3. Kapitel
Jonathan Charles Delano radelte durch den Morgennebel am Puget Sound. Die Straße schlängelte sich am nebligen Ufer entlang. Er trug seine Micro/Connection-Jacke, die nur Mitarbeiter der ersten Stunde mit mehr als zwanzigtausend Anteilen bekommen hatten, sowie eine Baseballmütze. Der Wind erfasste ihn von der Seite, als er eine Kurve nahm, und als er dann voll gegen den Wind fuhr, plusterte sich seine Jacke auf wie ein Fesselballon. Radfahren war eine gute Therapie. Hatte er erst einmal seinen Rhythmus gefunden, konnte er nachdenken – oder auch nicht, ganz wie er wollte. An diesem Morgen wollte er um keinen Preis an den vergangenen Abend denken – einen Abend, den er damit zugebracht hatte, im Regen zu stehen und versetzt zu werden – oder an den anstrengenden Tag, der vor ihm lag. Obwohl er nicht scharf darauf war, sein Ziel zu erreichen, strampelte er sich die Lunge aus dem Leib, als führe er bei der Tour de France mit. Muttertag war für ihn immer harte Arbeit. Seit Jahren schon folgte er nun dieser Tradition, die er aus unnötigen Schuldgefühlen und Mitleid selbst ins Leben gerufen hatte. Als Sohn von Chuck Delano war er etwas schuldig, meinte er, und außerdem gelang es ihm als Einzelkind bei diesen Besuchen am ehesten, sich als Mitglied einer Großfamilie zu fühlen. So jedenfalls rechtfertigte er seine Besuche vor sich selbst.
Als er die nächste Kurve der Küstenstraße nahm, löste sich der Nebel schlagartig auf, und ein atemberaubender Blick über die Meerenge eröffnete sich ihm. Seattle erschien ihm ebenso grün und zauberhaft wie die smaragdene Stadt des Zauberers von Oz, und heute spitzte sogar der Mount Rainier hervor, den man bei guter Sicht hoch über der Stadt thronen sah.
Als einer der ungefähr vier alteingesessenen Bewohner Seattles – ihm kam es immer vor, als wären alle anderen »aus dem Osten« zugewandert – hatte er diesen Anblick schon tausendmal bewundert, ohne seiner jemals müde zu werden. Heute aber gönnte er sich nur einen Augenblick, um ihn zu genießen, bevor er weiter über Bainbridge Island strampelte, bis er zu einem schindelverkleideten Haus kam. Jon sprang vom Rad, holte einen Blumenstrauß aus dem Einkaufskorb und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Er schaute auf die Uhr, zuckte zusammen und lief den Weg zur Haustür hoch. Auf dem Namensschild stand MRS. B. DELANO.
Er klopfte an die Tür. Eine schwergewichtige blonde Frau mittleren Alters in einem Trainingsanzug öffnete ihm. Jon fiel auf, dass Barbara seit dem Vorjahr noch mehr zugenommen hatte. Über dem Trainingsanzug trug sie eine Schürze. Das brachte Jon unwillkürlich zum Lächeln. Es war so... typisch Barbara.
»Jon! O Jon, dich habe ich jetzt nicht erwartet«, log sie nach Kräften, als sie ihn umarmte. Barbara war die erste Frau seines Vaters und nur wenig älter als Jons leibliche Mutter, aber irgendwie schien sie aus einer anderen Generation zu stammen.
Jon gab sich große Mühe, all das zu sein, was man von ihm erwartete: im Einklang mit seinen Gefühlen, ein guter Sohn, ein verständnisvoller Chef, ein loyaler Angestellter, ein guter Freund... die Liste war ebenso endlos wie ermüdend. Ein pflichtbewusster Stiefsohn zu sein machte ihn zudem auch noch depressiv.
Etwas an der ersten Mrs. Delano stimmte ihn wirklich traurig. Es war ihre gnadenlose Fröhlichkeit. Obwohl sie glücklich und zufrieden wirkte in ihrem Häuschen in Winslow, stellte Jon sich immer vor, dass eine schreckliche Sehnsucht sie überkam, sobald er das Haus verlassen hatte. Nicht nach ihm – Jon wusste, dass niemand sich je nach ihm sehnte -, sondern nach Chuck, Jons Vater, dem Mann, den sie geliebt und verloren hatte.
