stück, nicht ›immer‹ bedeutet.« Molly zückte ihren Bestellblock. »Wollen wir das übliche Theater durchmachen, bis du dich für deine Rühreier entscheidest?«, fragte sie. »Oder willst du einfach nur dasitzen und an deinen Haarspitzen zupfen, als würden sie dadurch schneller wachsen?«
Tracie ließ die Hände in den Schoß sinken. »Molly, du kannst mich im Grunde deines britischen Herzens wirklich nicht ausstehen, stimmt’s?«, fragte Tracie.
»Stimmt«, bestätigte Molly fröhlich.
Tracie war schockiert. Sie hatte nicht erwartet, von Molly zu hören, dass sie sie nicht leiden konnte. Ein paar Sekunden lang wusste sie nicht, was sie darauf sagen sollte. »Aber warum denn? Ich hab dir doch nie was getan!«
»Nun, ich mag wohl einfach keine Idioten«, sagte Molly. »Ich bin die Tochter von einem und die Exfrau von einem anderen. Halt mich meinetwegen für überempfindlich, aber seither kann ich keine Trottel mehr sehen«, erklärte sie achselzuckend.
»Ich bin keine Idiotin«, protestierte Tracie.
»Ja, ja, und ich bin keine Kellnerin.« Molly zeigte auf das Namensschild auf ihrer Brust. »Lies das mal.« Dann zeigte sie auf Tracie. »Auf deinem steht ›Tracie Higgins – Teilzeitjournalistin und Vollzeitidiotin‹.«
»Was hab ich denn getan?«, fragte Tracie und musste aus irgendeinem unerfindlichen Grund an den Traum denken, in dem sie ihren Cockerspaniel blau angemalt hatte.
»Frag lieber, was du nicht getan hast«, fragte Molly zornig. »Du gehst mit einem Arschloch nach dem anderen und hast nicht mal den Verstand, damit Schluss zu machen.« Molly setzte sich auf die Bank gegenüber von Tracie. »Und wenn du mich schon fragst – als ob das nicht genug wäre, macht du aus dem einzigen netten Kerl im gesamten Nordwesten auch noch ein Arschloch.«
»Jon! Jon ist kein Arschloch. Er ist jetzt nur... ein bisschen gestylter«, verteidigte sich Tracie. »Und er fühlt sich dabei wesentlich besser als vorher«, fügte sie hinzu.
»Auf Kosten anderer?«, fragte Molly. »Ich weiß doch, was abläuft. Er bringt sie zum Kaffee hierher, bevor er sie abschleppt. So, wie mein Kater mir stolz seine Mäuschen präsentiert, bevor er sie fertig macht. Drei verschiedene Frauen allein letzte Woche! Und dann hat er auch noch vor mir angegeben, dass er am Samstag gleich zwei Dates hatte.« Molly beugte sich weiter zu Tracie vor. »Du hast dir einen warmherzigen, sensiblen Jungen geschnappt, der Frauen zuhören kann und weiß, was ihnen gefällt – und es auch wissen will -, und ihm all die Tricks beigebracht, mit denen die eiskalten Drecksäcke uns verarschen. Er ist jetzt Vollmitglied in der Zunft der Kotzbrocken. Kapierst du eigentlich immer noch nicht, was du da angestellt hast?«
Tracie wehrte sich nicht mehr, sondern saß nur noch stumm da und dachte darüber nach. »Etwas sehr, sehr Schlimmes?«, fragte sie vorsichtig. Molly starrte sie an, und alles, was die Kellnerin gesagt hatte, verschmolz in Tracies Kopf mit ihrem Traum, Phils Eifersucht und Lauras Warnungen. Dennoch glaubte sie fest daran, dass sie den Schaden, den sie angerichtet hatte, mit ein wenig Hilfe und ein wenig Glück wieder beheben könnte. »Du hast Recht, Molly«, sagte Tracie und schluckte ihren Stolz hinunter: »Willst du mir helfen, ihn dazu zu bringen, dass er sich nicht mehr wie ein Arschloch benimmt?«
»Wie denn?«, fragte Molly.
