16. Kapitel
Jon drückte den Eject-Knopf auf dem Videorecorder, und die Kassette sprang aus dem Schlitz wie ein Stück Brot aus dem Toaster. Er hatte Jenseits von Eden jetzt schon viermal angeschaut. Der sensible, einsame Cal, gespielt von James Dean, kam ihm nicht sonderlich sexy vor. Der Kerl wirkte auf ihn eher wie der klassische Verlierertyp und so gar nicht wie die Art Mann, auf den die Frauen abfahren. Und das Mädchen Abra, gespielt von Julie Harris, das mit Cals Bruder geht, schien auch nicht besonders scharf auf Cal. Warum auch? Er war neurotisch und launisch. Jon kam es vor, als fühlte sie sich nur aus Mitleid immer wieder zu ihm hingezogen. Und dann die Art, wie er immer die Anerkennung seines Vaters suchte – zum Beispiel die ganze Episode mit dem gekühlten Salat. Mann o Mann. Warum konnte er nicht einfach akzeptieren, dass sein Vater keine große Nummer war, sondern ein Nichtsnutz und ein Idiot? Auch Jons Vater war in vieler Hinsicht ein Nichtsnutz, und er war noch nicht einmal ein Raymond Massey.
Jon zog sich den Pullover über den Kopf, streifte sich die merkwürdige Jacke über, die Tracie ihm verpasst hatte, und stellte sich vor den Spiegel. Er konnte sich gut sehen, denn alle Kleidungsstücke, die zuvor im Schrank gehangen und den Blick auf den Spiegel versperrt hatten, waren verschwunden.
Er musste zugeben, dass der Jon, der ihn aus dem Spiegel anblickte, sich ganz schön verändert hatte. Vielleicht fiel es ihm deswegen so schwer, eine Frau zu erobern. Er konnte sie einfach nicht als eine Serie von One-Night-Stand betrachten – auch wenn dies bei der einen oder anderen zwangsläufig der Fall sein würde, wenn sie ihm nicht so gefiel, dass er mit ihr zusammenbleiben wollte. Und genau an diesem Punkt wurde es kompliziert. Er hasste es, zurückgewiesen zu werden, aber noch schlimmer wäre es für ihn, eine Frau zurückweisen zu müssen. Er dachte an seine Mutter und an all die Frauen, die Chuck hatte sitzen lassen. Er wusste nicht einmal, wie viele es gewesen waren, denn er kannte ja nur diejenigen, die sein Vater auch geheiratet hatte.
Aber Tracie würde dafür sorgen, dass das alles anders wurde. Er würde seinen Verstand einsetzen und damit all die Phils auf ihrem ureigensten Gebiet übertreffen. Er war Tracies Anweisungen gefolgt – auch den wirklich harten. Er hatte sich nicht rasiert, und seine Füße taten ihm in den Boots jetzt schon weh. Er war ganz sicher, dass er Blasen in der Größe – und wahrscheinlich auch der Farbe – einer Kiwi bekommen würde, und er hatte sogar mal gelesen, dass jemand an einer Entzündung solcher Blasen gestorben war. Falls das auch ihm bevorstand, so hoffte er, dass es erst geschah, nachdem er eine Frau geliebt oder zumindest mit ihr geschlafen hatte. Tracie hätte bei seinem Begräbnis sicher ein furchtbar schlechtes Gewissen. Er musste zugeben, dass er gut aussah, aber dafür überhaupt nicht mehr wie er selbst. Er sah aus wie ein Typ, der ihn höhnisch angrinste. Er grinste zurück, aber das machte es nur noch schlimmer. Mein Gott, was tu ich da bloß, fragte er sich. Nächstens fange ich noch an mich wie Travis Bickle in Taxi Driver zu benehmen und frage mein Spiegelbild, ob es mich anlabert.
Jon schüttelte den Kopf. Wie ein süßer tapsiger Labrador sah er jedenfalls nicht mehr aus. Eher schon wie ein Wiesel oder ein Fuchs mit dunklem Fell. Nun ja, das war wohl auch der Punkt. Er holte seinen Samsonite mit dem kaputten Handgriff und den Rollen heraus. Gerade wollte er ihn öffnen, als sich Tracies Unterricht auszahlte. Er sah sie förmlich vor sich, wie sie ihre herrliche, leicht gebogene Nase angewidert verzog und sagte: »Von Koffern auf Rollen kriegt man doch voll den Krampfer.«
Einen Moment lang überlegte Jon, was für eine Art Koffer James Dean wohl hätte, aber er konnte sich nicht erinnern, ihn in einem seiner Filme überhaupt etwas tragen gesehen zu haben – außer Sal Mineo. Vielleicht hatten coole Typen ja gar kein Gepäck. Er seufzte. Das war alles so schrecklich kompliziert.
