40. Kapitel
Tracie starrte aus dem Fenster in den Himmel über
Seattle. Wie fast immer war er von grauen Wolken bedeckt, aber
gerade in diesem Augenblick hatte sich eine Lücke aufgetan, durch
die silbrig glänzendes Licht eines jener Muster warf, die den
Himmel zu verzaubern scheinen. Dort oben mussten starke Turbulenzen
herrschen, denn schon zogen sich die auseinander gerissenen Wolken
wieder zusammen, bis sie wie ein Verband über einer verheilenden
Wunde wieder den hellen Fleck bedeckten und die Sonne
aussperrten.
Tracie erlaubte sich keinen weiteren Seufzer, denn
Laura registrierte sie und gab zu jedem einzelnen einen Kommentar
ab. Also wandte sie einfach den Blick vom Fenster ab, bückte sich
und tauchte den Farbroller in die Wanne mit Farbe, mit der sie und
Laura gerade die Wand strichen.
Lauras neue Wohnung wurde recht nett, auch wenn
Tracie das Mauve der Wände ziemlich scheußlich fand. Sie freute
sich viel zu sehr mit Laura, als dass sie Kommentare über ihre
Farbwahl abgegeben hätte. Laura hatte sich voll ins Heimwerken
gestürzt, und der nächste Baumarkt war zu ihrem bevorzugten
Single-Treffpunkt geworden. Sie hatte bereits Dates mit einem
Polizisten hinter sich, den sie dort kennen gelernt hatte, mit
einem Vertreter und schließlich mit dem Leiter der Farbenabteilung.
In der Sanitärabteilung hatte sie ihn geküsst. »Du liebst ihn doch
nur wegen der Rabatte, die er dir gibt«, hatte Tracie gescherzt,
doch dann hatte Laura herausgefunden, dass der Typ nicht geschieden
war, sondern nur von seiner Frau getrennt lebte. Sie hatte ihn auf
der Stelle fallen lassen wie eine heiße Grillkartoffel. Tracie
rollte die Farbe, wie Laura ihr gesagt hatte, kreuz und quer auf
der Wand aus und runzelte die Stirn, als sie die zehntausend
winzigen mauvefarbenen Spritzer auf ihrem Arm entdeckte.
»Zu viel Farbe auf dem Roller«, sagte Laura, die
gerade die angrenzende Wand bearbeitete. Laura schaute sie an und
schüttelte den Kopf. »Ein Kandinsky wirst du nie«, erklärte sie
Tracie.
»Na und?«, erwiderte Tracie. »Ich wollte sowieso
nie Geige spielen.« Sie versuchte es noch einmal, und diesmal blieb
tatsächlich das meiste an der Wand. Das Licht, das zum Fenster
hereinfiel, reflektierte die Farbe der Wände auf sie beide und ließ
Lauras Teint hässlich fahl erscheinen. Das ist keine Farbe für ein
Schlafzimmer, dachte Tracie. Es sei denn, der nächste Mann, den
Laura im Baumarkt aufgabelt, ist nicht nur wirklich Single, sondern
auch farbenblind. Bei der Farbe würden sie beide aussehen, als
wären sie an Gelbsucht erkrankt.
»Weißt du, ich habe nachgedacht, und ich finde, du
solltest dir einen Job besorgen«, sagte Laura. Sie kehrte Tracie
den Rücken zu und betrachtete angelegentlich die Wand, die sie auf
und ab, auf und ab rollte.
»Ich versuche mich gerade an einem Roman«,
erinnerte Tracie ihre Freundin. »Und das ist harte Arbeit, glaub
mir.« Mit winzigen Schritten war die Nachwuchsschriftstellerin
Tracie dabei, sich einen neuen Arbeitsrhythmus anzugewöhnen:
vormittags schreiben, nachmittags redigieren. Sie schrieb über ein
Mädchen, das in einem Ort wie Encino aufwuchs und mit dem Tod ihrer
Mutter fertig werden musste. Der Roman sollte zwar nicht direkt
autobiografisch sein, aber zumindest konnte sie behaupten, dass ihr
die Recherche leicht fiel.
»Ich weiß. Und ich bin stolz auf dich. Denk bloß
nicht, dass ich dich für faul halte«, sagte Laura. »Ich finde nur,
dass du mal rauskommen musst.«
»Bald rätst du mir auch noch, eine Kontaktanzeige
aufzugeben«, erwiderte Tracie indigniert, und als sie den
Farbroller in die Schale tauchte, tat sie das mit etwas zu viel
Schwung, sodass die Farbe nach allen Seiten spritzte. »Huch«, sagte
sie und
begann, die Spritzer mit einem Küchentuch aufzuwischen. Zum Glück
war es Latexfarbe, und so würde es höchstens eine Stunde und nicht
zwei Tage dauern, sie zu entfernen.
Laura ignorierte die Schweinerei und wandte sich
Tracie zu.