»Besorg mir zwei Karten für Radiohead. Du hast doch die nötigen Beziehungen.«
Obwohl Molly schon seit einiger Zeit nicht mehr mit den Rock-and-Roll-Bands durch die Lande zog, meldeten sie sich immer noch bei ihr, wenn sie in Seattle spielten. Es gab kaum einen Roadie, den sie nicht kannte (und wohl auch kaum einen, mit dem sie nicht geschlafen hatte), von den meisten Rhythmusgitarristen ganz zu schweigen.
Molly verzog das Gesicht, da sie offenbar an der Lauterkeit von Tracies Motiven zweifelte. »Und was hab ich davon?«
»Du kriegst deinen nettesten Kerl vom ganzen Nordwesten wieder.«
»Ich denk darüber nach«, sagte Molly, aber Tracie sah ihr an, dass sie schon überredet war.
»Danke, Molly.«
»Aber ich bin mir nicht sicher, ob es klappt. Und mach ihn bloß nicht wieder genauso, wie er war. Mir gefällt, wie du ihn äußerlich verändert hast – zuvor hat er ja echt verboten ausgesehen.« Das war das erste Mal, dass Molly etwas gut fand, was Tracie getan hatte. »Aber kapierst du nicht, dass es was ganz Anderes ist, wenn du sein ganzes Verhalten änderst, statt nur sein Aussehen aufzupolieren?«
»Da hast du wohl Recht.«
»Du hast alle Frauen verraten«, zischte Molly. »Er war mal begabt, aber jetzt hält er sich selber für die reinste Gottesgabe; das ist ein ziemlicher Unterschied.« Sie deutete mit dem Kinn über ihre Schulter.
»Sieh ihn dir doch mal an.«
Tracie drehte sich um und sah, wie Jon den Coffee-Shop betrat. Er hatte nicht nur einen ganz neuen, prahlerischen Gang, sondern, wie es schien, auch eine völlig andere Persönlichkeit. »Da hab ich wirklich Mist gebaut«, räumte Tracie ein. Molly nickte und verschwand in die Küche.
»Hier bin ich! Dein Musterschüler!«, sagte Jon, als er auf die Bank glitt, die Molly gerade frei gemacht hatte. Tracie musterte ihn. Sie sah ihm an, dass er nicht nur gut aussah, sondern sich auch so fühlte. Dann fragte sie sich, wie gut Beth sich wohl gerade fühlte. »Hey, was ist denn mit deinem Haar los?«, fragte Jon.
»Was soll damit sein?«, fragte Tracie, die sich zusammennehmen musste, um es nicht mit den Händen zu verdecken. Sie konnte einfach nicht glauben, dass Jon etwas an ihr kritisierte.
»Ich weiß auch nicht.« Er zuckte mit den Achseln. »Wer hat das denn gemacht? Vielleicht solltest du besser keinen neuen Friseur ausprobieren. Ich jedenfalls bin einfach wieder zu Stefan gegangen.«
»Wie schön für dich«, sagte Tracie. »Aber diesen Schnitt hat Stefan mir verpasst.«
»Ah. Ja, ist doch eigentlich ganz nett.« Mit zusammengekniffenen Augen musterte er sie noch einmal. »Ja«, sagte er schließlich. »Das passt zu dir.«
»Und wie passt dein Leben zu dir?«, fragte Tracie kalt. »Brauchst du vielleicht ein paar neue Lektionen?« Sie wollte ihm schon Nachhilfe in Höflichkeit und Rücksichtnahme anbieten und darin, dass man alte Freunde nicht einfach so vergaß. Doch noch bevor sie etwas sagen konnte, stimmte er ihr zu.
»Auf jeden Fall«, sagte er. »Aber ich denke, jetzt ist der Fortgeschrittenenkurs dran.«
Sie war verstört, während ihn offenbar gar nichts mehr störte. »Ach, tatsächlich?« Sie versuchte, sich ihren Groll nicht anmerken zu lassen. »Und woraus sollte der bestehen? Aus Orgien? Ménages à trois?«
Er lachte, als wäre das alles ein gigantischer Witz. Einen Augenblick lang fragte sie sich, ob Molly eigentlich immer Recht hatte. Das glaubte sie zwar nicht unbedingt, aber es sah ganz so aus, als läge sie zumindest bei Jon richtig.