Aber wenn sein Plan aufgehen sollte, brauchte er Gepäck. Nachdem er eine Viertelstunde lang seine Wohnung durchwühlt hatte, entschied er sich für eine alte schwarze Reisetasche aus schwerem Baumwollstoff, in der er im College immer seine schmutzige Wäsche verstaut hatte. Zum Beschweren warf er etliche Paar Laufschuhe hinein und stopfte den verbliebenen Raum mit zusammengeknüllten Seiten der Seattle Times aus – wobei er peinlich genau darauf achtete, alle Seiten mit Artikeln von Tracie aufzuheben. Als er den Reißverschluss zuzog, hoffte er nur, dass die Sache den ganzen Aufwand wert war. Allzu viel Hoffnung hatte er allerdings nicht.
Doch trotz seines üblichen Pessimismus musste Jon doch eingestehen, dass irgendetwas in der Luft lag. Vielleicht waren es ja nur die neuen Klamotten. Vielleicht aber hatten Tracies wenig zartfühlende Lektionen ja auch etwas an seiner Haltung geändert. Klar war jedenfalls, dass die Frauen sich in seiner Nähe auf einmal ganz anders gaben. Im Büro grüßten ihn seit neuestem die Sekretärinnen, Angestellten und sogar einige Frauen aus den oberen Etagen, wann immer sie ihn sahen. Selbst Samantha hatte sich schon einmal ein »Hallo« abgerungen. Er war ganz sicher, dass das vorher nicht der Fall gewesen war, abgesehen von einigen, mit denen er befreundet war. Und es war nicht nur das. Es war auch die Art, wie sie ihn begrüßten – irgendetwas in ihrer Stimme. Es war nicht direkt eine Anmache, aber Jon fand es faszinierend, wie unglaublich musikalisch ein winziges Wörtchen wie »Hallo« klingen konnte.
Das verrückteste aber war nicht die Tatsache, dass Frauen nun auf einmal Notiz von ihm nahmen, das war schließlich Zweck der Übung. Das Verrückteste war, wie er sich dabei fühlte, denn wie bei der Trauerarbeit schien es verschiedene Phasen zu geben, von denen er bereits drei durchlaufen hatte: Verleugnung, Freude und Schmerz. Anfangs war er nur überrascht gewesen, dann hatte er sich darüber gefreut, mittlerweile aber verletzte es ihn. Er hatte eine Weile gebraucht, bis er die Sache durchblickt hatte. Natürlich wusste er, dass er im Grunde für die kleinste Aufmerksamkeit dankbar sein sollte, und das war er zunächst auch gewesen. Aber dann war irgendeine Veränderung eingetreten, und als ihn schließlich sogar Cindy Biraling, die attraktive blonde Sekretärin des Geschäftsführers, zu grüßen begann, war er nicht mehr erfreut, sondern verletzt. Sie war dafür berüchtigt, dass sie selbst Leute ignorierte, die direkt vor ihrem Schreibtisch standen. Immer wenn er im Lauf der Jahre mit Cindy zu tun gehabt hatte, hatte sie ihn nicht nur nach seiner Durchwahl gefragt, sondern sich auch seinen Namen buchstabieren lassen – ein sicheres Anzeichen dafür, dass sie keine Ahnung hatte, wie er hieß. Jetzt aber begrüßte sie ihn mit einem melodischen »Hi, Jonathan«. Das machte ihn wahnsinnig. Warum hatte sie ihn vorher nicht beachtet? Und warum kannte sie jetzt auf einmal seinen Namen?
Doch die neue Magie – und die Stimmung, die damit einherging – reichte nicht aus, um ihm ein Date mit Cindy oder einer anderen Frau aus seiner Firma zu verschaffen. Im Umgang mit den Frauen schien er noch immer genauso einsilbig und verkrampft wie früher. Tracie hatte ihm empfohlen, es mal in einer anderen Umgebung zu versuchen, wo ihn niemand kannte, aber er brachte es nicht über sich, in die Kneipe zu gehen. Zwei Abende hatte er es versucht, es aber einfach nicht geschafft, durch die Tür zu gehen. All die Demütigungen vergangener Dates, das Herumsitzen auf Barhockern und die Abfuhren, die er von Frauen bekommen hatte, schienen ihm wie der Engel vor der Pforte des Paradieses den Zutritt zu versperren.