Auch wenn Jon keinen Grund hatte, sich dafür verantwortlich zu fühlen, tat er es doch, und da er fürchtete, dass sich daran wohl nie etwas ändern würde, hatte er sich auf diesen Tag vorbereitet. Er holte die Blumen hinter seinem Rücken hervor. »Du hast mich nicht erwartet?«, fragte er so fröhlich wie sie. »Alles Gute zum Muttertag, Barbara.« Schwungvoll hielt Jonathan ihr den Strauß hin.
»Um Himmels willen. Rosen und Gladiolen. Meine Lieblingsblumen! Dass du dir das gemerkt hast!«
Jon fand, dass jetzt nicht der geeignete Zeitpunkt war, ihr von seinem elektronischen Organizer zu erzählen.
Barbara umarmte ihn noch einmal und er spürte ihren weichen Körper. Offenbar benutzte sie den Trainingsanzug nicht zum Trainieren. »Du bist ja so ein lieber Junge, Jon.« Sie trat einen Schritt zur Seite, um ihn in den Flur zu lassen. »Komm rein. Ich backe gerade süße Brötchen zum Frühstück.«
»Ich wusste gar nicht, dass du backen kannst«, log er widerwillig. Er wollte kein Frühstück und... nun ja, wenn Barbara erst einmal in Fahrt kam, hörte sie so schnell nicht mehr mit dem Reden auf. Zwei Fragen fürchtete er besonders: das übertrieben beiläufige »Hast du in letzter Zeit mal was von deinem Vater gehört?« und das noch schlimmere »Und, hast du eine Freundin?«. Obwohl Chuck selten zu Jon Kontakt aufnahm und Jon fast genauso selten ein Rendezvous hatte, wurde Barbara nie müde, ihn nach beidem zu fragen. Aber das kam wohl daher, dass sie so einsam war. Sie hatte mit seinem Vater keine Kinder gehabt und auch nie wieder geheiratet. Sie schien von der übrigen Menschheit isoliert – nicht nur, weil sie auf der Insel lebte, sondern überhaupt.
»Du musst wenigstens einen Kaffee trinken«, sagte Barbara.
»Na gut, meinetwegen, aber wirklich nur einen Kaffee. Ich habe nicht viel Zeit. Eigentlich müsste ich schon...«
Barbara streckte die Hand nach ihm aus und zog ihn ins Haus. »Und, hast du eine Freundin?«, fragte sie augenzwinkernd.
Jon tat sein Bestes, um nicht zusammenzuzucken. Wenn er nicht schon gewusst hätte, dass das bisschen Zeit, das er auf sein Privatleben verwendete, glatt verschwendet war, wäre ihm das nach der vergangenen Nacht endgültig klar geworden. Er und Tracie, seine beste Freundin, diskutierten seit Jahren darüber, wessen Liebesleben wohl weniger romantisch war. Diese Woche würde er aus diesem Wettstreit definitiv als Sieger hervorgehen. Oder auch aus definitiver Verlierer. Und als er Barbara in die Küche folgte, wusste er, dass das – so oder so – gar nicht gut war.
 
Eine Stunde später schob Jon sein Fahrrad behutsam zwischen den Leuten hindurch, die an der Anlegestelle auf der Stadtseite die Fähre über den Puget Sound verließen. Außer ihm schienen nur Paare unterwegs zu sein; es war Sonntagmorgen, und jeder ging Händchen haltend mit seinem Partner. Jeder außer ihm. Er seufzte. Er arbeitete die ganze Zeit – ebenso unerbittlich wie all die anderen dynamischen und erfolgreichen jungen Leute. Die Skyline von Seattle türmte sich mit der albernen Space Needle und den jüngeren Wolkenkratzern am Ufer. Er stieg aufs Rad, überholte rasch die Fußgänger und strampelte in rasendem Tempo Richtung Fifteenth Avenue Northwest.