»Hör mal, ich hab dich wirklich in aller Ruhe
trauern lassen«, erklärte sie. »Hab ich mich vielleicht
eingemischt? Hab ich dir etwa gesagt, du könntest unmöglich jede
Nacht allein in deiner Wohnung liegen wie ein toter Lachs nach der
Laichzeit?«
Laura war ihr gegenüber tatsächlich überraschend
nachsichtig gewesen – oder auch nur zu sehr mit ihrem eigenen Leben
beschäftigt. Tracie hatte sich Tage, wenn nicht sogar Wochen
bemüht, sich an jedes Detail, jeden Augenblick ihrer vollkommenen
Zeit mit Jon zu erinnern und sie zugleich zu vergessen. Als er ihr
gesagt hatte, dass er sie liebte und immer geliebt hatte, war es
wie ein magischer Tanz gewesen, etwas, was nur im Märchen vorkommt
– man zieht Ballettschuhe an und merkt verblüfft, dass man nicht
nur mühelos auf den Spitzen tanzen kann, sondern auch jedes Detail
der Choreografie des Pas de deux aus Schwanensee im Kopf
hat. Sie und Jon hatten sich bewegt, als ob sie eins wären. Jede
Berührung war so erwartet und zugleich so spontan, so neu gewesen,
dass es Tracie leicht gefallen war, die Erinnerung daran über
Wochen frisch zu halten.
Irgendwo hatte sie einmal gelesen, dass Frauen sich
nicht an den Schmerz des Gebärens erinnerten, weil sie sich
andernfalls nie ein zweites Mal darauf einlassen würden. Sie wusste
nicht, ob das stimmte, aber sie konnte sich nicht mehr an die
Freude, an die Vollkommenheit ihrer Vereinigung mit Jon erinnern,
weil der Schmerz angesichts der Erkenntnis, dies nie wieder erleben
zu dürfen, sonst für sie unerträglich geworden wäre. Sie hatte sich
so viel Zeit genommen, wie sie für ihre Selbstvorwürfe brauchte,
ihren Hass auf Marcus, Schuldzuweisungen an Phil und alle anderen
überflüssigen, ungerechten Gefühle. Aber irgendwann blieb ihr
nichts anderes übrig, als damit aufzuhören, und so konzentrierte
sie sich allmählich wieder mehr auf die Gegenwart statt auf die
Vergangenheit. Sie bedauerte keine Sekunde lang,
ihren Job bei der Times verloren zu haben. Sie bedauerte
auch nicht ihr verschwindend geringes Einkommen. Sie bedauerte
nicht einmal, dass sie das bisschen Geld anzapfen musste, das ihre
Mutter ihr in Form eines Treuhandfonds hinterlassen hatte. Im
Gegenteil – zum ersten Mal wusste sie dieses Geld wirklich zu
schätzen.
»Ich brauche keinen Job, und wenn ich einen
annähme, hätte ich keine Zeit mehr zum Schreiben«, erinnerte Tracie
Laura. »Wenn ich mir mein Geld einteile, kann ich mir für den Rest
des Jahres frei nehmen, und bis dahin müsste ich mit meinem Roman
fertig sein.«
»Schon, aber wenn du einen Job hättest, der keine
großen geistigen Ansprüche stellt, könntest du noch besser
schreiben und zwei Jahre durchhalten«, erklärte Laura. »Nur
für den Fall, dass es noch ein bisschen länger dauern sollte als du
denkst.« Sie grinste, nahm einen Pinsel und begann, den Rand oben
an der Decke zu streichen. Tracie bewunderte ihre ruhige Hand. Sie
war groß genug – oder die Decke niedrig genug -, dass sie es ohne
Leiter schaffte. »Ich denke, du machst jetzt besser sauber«, meinte
Laura.
»Aber wieso denn? Meine Arbeit ist doch gar nicht
so schlecht«, protestierte Tracie.
»Das nicht, aber Phil kommt vorbei, und ich glaube
kaum, dass zurzeit einer von euch Wert darauf legt, den anderen zu
sehen.«
»Da hast du auch wieder Recht.«
Laura hatte Phil in letzter Zeit häufiger
getroffen, oder zumindest kam es Tracie so vor, da sie außer Laura
nie jemanden traf. Natürlich hatte Laura in Seattle auch noch nicht
allzu viele Freunde oder auch nur Bekannte, aber trotzdem schien
sie sich in der Stadt allmählich einzuleben. Abgesehen vom
mauvefarbenen Schlafzimmer war ihre Wohnung auf dem besten Weg,
richtig nett zu werden, und Laura schien mit ihrem Job im Java, The
Hut sehr zufrieden zu sein. Tracie war seit ihrem Bruch mit Jon
nicht mehr da gewesen, aber Laura versorgte sie regelmäßig mit
detaillierten Berichten. Jon kam offensichtlich auch nicht mehr,
sofern er nicht einfach aus Lauras Kommentaren gestrichen worden
war. Jedenfalls freute sich Tracie darüber, dass Phil gleich kommen
wollte – zum Teil, weil sie wegen Phil ein schlechtes Gewissen
hatte, aber auch, weil sie froh war, endlich den Farbroller ablegen
zu können.