Und er musste ja nicht einfach nur in die Kneipe hineingehen. Die Tatsache, dass ihn die Frauen im Job plötzlich beachteten, ließ seine frühen traumatischen Misserfolge irgendwie nur noch akuter werden. Es machte ihn einfach nervös, einer wildfremden Frau gegenüberzutreten, um sie aufzureißen, aber ihn schüchterte nicht nur diese Aussicht ein. Er hätte es schon schaffen können, wenn nicht die vielen Phils gewesen wären, die immer ganz locker an der Bar saßen und ihn bei seiner ungeschickten Anmache zu beobachten schienen und sich dabei über seine lächerlichen Sprüche und seine peinlichen Versuche, witzig zu sein, lustig machten. Es war, als könnten die Phils dieser Welt durch seinen neuen schwarzen Sweater und die Levis 501 und die Schuhe, die er trug, einfach hindurchsehen.
Und so bekam er kalte Füße, und das nicht nur im übertragenen Sinne. Jon war zu dem Schluss gelangt, dass er, um Frauen kennen zu lernen, erst einmal einen Ort finden musste, wo ihn niemand kannte und er nicht gegen die Konkurrenz einer ganzen Bande von Phils antreten musste.
Daher die Reisetasche.
Jon hob sie auf. Die Zeitungen füllten sie zwar aus, aber sie war noch immer so leicht, dass er richtig stark wirkte, wenn er sie so lässig und locker zu tragen vermochte. Er zuckte mit den Achseln, wünschte sich selber viel Glück und zog dann die von Tracie ausgesuchte Lammnappajacke an. Er seufzte und versuchte, seine Schuldgefühle zu verdrängen. Die Lämmer waren bereits vor einiger Zeit zur Schlachtbank geführt worden, und nun war wohl er an der Reihe. Er verdiente es nicht besser, weil er sich von Tracie zu der Jacke hatte überreden lassen. Er hatte eiskalte Füße, und auf dem Flughafen würde es bestimmt ganz schön zugig sein. Er wünschte, er könnte ein Paar dicke graue Wollsocken anziehen, aber wenn der Teufel im Detail steckte, mussten seine Zehen eben erfrieren.
Die Türklingel ertönte – sein Taxi war da. Er packte die Reisetasche, schloss die Wohnung hinter sich zu und lief die Treppe hinab und auf die dunkle Straße hinaus.
 
Der Flughafen war nicht sehr voll, und das machte Jon ein wenig Mut. Niemand quasselte ihn an, und auch singende Krishna-Jünger waren nicht in Sicht. Er interpretierte das als gutes Vorzeichen und fuhr gleich mit der Rolltreppe zur Gepäckausgabe. Er überprüfte noch einmal die ankommenden Flüge, obwohl er den seinen schon fest im Visier hatte. Natürlich hätte er ebenso gut ein richtiges Ticket kaufen und sich einfach hinter einer schönen Frau in die Warteschlange einreihen können, um sie anzubaggern, aber er dachte sich, dass viele Leute vor dem Flug nervös waren. Deshalb hielt er es für besser, sich eine auszusuchen, die den Flug bereits hinter sich hatte. Aber das war nicht ganz risikofrei.
Um weniger aufzufallen, hatte er den Taxifahrer gebeten, ihn vor dem Ankunftsbereich abzusetzen, aber der Fahrer hatte gesagt: »Kann ich nicht machen. Sie müssen einchecken und durch die Sicherheitsschleuse hochgehen.« Jon spielte schon mit dem Gedanken, ihm sein Vorhaben zu erklären, doch dann überlegte er es sich anders. Nach dem, was er vom hinteren Teil seiner Frisur und vom Ausschnitt seines Gesichts im Rückspiegel sah, war der Typ zwar nicht unbedingt ein Phil, aber er hätte früher durchaus einer gewesen sein können, bevor er ein paar seiner Zähne verloren hatte. Dem würde er gar nichts erzählen.
Also beäugte er auf dem Weg durch den weitläufigen Gepäckausgabebereich die Passagiere, die gerade mit Flug 611 aus Tacoma gekommen waren. Tacoma war nett. Sein Onkel und seine Tante lebten da. Wenn eine Frau geschäftlich oder zu einem Familienbesuch in Tacoma gewesen war, dann, so stellte er sich vor, könnte sie eine angenehme Gesprächspartnerin sein. Wenn sie natürlich mit ihrem Mann in Tacoma lebte und nur hier war, um ihre Mutter zu besuchen, wäre das weniger gut. Er überflog die Menge. Woran erkannte man das nur? Die DC10 bot zweihundertachtzig Passagieren Platz. Wenigstens einer von ihnen musste doch weiblich, attraktiv und single sein. Ein ganz anderes Problem würde es bedeuten herauszufinden, ob sie noch zu haben war. Er sah eine Blondine, doch die war ein wenig zu schlank, zu groß und zu hübsch. Die Art, wie sie den Kopf bewegte und ihr Haar herumwarf wie Tausende von Seidenfäden, vermittelte ihm das Gefühl, als ob sie es nur tat, um die Blicke anderer auf sich zu lenken. Wahrscheinlich spielte sie mit dem Gedanken, nach L.A. zu ziehen; die war eine Stufe zu hoch für ihn.