Weniger als zehn Minuten später legte Jon vor einem luxuriösen Wohnblock eine Vollbremsung hin. Er schaute auf die Uhr, holte einen weiteren Blumenstrauß – diesmal ausschließlich Tulpen – aus seinem Fahrradkorb und kettete sein Rad an eine Parkuhr. Er betrat die Eingangshalle des Gebäudes, einen mit zahlreichen Spiegeln ausgestatteten überladenen Raum, den er noch von früher kannte, wenn sein Vater ihn übers Wochenende mitgenommen hatte. Er drückte den Aufzugknopf, die Tür ging auf, er trat ein und drückte die Nummer zwölf. Obwohl es nur Sekunden dauerte, kam es ihm wie eine kleine Ewigkeit vor.
Der Aufzug hielt an, und es piepste, als die Tür sich öffnete. Jon seufzte erneut, trat aus dem Lift und hielt inne, um sich zu sammeln. Dann klopfte er an eine Wohnungstür. Auf dem Namensschild unter dem Messingklopfer stand MR. & MRS. DELANO, wobei das »MR. &« durchgestrichen war. Eine Frau – ebenfalls mittleren Alters, aber jünger aussehend und weitaus besser erhalten als Barbara – öffnete die Tür. Sie trug etwas, was man Jonathans Vermutung nach wohl als ein »todschickes Kostüm« bezeichnet hätte.
»Jonathan«, gurrte die Frau. Sie nahm ihm die Tulpen aus der Hand, als hätte sie den Strauß schon erwartet. »Wie schön.«
»Alles Gute zum Muttertag, Mutter.« Jon küsste Janet genau so, wie sie es ihm beigebracht hatte: auf beide Wangen und so behutsam, dass er auch ganz bestimmt nicht ihr kunstvoll aufgetragenes Make-up verwischte.
»Du brauchst mich nicht Mutter zu nennen, dazu bin ich wohl kaum alt genug«, erwiderte Janet mit einem leichten Lachen. Ihre Stimme hatte etwas an sich, was bei ihm seit jeher ein gewisses Unbehagen erzeugte. In jüngeren Jahren hatte er immer das Gefühl gehabt, dass sie ihn mit sanftem Spott behandelte. Erst in letzter Zeit war ihm klar geworden, dass sie in Wahrheit mit ihm flirtete. »Ich stell die hier nur schnell ins Wasser«, sagte sie. Dann öffnete sie die Tür weiter, um ihn hereinzulassen. Er hatte sich in Janets Gegenwart noch nie wohl gefühlt.
Die Wohnung war ebenso überladen wie Janet selbst. Sie trug viel zu viel Goldschmuck und hatte viel zu viele goldene Knöpfe an der Kleidung, während ihre Wohnung zu viele goldene Bilderrahmen und zu viel geschliffenes Glas aufwies. Als er mit zwölf Jahren seinen Vater hier besuchte, hatte sie die meiste Zeit damit zugebracht, ihn zu ermahnen, bloß nichts anzufassen.
Mit Ausnahme der Blumen hatte sich seit letztem Jahr nichts verändert. Alles wirkte wie in der Zeit eingefroren, genau wie Janets Gesicht oder das Dornröschenschloss. Aber kein Prinz kam, um Janet zum Leben zu erwecken. Jon mochte Barbara wirklich gut leiden, aber für Janet konnte er nichts als Mitleid empfinden. Jetzt hantierte sie im winzigen Spülbecken der winzigen Küche mit den Blumen. »Hast du mal wieder von deinem Vater gehört?«, fragte sie so gleichgültig wie möglich.
»Nein«, antwortete Jon ruhig. Das war genau die Frage, die er am wenigsten ausstehen konnte. Sie ließ die Exfrauen seines Vaters immer so verletzlich erscheinen. Jetzt tat Janet ihm noch mehr Leid, und er würde noch länger bleiben müssen.
»Nein? Kein Wunder«, sagte sie, und ihre kokette Stimme verhärtete sich. Sie schob die letzte Tulpe zu heftig in die Vase und brach dabei den Stiel ab, ohne es zu merken. »Und wie läuft’s in deinem Privatleben?«, fragte sie, und Jon hatte so das Gefühl, als wüsste sie bereits, dass die Antwort darauf nicht allzu positiv ausfallen würde. Sie musterte ihn von Kopf bis Fuß – seine ausgebeulte Khakihose, seine ausgelatschten Turnschuhe und sein T-Shirt. Dann seufzte sie. »Also, wohin gehen wir zum Brunch?«
Jon sank der Mut. »Ach weißt du«, meinte er verlegen, »ich dachte eigentlich, wir könnten einfach nur hier bei dir einen Schluck Kaffee trinken. Ich meine, ich könnte ein paar Pfund weniger ganz gut vertragen...«
»Du meinst wohl, mir würde das gut tun«, sagte Janet lächelnd und wieder in ihrem flirtenden Tonfall. »Ich bin ständig auf Diät. Aber heute ist Muttertag, und da zählen die Kalorien vom Brunch nicht mit. Nicht einmal für eine Stiefmutter.«
Jon kapitulierte. Auch sein Vater hatte Janet in allem nachgegeben, bis er sie dann verließ.