Dann wurde Jons Gesicht auf einmal ernst. Vielleicht bestand ja doch eine gewisse Chance, dass er selbst wieder ein wenig wie früher werden wollte. »Um die Wahrheit zu sagen: Ich brauche wirklich Hilfe.« Er sah sie mit seinem früheren Gesichtsausdruck an, einer Art Wie-soll-ich-das-bloß-machen-Blick. »Tracie, ich weiß nicht recht, ob ich dich das fragen sollte, aber... wie werde ich sie bloß wieder los?«
»Wen willst du loswerden?«
»Na ja, nehmen wir mal« – er hielt inne, als suchte er ein passendes Beispiel – »Beth. Sie ruft mindestens viermal am Tag an. Ich hab mich schließlich mit ihr getroffen, nur um sie loszuwerden, aber Beth wird man einfach nicht los. Der kann man sagen, was man will – die gibt nie auf. Ich weiß, dass sie deine Freundin ist, und ich will auch nichts Schlechtes über sie sagen, aber ich fürchte, sie müsste mal ein wenig an ihrer Selbstachtung arbeiten. Solange sie sich alles bieten lässt, weiß ich wirklich nicht mehr, was ich tun soll.«
Tracie atmete einmal tief durch. Das war der Jon, den sie kannte. Vielleicht war er ja doch kein unsensibles Machoschwein. Vielleicht war er nur unerfahren und ein bisschen dumm. Und offenbar sehr, sehr gut im Bett. Sie errötete.
»Werd jetzt bitte nicht wütend«, flehte Jon sie an, der ihr rotes Gesicht völlig falsch interpretierte. »Sie ist ja lieb und nett und alles, aber sie ist...«
Tracie sagte sich, dass sie sich ohnehin nie eine dauerhafte Beziehung zwischen Jon und Beth hatte vorstellen können. Sie war eigentlich davon ausgegangen, dass Beth zu Jon entweder ziemlich grausam oder bald von ihm gelangweilt sein würde. Sie hatte sich verschätzt, die Sache war einzig auf ihr mangelhaftes Urteilsvermögen zurückzuführen, nicht auf ein moralisches Versagen seinerseits. Außerdem war es für Beth wohl auch nicht schlimmer, sich mit einem desinteressierten Jonny herumzuschlagen als mit einem desinteressierten Marcus. Vielleicht war es sogar besser, denn Jon konnte sie wenigstens nicht feuern. Tracie atmete noch einmal tief durch. »Also gut – wenn du eine loswerden willst, dann halt dich am besten an das Schema ›Es liegt nicht an dir, sondern an mir‹.«
»Das hab ich doch auch schon von Frauen gehört!«, rief Jon.
»Klar«, räumte sie ein, »wir benutzen das auch ständig. Aber irgendwie zieht es mehr, wenn es von einem Mann kommt. Du kennst doch die Songzeile ›I can’t settle down, I’m a Rambling Man‹, oder? Als Teenager bin ich bei ›The Wanderer‹ regelmäßig ausgeflippt.«
»Ist das nicht der Typ, der andauernd von einer Stadt zur nächsten gezogen ist?«, fragte Jon.
»Genau. Der Typ, der es einfach nie schafft, sesshaft zu werden. Wenn du so ein Typ bist -«
»Dann bist du wie James Dean!«, ergänzte Jon.
»Ja. Der Typ, der sagt: ›Du bist die Art von Mädchen, die ich lieben könnte, wenn nicht...‹«
»Ich hab’s kapiert, ich hab’s kapiert«, sagte Jon, wieder ganz aufgeregt und enthusiastisch. Dann beugte er sich so weit vor, dass sie die winzigen Bartstoppeln auf seiner Wange und seinem Kinn hätte zählen können. »Hey, stell dir vor: Ich hab Samantha rumgekriegt.«
Tracie zuckte zurück wie von einer Schlange gebissen. »Halt endlich den Mund!«, rief sie und stand auf. Unwillkürlich schwang sie die Arme, als wollte sie ihn schlagen, und Jon hob abwehrend die Hände.