Als Nächstes machte er einen Rotschopf mit Locken aus, die so lebendig wirkten, als hätte sie ein Profi verstrubbelt. Vielleicht war dem ja so. Vermutlich legten die Leute für so etwas Geld hin. Jedenfalls sah die Frau süß aus, und das reichte schließlich. Na denn, auf geht’s, sagte er sich. Statt den Hut in den Ring warf er seine Tasche aufs Förderband, ging so lässig wie nur irgend möglich herum und überlegte, was er zu einer wildfremden Frau sagen konnte.
Erst als er fast schon neben ihr stand und freien Blick auf ihre mittlere Region hatte, erkannte er, dass sie sehr, sehr schwanger war. Offenbar hatte sie auch jemand anderem gefallen. So viel zu diesem Plan.
Nachdem ihm die Blonde zu hoch und der Rotschopf zu schwanger war, blieben ihm nicht mehr allzu viele Möglichkeiten. Er betrachtete die Menschenmenge. Die Großmütter mit einem Spielzeug unterm Arm interessierten ihn ebenso wenig wie die entnervten Mütter mit Kindern im Schlepptau, Kindern, die nach der Enge im Flugzeug nun kaum mehr zu bändigen waren. Alle anderen Passagiere schienen männlich zu sein – mit Ausnahme einer Person, die weit größer war als er und seidene Pyjamahosen und ein Brooks-Brothers-artiges Baumwollhemd trug. Es hätte ein Mann sein können, es hätte auch eine Frau sein können. Oder jemand, der gerade dabei war, sich von einem ins andere zu verwandeln. Da Jon jedoch nie auch nur den leisesten Wunsch verspürt hatte, die berühmte Szene aus The Crying Game nachzuspielen, dachte er sich, er hätte genug eigene Probleme, und begann allmählich zu verzweifeln.
Als er den Blick vom Gepäckband abwendete, begann er schlappzumachen, ein Zustand, der bei ihm immer die totale Niederlage einläutete. Da bemerkte er die junge Frau, die am Gepäckband nebenan stand. Er hielt den Atem an. Vielleicht musste er sich doch noch nicht geschlagen zurückziehen. Ein Sonnenstrahl – im grauen Seattle eine Rarität – illuminierte sie, als wäre sie Teil eines mittelalterlichen Manuskripts. Sie war absolut vollkommen. Irgendwie erinnerte sie ihn an jemanden. Es war nicht das feine, hellbraune Haar, das ihr bis knapp über die Ohren reichte, oder ihr Profil, das, wie er feststellen konnte, den allerbesten Kameenschnitzer verdient hätte. Es war etwas an der Art, wie sie die Schultern straffte, an ihrer ganzen Haltung, was ihn spontan zu ihr hinzog. Tracie würde genauso dastehen, wenn sie auf Gepäck wartete. Sein Herz tat einen Sprung, aber nur einen.
Denn die Frau – sie war vielleicht ein, zwei Jahre älter als er, älter aber nicht – kam offenbar aus dem Flugzeug von San Francisco. Das war eine ganz andere Kategorie von Passagier. Stammt sie aus San Francisco und war nur zu Besuch hier, dann war sie höchstwahrscheinlich viel zu cool für ihn. Stammte sie andererseits aus Seattle und war nur für einen Urlaub in San Francisco gewesen, hatte er womöglich eine Chance. Falls sie aber jetzt in Seattle wohnte, aber in San Francisco aufgewachsen war und soeben von einem Besuch bei ihrer Familie zurückkam, dann...
Jon zwang sich, mit diesem Unsinn aufzuhören. Er bewies damit nur, dass es schon irgendeinen Weg gäbe, auf den er verfallen könnte, um nicht das tun zu müssen, wovor er sich am meisten fürchtete. Er schaute die Frau noch einmal an. Sie war wirklich schön. »Die ist es«, murmelte er laut. »Jetzt aber ran.«
Er versuchte, lässig wie James Dean zu gehen, und schlich sich, unbelastet von Gepäck oder Hüfttasche, an die Schöne ran. Sie bemerkte ihn überhaupt nicht; ihr ganzes Gewicht schien auf der linken Hüfte zu ruhen, während sie mit dem rechten Fuß auf den Boden trommelte. Nicht, dass dies ein Zeichen von Ungeduld gewesen wäre; es war eher eine Art Stretching-Übung, die sie mit ihrem bezaubernden Fuß vollführte. Als er sie näher betrachtete, fiel ihm auf, dass einfach alles an ihr bezaubernd war, vom Kopf bis zu ihren rastlosen Zehen. Zeitgleich verspürte Jon ein lustvolles Ziehen in der Lendengegend und ein ungutes Gefühl in der Magengrube. Das ist eine gefährliche körperliche Arbeit, sagte er sich, und bevor er in Schweiß ausbrach und das Armani-T-Shirt ruinierte, das er auf Tracies Rat hin gekauft hatte, stellte er sich unmittelbar hinter die Schöne. Unter Einsatz seiner gesamten Willenskraft zwang er sich, sie nicht anzusehen, sondern wie jeder andere stieren Blicks auf das leere Förderband zu starren.