Keine zehn Minuten später fand sich Jon vor einem schicken Café in Seattle wieder. Gott sei Dank gab es noch keine Warteschlange. Später, als er seiner zweiten Stiefmutter zum Abschied zuwinkte, warteten schon gut zwei Dutzend Leute. Jon zog seine Uhr zu Rate, geriet in Panik und sprang aufs Rad. Wie ein Verrückter trat er in die Pedale, hinaus aus der Innenstadt, vorbei am Park, durch den wohlhabenderen Teil Seattles und in sein altes Viertel.
In der Corcoran Street schob Jon sein Rad in die Einfahrt eines Backsteinbungalows. Das Haus war von Kletterpflanzen überwuchert und von Blumenbeeten umgeben. Er rannte an einem gepflegten Beet vorbei, was ihn daran erinnerte, zum Rad zurückzulaufen und einen weiteren – den größten – Blumenstrauß zu holen.
Er schnappte ihn sich und rannte zur Tür. Auf dem Namensschild unter der Klingel stand J. DELANO. Noch bevor er klopfen konnte, wurde die Tür von einer attraktiven dunkelhaarigen Frau geöffnet, die eine starke Ähnlichkeit mit Jon aufwies.
»Jonathan!«, rief seine Mutter.
»Alles Gute zum Muttertag, Mom!« Jon umarmte sie herzlich und zerquetschte dabei die Blumen zwischen ihnen.
»Du kommst genau richtig!«, sagte seine Mutter. Sie nahm die Blumen und tätschelte ihm liebevoll die Wange. »Ach, mein Liebling. Pfingstrosen! Mein Gott, so lange vor der Saison; die müssen dich ja ein Vermögen gekostet haben!«
»Das geht schon in Ordnung, Mom. Ich habe heute ja auch mehr Taschengeld als früher.«
Sie lachte. »Und wie geht’s deinem Blinddarm?«, fragte sie.
»Der ist immer noch draußen, aber mir geht’s gut«, antwortete er. Drei Jahre zuvor war ihm bei einer Notoperation der Blinddarm entfernt worden, was ihr einen fürchterlichen Schrecken eingejagt hatte. Sie fragte noch immer danach, auch wenn sie damit längst sein Befinden im Allgemeinen meinte.
»Hast du heute den Mount Rainier gesehen?«, fragte sie. »Ja. Und den Mount Baker auch.«
Dann gingen sie durchs Wohnzimmer in die Küche. »Bist du allein gekommen?«, fragte sie.
»Ja. Warum?«
»Ich dachte, du bringst vielleicht Tracie mit.«
Jon lächelte. Obwohl er und Tracie von Anfang an einfach nur sehr gute Freunde waren, ließ seine Mutter immer noch durch Andeutungen erkennen, dass sie hoffte, es könnte mittlerweile mehr daraus geworden sein. Oder dass er vielleicht mal ein anderes Mädchen, eine richtige Freundin, mit nach Hause brachte.
Während sich Chucks andere Exgattinnen darauf einschossen, ob Chuck wohl eine Neue hatte, ging es seiner Mutter immer nur darum, ob Jon eine Freundin hatte. Sie wollte, dass er glücklich war, das wusste er, und sie wünschte sich Enkel. Nicht dass Jon nicht auch sehr gern eine Frau kennen gelernt und mit ihr eine Familie gegründet hätte – es war nur leider so, dass die Frauen, denen er begegnete, sich lieber mit einem anderen zusammentaten. Im Privatleben war er für sich und die anderen einfach eine Enttäuschung. Er seufzte. Er hätte ihr den Gefallen gern getan, aber...