»Ich hätte übrigens auch nichts dagegen, wenn mehr
daraus werden sollte. Zwischen mir und Phil ist es vorbei.«
»Nein, wir sind nur schlechte Freunde«, witzelte
Laura. »Wir treffen uns einmal die Woche oder so, um über unser
Leben zu jammern. Er hat eine Weile gebraucht, bis er den Bogen
raus hatte, aber allmählich lernt er es.«
»Jon und ich haben auch mal als Freunde
angefangen.«
Einen Augenblick lang musste Tracie an ihre Treffen
mit Jon denken, bei denen sie einander ihr Leid geklagt hatten,
aber sie verdrängte den Gedanken an ihn wieder, wie sie es momentan
mehrere Dutzend Mal am Tag tat.
»Jedenfalls finde ich wirklich, dass du dir einen
Job als Bedienung suchen solltest«, meinte Laura. »Im Restaurant
suchen sie nämlich gerade eine, und zwar nur halbtags. Da kämst du
ein wenig raus, du könntest Material zum Schreiben sammeln, und die
Trinkgelder sind auch nicht übel.«
»Trinkgelder!«, schnaubte Tracie verächtlich. »Ist
das dein Ernst? Ich bin doch nicht mehr im College. Ich arbeite
nicht für Trinkgelder.«
Laura schob Tracie ins Bad und drückte ihr ein
Stück Seife in die Hand. »Ich geb dir einen guten Rat«, sagte sie.
»Wasch dir die Spritzer ab, bevor sie festgetrocknet sind, und tu
auch sonst alles, was ich dir sage. Ich hab nämlich immer
Recht.«
Tracie schnaubte noch einmal.
Nervös und zerzaust ließ Tracie sich von Laura ins
Java, The Hut schieben. Der Gedanke, Molly gegenübertreten zu
müssen, war ihr offenbar nicht sehr angenehm. »Brauchst du noch
eine Bedienung?«, fragte sie.
»Ja, so nötig wie einen breiteren Arsch«, erklärte
Molly. Dann musterte sie Tracie von Kopf bis Fuß. »Wieso? Brauchst
du Arbeit?«
»Na ja, ich bin gewissermaßen entlassen worden,
aber mein Chef behauptet, ich hätte selber gekündigt, und deswegen
bin ich nicht sicher, ob ich Arbeitslosen-«
Molly hob die rechte Hand, als wollte sie kein Wort
mehr hören. Mit der linken drückte sie Tracie ein T-Shirt von Java,
The Hut in die Hand. »Wenigstens kennst du die Speisekarte
auswendig«, sagte sie.
»Hab ich’s dir nicht gesagt?«, triumphierte
Laura.
»Was gesagt?«, fragte Tracie.
»Stellst du Tracie ein?«, fragte Laura.
»Kann schon sein«, antwortete Molly. Dann seufzte
sie. »Damit kann ich wahrscheinlich meinen Traum begraben, in die
Spitzengastronomie vorzustoßen, aber was soll’s.«
Molly konnte sie so einfach einstellen? »Muss ich
nicht erst mit dem Geschäftsführer oder sonst jemandem reden?«,
fragte Tracie erstaunt. »Ich meine, ich habe doch keinerlei
Berufserfahrung.«
»Mach dir mal darüber keine Gedanken – dafür wirst
du noch früh genug büßen, mein Lämmchen. Ich hoffe, die Leute geben
dir ähnlich großzügige Trinkgelder wie du mir«, sagte Molly. »Und
dass dieses Lokal keinen Geschäftsführer hat, ist ja wohl
offensichtlich, oder?«, fügte sie hinzu.
»Das Lokal gehört dir? Das wusste ich ja gar
nicht!«
»Du weißt vieles nicht, meine Süße. Aber ich
glaube, du lernst allmählich dazu.« Molly hielt kurz inne. »Mit Jon
ist es also aus?«
Tracie nickte still. »Wir haben irgendwie -«
»Sag nichts mehr.« Molly wandte sich Laura zu. »Du
bist spät dran. Die Küche ruft. Und Tomaten haben wir auch keine
mehr.«
»Kein Problem.« Laura warf Molly ein Lächeln zu und
streckte Tracie den nach oben gerichteten Daumen entgegen.
Tracie schaute aus dem Fenster auf die Straße. Der
Baum vor
dem Lokal hatte ausgetrieben, und ihr war es nicht mal
aufgefallen. Sie arbeitete immer noch für Molly, als der Baum sich
orange färbte, die Blätter verlor und dann fast einen Monat lang in
Eis gehüllt war. Es war der Winter ihres Missvergnügens.