Er versuchte, langsam bis hundert zu zählen, geriet aber bei siebenundsechzig ins Stocken. Und wenn ihr Koffer jetzt kam? Er räusperte sich. »Kommt mir das nur so vor, oder wartet man tatsächlich länger aufs Gepäck, als der Flug von San Francisco nach Seattle dauert?«, fragte er laut. Na ja, das war zwar nicht die originellste Eröffnung, aber wenigstens hatte er nicht nach der Uhrzeit gefragt. Die Schöne dreht sich zu ihm um, sodass er sie nun im Profil sehen konnte. Ihre Nase war lang und ein klein wenig unregelmäßig geformt, was sie in seinen Augen nur noch niedlicher wirken ließ. Ihre Haut war porzellanweiß. Aus der kurzen Entfernung konnte Jon winzige Sommersprossen über ihren Wangenknochen und auf dem Rücken ihrer gebogenen Nase erkennen. Das alles hatte etwas sehr Delikates an sich. Nun schaute sie einen Augenblick lang in seine Richtung. Dann lächelte sie.
»Es kommt einem wirklich wie eine Ewigkeit vor«, pflichtete sie ihm bei.
Ihre Stimme war wie Wasser, das über Steine plätschert, wie aneinander klingende Champagnerflöten. Jon genehmigte sich einen weiteren kurzen Blick und riss sich dann von ihr los, wobei er daran dachte, nicht zu lächeln. Er verlagerte das Gewicht, zog den Bauch ein, streckte das Becken vor und verschränkte die Arme über der Brust. Dann aber wusste er nicht mehr, was er als Nächstes tun oder sagen sollte. Die James-Dean-Pose war ja kein übler Anfang, aber die Schöne sah ihn nun mit einem erwartungsvollen – oder auch nur toleranten – Lächeln an. Die Warterei machte sie allmählich sichtlich nervös.
Aber was kam als Nächstes? Er konnte ihr anbieten, sie in die Stadt mitzunehmen. Wenn er doch nur ein Motorrad hätte. Er seufzte. Tracie hatte wie immer Recht gehabt. Na ja. Er zermarterte sich das Hirn. Was konnte er nur sagen?
In diesem Augenblick läutete eine Glocke, und das Förderband setzte sich in Bewegung. Ein etwa drei oder vier Jahre alter Junge bewegte sich mit. Er war zuerst über den schmutzigen Fußboden gekrabbelt und dann auf das Band. Im ersten Augenblick war er offenbar hingerissen, doch als das Band ihn immer weiter von seiner Mutter wegtrug, war er nur noch mitgerissen. Er öffnete den Mund und stieß ein Angstgebrüll aus, das man einem so winzigen Mund nie zugetraut hätte.
»Das ist der Kleine aus dem Flugzeug«, sagte die Schöne. Kurz bevor der Junge an ihm vorbeirollte, schritt Jon zur Tat. Er beugte sich vor, hob den kleinen Jungen vom Band und stellte ihn seiner Mutter vor die Füße. Leider brachte seine Rettung den Kleinen nicht dazu, sein Geschrei einzustellen. Er brüllte sogar noch lauter, bis sein Gesicht ganz rot anlief. Die Schöne ging ebenso auf Abstand wie die anderen Umstehenden, Jon war ratlos. Er überlegte sich schon, ob er den Knirps nicht einfach wieder hochnehmen sollte, aber der Junge war total verdreckt. »Lass den Scheiß, Josh«, sagte die Mutter des Jungen, packte den armen Kerl an der linken Hand, riss ihn am Arm und zerrte ihn weg, ohne sich bei Jon zu bedanken.
Die Schöne und die anderen Passagiere kamen wie eine hereinschwappende Flutwelle zurück, und sie blickte zu ihm auf. Sie hatte graue Augen – Jons Lieblingsfarbe -, und obwohl sie ein winziges Bisschen zu tief lagen, um als absolut vollkommen zu gelten, waren sie doch außergewöhnlich schön. Aber Tracie hatte ihm verboten, einer Frau Komplimente wegen ihrer Augen zu machen, und so ließ er es bleiben.