»Dieser Feiertag ist für sie immer besonders hart«, sagte seine Mutter gerade, während sie die Blumen in die Vase stellte.
Jon sparte sich die Mühe, ihr zu erklären, dass er an Tracie schon gedacht hatte – manchmal, fand er, dachte er sogar zu viel an Tracie -, sie aber schon mit ihrem neuesten Lover und ihrer alten Freundin aus San Bernardino oder so verabredet war.
»Tracie hatte leider keine Zeit, aber ich treffe sie heute Abend. Du weißt schon, unser Mitternachtsbrunch.«
»Grüß sie von mir«, sagte seine Mutter.
»Mach ich.« Er griff in seine Jackentasche, holte ein kleines, in Geschenkpapier gewickeltes Kästchen heraus und legte es auf den Küchentisch.
»Oh. Ein Geschenk? Jon, das wäre aber doch nicht nötig gewesen.«
»Ich weiß; normalerweise klaut man seiner Mutter am Muttertag die Scheckkarte und geht damit auf Sauftour. Aber ich dachte, ich könnte ja mal was ganz Ausgefallenes machen.«
Jon verdiente eine Menge Geld. Nun ja, im Vergleich zu dem Einkommen der vier Gründer seiner Firma war es zwar nicht allzu üppig, aber für jemanden in seinem Alter war es doch ziemlich viel. Zudem gab er nicht viel davon aus, da er meist zu sehr mit seiner Arbeit beschäftigt war, um überhaupt Zeit zum Einkaufen zu finden. Außerdem brauchte er auch gar nichts. Er besaß bereits all die technischen Spielereien – von der Stereoanlage über einen Laptop bis hin zur Videoausrüstung -, nach denen es ihn je verlangen könnte, aber ihm fehlte die Zeit, um sich mit ihnen zu beschäftigen. Wenn er nicht gerade arbeitete, dachte er über die Arbeit nach oder schlief. Daher war es für ihn keine große Sache, ein paar Dollar für seine Mutter auszugeben. Schwieriger war es schon, etwas zu finden, was ihr gefallen könnte. Am Ende hatte er Tracie etwas aussuchen lassen; im Einkaufen war sie unschlagbar.
»Du bist ja so aufmerksam. Von deinem Vater hast du das bestimmt nicht.« Für einen kurzen Augenblick drängte sich ein verlegenes Schweigen zwischen sie, denn sein Vater war das einzige Thema, über das er mit ihr nicht sprechen wollte, und das hatte er ihr auch gesagt. Seine Mutter lachte und wickelte das Geschenk aus. Sie hielt die Jadeohrringe in die Höhe. »Oh, Jonathan! Die sind ja wunderschön!«, rief sie, und offensichtlich meinte sie es auch so. In solchen Sachen kannte sich Tracie wirklich aus. Seine Mutter ging zum Flurspiegel und hielt sich den Schmuck an die Ohren. Ihre offensichtliche Freude machte Jon glücklich. »Was ist, gehen wir zum Lunch zu Babette’s?«, fragte sie, als sie die Ohrringe endlich befestigte.
»Tun wir das nicht immer?«, antwortete Jonathan, ohne zu zögern, obwohl Barbaras Frühstück und Janets Brunch in seinem Magen schon heftig rumorten.
»Lass uns den Augenblick festhalten«, sagte seine Mutter, nahm ihre Polaroid und führte Jon hinaus zum Blauregen. »Ich muss nur rauskriegen, wie der Selbstauslöser funktioniert, dann kann’s losgehen.« Sie brauchte dazu etwa eine halbe Stunde, während er geduldig wartete. Dann hastete sie von der Kamera zu ihm, bevor es »Klick« machte.
Und blitzschnell war der Augenblick vorüber.
 
Jon war müde. Er war erst achtundzwanzig, fragte sich aber schon, wie viele Muttertage er wohl noch überstehen würde, bevor sie ihn ins Grab brächten. Er hatte noch drei weitere Stiefmütter vor sich, obwohl er nach den drei Mahlzeiten bereits jetzt schier am Platzen war. Trotzdem musste er noch zum Tee sowie zu einem frühen und einem späten Abendessen, bevor er sich um Mitternacht mit Tracie treffen konnte. Finsteren Blicks stieg er auf sein Fahrrad und fuhr in den Regen von Seattle hinaus.