»Hey, was soll das denn jetzt?«, fragte er. »Ich dachte, du freust dich über meine Fortschritte!«
»Fortschritte? Du lässt von dir nichts mehr hören. Du hast Dates mit Carole und Ruth und rufst Beth nicht mal zurück, außer, um mit ihr Schluss zu machen! Dann triffst du dich aus lauter Langeweile oder Schwäche wieder mit ihr und schläfst mit ihr – damit sie dir weiterhin zur Verfügung steht?« Sie musste eine Pause einlegen, um Luft zu holen. »Und jetzt erzählst du mir, du hättest Sam ›rumgekriegt‹. Rumgekriegt? Du hast Sam mal gemocht! Ist das deine Art, mir zu sagen, dass du mit ihr geschlafen hast?«
»Hey, reg dich nicht auf. Es war schließlich Safer Sex«, beteuerte er.
Das war zu viel für Tracie. Sie stand auf, schnappte sich ihre Jacke und ging zur Tür.
Jon rannte ihr nach und packte sie an der Hand. »Hast du mich nicht genau darauf getrimmt?«, fragte er. »Ich dachte, du wärst beeindruckt von allem, was ich geschafft habe. Ich schwöre dir, dass es Beth und Sam und Ruth wirklich gefallen hat.«
»Ruth! Mit Ruth hast du auch geschlafen?«
»Geschlafen haben wir eigentlich eher weniger«, grinste Jon. Tracie konnte nicht wieder wütend werden – sie konnte es nur einfach nicht fassen. War er etwa schon immer ein Wolf im Schafspelz gewesen? Er schaute in ihr fassungsloses Gesicht. »Hey, wir hatten unseren Spaß dabei«, erklärte er. »Das bedeutet doch nur, dass deine Lektionen eingeschlagen haben. Darum ging es doch schließlich, oder? Stell dir vor, mit Enid aus unserem Haus hab ich’s auch schon getrieben. Du weißt schon – Enid, die Aerobictrainerin.«
»Enid?«, fragte sie, und ihre Stimme überschlug sich fast dabei. Die meisten Gäste im Restaurant drehten sich zu ihr um. »Enid? Die... die...« Tracie merkte, dass sie stotterte, aber es gab Situationen, die nicht mehr in Worte zu fassen waren. »Die ist doch zehn Jahre älter als du und auch noch eine Säuferin. Und eine Schlampe!«
»Ich will sie ja nicht heiraten, Tracie«, beteuerte Jon leise. »Das hat sich halt so ergeben.«
»Ich kann einfach nicht glauben, dass du mit ihr geschlafen hast. Die hat sie doch nicht alle, und du solltest dich wirklich schämen.«
Molly trat auf sie zu. »Unser Essen ist nicht zum Mitnehmen«, sagte sie und führte sie an ihren Tisch zurück. Dann drückte sie sie mit beiden Händen auf ihre Plätze, zückte ihren Block und wartete auf ihre Bestellung. »Ihr habt wohl einiges zu besprechen. Dazu das Übliche?«
»Nein«, sagte Jon sachlich. »Neuer Mann, neues Essen. Für mich bitte Waffeln.«
»Mit Schinken?«, fragte Molly.
Tracie konnte es einfach nicht glauben. Als ob sie mit ihm essen würde, als ob alles völlig in Ordnung wäre. »Nein«, sagte sie. »Er isst keine Schweine – er fickt sie.«
Molly grinste süffisant, was Tracie nur noch wütender machte. »Du bist wirklich widerlich«, sagte sie zu Jon. »Ich will nicht mit dir essen, ich will nicht bei dir sitzen, ich will nicht einmal mit dir reden.«
Tracie schaute Molly an. »Vergiss den Brunch«, sagte sie zur Kellnerin. »Der ist viel zu beschäftigt für einen Brunch mit mir.« Dann stand sie auf und stapfte davon.