»Sie hat sich nicht einmal bedankt«, sagte die Schöne, und auf ihrem hübschen Gesicht zeichnete sich eher Überraschung als Entrüstung ab.
»Nein, aber irgendwann wird sie mich sicher für ein Stipendium der MacArthur-Stiftung vorschlagen«, witzelte Jon in der Hoffnung, dass die grauen Augen ihn nicht gleich mit demselben ausdruckslosen Blick bedachten, mit dem die Leute ihn meistens anschauten, wenn er diese Art von Scherzen machte. Stattdessen lachte sie. Sie lachte! Vielleicht war es ja leichter, als er geglaubt hatte. Vielleicht musste man ja nur mit der richtigen Second-Hand-Jacke zur rechten Zeit am rechten Ort auftauchen.
Jetzt polterten Taschen und Koffer aller Art auf das Band. Erst in diesem Augenblick dämmerte Jon, welche Folgen der Umstand nach sich zog, dass sein Gepäck auf dem falschen Förderband lag. Nun, dann würde er eben einfach so tun, als ob es verschwunden wäre. Das passierte schließlich alle Tage. Vielleicht hatte die Schöne dann Mitleid mit ihm – oder er stand da wie ein Volltrottel.
Hektisch überlegte er, was wohl ein James Dean beim Verlust seines Gepäcks tun würde, aber keiner seiner Filme lieferte auch nur den geringsten Hinweis darauf, ob ihm das je passieren könnte oder was James in so einem Fall tun würde. Einen kurzen Moment spürte Jon einen Anflug von Verbitterung. Was nützte einem der Unterricht, wenn man hinterher zwar wusste, wie man zu reagieren hatte, wenn der Salat verfault war, nicht aber, wenn einem das Fluggepäck abhanden kam?
Verzweifelt überlegte er, was er der Schönen noch alles sagen konnte. Sie nach ihrem Namen zu fragen war sicherlich verfrüht. Im Augenblick schien sich ohnehin jeder nur für sein Gepäck zu interessieren. Die Gepäckstücke ließen sich in zwei Kategorien einteilen – schwarz und von anderen schwarzen Stücken nicht zu unterscheiden oder Teil einer kunterbunten Kollektion aller erdenklichen Taschen in schrillen Farben, mit Aufklebern, die im Dunklen leuchteten, oder mit Klebeband gekennzeichnet, damit ihre Besitzer sie auf den ersten Blick von den unzähligen anderen unterscheiden konnte. Als ob das nötig gewesen wäre.
Was sollte er tun? Ihr beim Tragen helfen! Er schaute die Schöne aus den Augenwinkeln heraus an und versuchte, sich ihr Gepäck vorzustellen. Sie würde ganz bestimmt keine schäbigen avocadogrünen Hartschalenkoffer mit Kreuzchen aus pinkfarbenem Perlmutt-Nagellack an der Seite haben. Er schüttelte den Kopf, als dieser Koffer an ihm vorbeirollte, und dann geschah ein Wunder: Sie sprach. »Ist das nicht grauenhaft?«, fragte sie. »Ich meine, was manche Leute so als Gepäck benutzen.«
Vor Verwunderung vergaß er ganz, ihr zu antworten. Er war viel zu beschäftigt mit der Vorstellung, dass sie ihn tatsächlich sympathisch finden könnte. Sie hatte etwas zu ihm gesagt. Und sie hatte auch noch einen Gedanken ausgesprochen, den er Sekundenbruchteile zuvor selbst gehabt hatte. Vielleicht lag hier eine echte Möglichkeit. Nun ja, es wäre sinnlos, die Hochzeitseinladungen zu verschicken, ehe ihm darauf eine Antwort einfiel.
»Ihre Taschen sind so hässlich wie die Sächelchen, die sie anhaben«, sagte er.
Du lieber Himmel. Sächelchen? Wer um alles in der Welt nahm ein Wort wie Sächelchen in den Mund? Doch höchstens Männer im Smoking, Typen, die Ascotkrawatten trugen und »alter Knabe« zueinander sagten. Das musste er ihr jetzt erklären...
»Ja, das stimmt. Meine Mutter sagt immer, dass das Fliegen früher bedeutend mehr Stil hatte. Damals zogen die Leute dazu ihre besten Sachen an, können Sie sich das vorstellen? Haben Sie gesehen, in welcher Aufmachung diese Mutter rumlief, deren Kind schlecht geworden ist?«, fragte sie, bevor sie innehielt. »Ach nein, sicher nicht. Sie waren bestimmt in der ersten Klasse, nicht wahr?«
Das war ja unglaublich! Da gab sie ihm doch tatsächlich zu verstehen, dass er gut aussah, und sie quatschte ihn an. Wie war das nur möglich? War es immer schon so einfach gewesen, und er hatte es nur nicht gewusst und auch nicht die richtige Ausrüstung gehabt? Machten eine Lederjacke und Blasen an den Fersen tatsächlich den Unterschied aus? Wenn ja, war das ein paar Blasen wert.
Mit gestärktem Selbstvertrauen nahm Jon eine, wie er meinte, coolere Haltung ein. »Gesehen habe ich es nicht, aber ich habe etwas Säuerliches gerochen«, erklärte er.
Er griff in die Tasche und holte Tick, Trick und Track heraus. »Wie wär’s mit einem Pez?«, fragte er.
Sie lachte, schüttelte aber den Kopf. »Sie sind mir ja lustig. Leben Sie hier, oder sind Sie nur geschäftlich in der Stadt?«
Sein Traum war wahr geworden, doch wie sollte er die Frage beantworten? Zwar hatte er die Frage erwartet, aber sollte er nun lügen und ihr erklären, dass er nur auf Durchreise sei? Oder ihr die Wahrheit sagen und sich als Einheimischer zu erkennen geben? Und was sollte er mit seiner Tasche auf dem anderen Band machen? »Ich bin hier auf Talentsuche«, sagte er und schämte sich im selben Augenblick für die wenig überzeugende Lüge.
Sie aber schien das weder merkwürdig zu finden, noch für eine Lüge zu halten. »Echt wahr? Ich bin wegen Fotoaufnahmen für Micro/Con hier«, vertraute sie ihm an. »Sie wollen richtig scharfe Bilder von ihren neuen Motherboards.«
Heiliger Strohsack! »Könnten Sie mir vielleicht ein paar Fotos zeigen? Vielleicht kann ich Ihnen helfen«, sagte er.
»Geben Sie mir doch einfach Ihre Nummer, und wenn ich ausgepackt habe, lasse ich Ihnen eine Mappe zukommen.«
»Klar.« Jon konnte kaum glauben, wie einfach das war. Sie wollte seine Telefonnummer! Na schön, sie ging von einer falschen Annahme aus, aber was soll’s! »Haben Sie was zum Schreiben?«
Die Schöne wühlte in ihrer Tasche und fand schließlich einen Kugelschreiber, aber kein Papier. »Hier«, sagte sie und hielt ihm ihre Handfläche hin. »Schreiben Sie’s einfach da drauf.«
Wow! Hätte es besser laufen können? Jon nahm ihre Hand, und als er sie berührte, lief ihm ein Schauder den Rücken herunter. Ganz ruhig, sagte er sich. Er schrieb seine Nummer auf und schloss ihre Finger darum. »Aber nicht verlieren«, scherzte er, während er langsam seinen Griff um ihre Hand lockerte.
»War aber auch höchste Zeit«, sagte sie, und Jon fragte sich schon, ob sie damit etwa andeuten wollte, dass er sich zu lahm angestellt hatte. Dann trat sie auf ihn zu. Junge, die geht aber ran, dachte er, aber sie schritt an ihm vorbei und streckte die Hand aus. Erst da bemerkte Jon, dass sie auf ihre Tasche aus war.
»Lassen Sie mich das machen«, sagte er. Die Chance konnte er sich nicht entgehen lassen. Wunderbar – sie würde ihre Tasche bekommen, mit seiner Nummer abziehen und überhaupt nicht mitbekommen, dass sein Gepäck auf dem falschen Band lag. Er packte die Tasche am Griff, warf einen schnellen Blick auf das Namensschildchen und wollte sie schon von der Gummimatte heben, als er merkte, dass er soeben im Begriff war, gegen sämtliche Regeln zu verstoßen. Was hatte Tracie ihm einzubläuen versucht? Nehmen, nicht geben. Das war das Verhalten des alten Jon. Rasch ließ er die Tasche los, als wäre ihr Griff brennend heiß. Die Schöne – laut Gepäckanhänger hieß sie Carole Revere – blickte ihn leicht überrascht an. »Tut mir Leid, Carole, ich hab einen Krampf in den Fingern«, versuchte er sich herauszureden. Die Tasche war halb auf, halb neben dem Band und bewegte sich weiter. Sie warf ihm einen sonderbaren Blick zu und holte die Reisetasche selbst vom Band.
Dann stand sie einfach nur da, die Tasche in der Hand. Worauf wartete sie noch? Er hatte sich dafür entschuldigt, dass er die Tasche hatte fallen lassen. Was konnte er jetzt noch tun? Er musste wohl etwas belämmert dreingeschaut haben, denn die Schöne erklärte: »Ich habe zwei Taschen.«
»Ah«, sagte Jon und lächelte sie an. »Ich glaube allmählich, mein Gepäck kommt überhaupt nicht mehr.« Früher oder später hätte sie ohnehin bemerkt, dass er ohne Koffer war. Was konnte er nur sagen? Die Leute vom Flug aus Tacoma wurden immer weniger. Dann rang er sich ein Lachen ab. »Wäre es nicht ein merkwürdiger Zufall, wenn unsere Gepäckstücke beide verloren gegangen wären?«, fragte er. »Dann wären wir verwandte Seelen.« Hoppla, dachte Jon, damit bin ich vielleicht zu weit gegangen. War das schon zu freundlich gewesen? Hatte ihm Tracie nicht erklärt, dass er die Frauen dazu bringen sollte, ihn zu wollen, statt durchblicken zu lassen, dass er sie wollte? Wenn er vom Gesichtsausdruck der Schönen ausging, schien er sich bisher aber wacker zu halten. Vermassel das bloß nicht, sagte er sich, aber das machte ihn nur noch nervöser. Ganz ruhig bleiben, ermahnte er sich streng. Dann schaute er sie noch einmal an. Mann, war die schön.
»Vielleicht sind unsere Taschen ja beschlagnahmt worden, und sie durchsuchen sie nach Waffen«, meinte er. Mein Gott, klang das blöde. Was würde sie jetzt bloß von ihm halten? Er versuchte doch nur, witzig zu sein. »Sie wissen schon, wie bei Ted Kaczynski oder so.« Aber diesmal lächelte sie nicht. Vielleicht wusste sie nicht, wer das war. »Der Unabomber.« Sie nickte, und er lachte erleichtert auf.
»Warum sollten sie unser Gepäck durchsuchen«, fragte sie nüchtern.
Genau, warum eigentlich? Was für eine dämliche Bemerkung. Er war übergeschnappt und auf dem besten Weg, die Sache zu vermasseln. Er musste sie beruhigen, geriet aber in Panik. »Wer weiß, was denen alles einfällt, stimmt’s? Aber für eines kann ich garantieren – in meinem Gepäck finden sie garantiert keine Schreibmaschine. Der Unabomber wäre nie ohne das Ding verreist.« Er versuchte zu lachen. »Meine Tasche ist garantiert schreibmaschinenfrei. Sie ist so leicht, dass man glatt meinen könnte, sie wäre mit Papier ausgestopft.«
O nein. Es wurde immer schlimmer. Jon hätte am liebsten losgeheult, versuchte aber, sich nichts anmerken zu lassen. Aus den Augenwinkeln sah er erneut seine Tasche, die schwarz und ominös, einsam und allein auf dem benachbarten Gepäckband rotierte. Er spürte, wie ihm unter den Achseln und auf der Oberlippe der Schweiß ausbrach. Na wunderbar. Jetzt sah er wahrscheinlich aus wie Albert Brooks in Nachrichtenfieber. Angstschweiß. Alle Versager haben Angst.
Jon schaute wieder zu der Schönen hinüber, deren Gesicht sich irgendwie zusammengezogen hatte, als wollten Augenbrauen, Nase, Augen und Mund sich in der Mitte des Gesichts in Sicherheit bringen. »Nicht dass meine Tasche mit Zeitungspapier ausgestopft wäre«, versicherte ihr Jon. »Sie hat ein ganz normales Gewicht. Genau genommen ist sie sogar schwerer als normal. Und außerdem könnte ich gar nicht der Unabomber sein. Ich meine, sie haben ihn ja erwischt. Meine Tasche ist nicht so schwer, weil ich keine Waffen oder Ähnliches drin habe.« Er lachte wieder, um seine abgrundtiefe Verlegenheit zu überspielen. Vielleicht konnte ihn ja ein Scherz retten. »Bei dieser Reise habe ich nämlich beschlossen, meine Waffen ausnahmsweise mal zu Hause zu lassen.«
Die Schöne wandte den Blick zum Gepäckband. Sie ließ Jon stehen, und er wusste, dass er zu weit gegangen war. Dann aber sah er, wie sie nach ihrer zweiten Tasche griff, und – o Wunder! – mit ihr zu ihm zurückkam. Seine Erleichterung war grenzenlos.
Doch das Gesicht der Schönen hatte sich erneut verändert. Jetzt wirkte es verschlossen und distanziert, und es war wieder das Gesicht einer Fremden. Ihre Augen wanderten unruhig hin und her; es waren die Augen einer nervösen Fremden. Ja. Er hatte alles kaputt gemacht.
»Ich muss jetzt gehen«, sagte sie unterkühlt. »Ich ruf Sie dann an. Und ich hoffe, Sie finden Ihr Gepäck noch.«