22. Kapitel
Eine Kellnerin stand am Tisch und schaute Jon und
Beth erwartungsvoll an. Sie musste mindestens hundertzehn Jahre alt
sein; jedenfalls sah sie aus wie eine jener Frauen, die arbeiten,
bis sie tot umfallen.
Die beiden waren im Merchants Café, dem ältesten
Restaurant von Seattle, und die Kellnerin war vermutlich noch um
einiges älter. Jon war nervös, aber bislang hatte er es wenigstens
noch nicht vermasselt. Bevor er seinen Arbeitsplatz verließ, hatte
er schnell noch einmal Tracie angerufen, um mit ihr ein letztes Mal
alles durchzugehen. Sie wollte alles aus sicherer Entfernung mit
ansehen, um notfalls helfend eingreifen zu können. Er war fest
entschlossen, alles perfekt zu machen; er wollte die richtigen
Worte sagen, das passende Kompliment machen und jede Anspielung auf
seine Essgewohnheiten vermeiden. Er wollte kein Gepäck mit sich
herumschleppen und nicht an Felswänden herumhängen.
Doch als er dann in Beth’ hübsches Gesicht schaute,
vermengten sich alle die guten Ratschläge in seinem Kopf zu einer
chaotischen Mixtur. Einen Moment lang war er traurig und fragte
sich, was das ganze Versteckspiel eigentlich sollte. Das alles
vergrößerte doch nur die Kluft zwischen ihnen. Aber er musste
zugeben, dass Beth wirklich süß war, und sie sah ihn so
interessiert an wie schon lang keine Frau mehr. Er sagte sich, dass
er nun eben die Zähne zusammenbeißen müsse. Er war fest
entschlossen, alle richtigen Strippen zu ziehen.
Die Kellnerin, die noch immer vergeblich auf ihre
Bestellung wartete, tappte schon ungeduldig mit dem Fuß auf den
Boden. Jon erinnerte sich dunkel daran, dass er etwas ganz
Bestimmtes
tun sollte, wenn Beth ihre Wahl auf der Speisekarte traf.
Verzweifelt kramte er in seinem Gedächtnis, aber es wollte ihm
einfach nicht einfallen. War es was mit Kalbfleisch? Nein. Fast
wäre er schon in Panik geraten, doch plötzlich wusste er es wieder.
Er musste abwarten, was sie wählte.
»Ich nehme die Seezunge«, wandte sich Beth an die
Kellnerin.
»Sind Sie auch ganz sicher, dass Sie das wollen?«,
fragte Jon, stolz darauf, dass es ihm noch rechtzeitig eingefallen
war.
»Warum? Ist der Fisch hier nicht frisch?« Beth war
erstaunt.
Moment mal. Das war in seiner Lektion nicht
vorgekommen. Zu spät wurde ihm klar, dass die Frau in Tracies
fiktivem Szenario etwas sehr Kalorienreiches bestellt hatte.
»Wir bekommen unseren Fisch jeden Tag frisch
geliefert«, sagte die Kellnerin feindselig, als wäre es eine
persönliche Beleidigung, ihren Fisch in Frage zu stellen.
»Das habe ich nicht bezweifelt; tut mir Leid«,
entschuldigte sich Jon. Er hatte das Merchant’s Café nicht
beleidigen wollen. Was sollte er jetzt bloß tun? Nach kurzem Zögern
sagte er: »Äh, ich nehme auch die Seezunge.« Er mochte Seezunge
nicht besonders, aber es war eine versöhnliche Geste. Zumindest
hoffte er das.
»Sie wird mit Salat serviert. Möchten Sie
Kartoffeln oder Reis?« Kommentarlos nahm die Kellnerin die
restliche Bestellung auf, bevor sie kopfschüttelnd davontrottete.
Beth schaute ihn verwundert an.
»Sie sind ja witzig. Erst warnen Sie mich vor dem
Fisch, und dann bestellen Sie selber welchen.«
Jon zuckte mit den Achseln. Na schön, in dem Punkt
hatte er Mist gebaut, aber alles Weitere würde er nun richtig
machen. Er überlegte, was James Dean an seiner Stelle getan hätte.
Die Seezunge hätte er wahrscheinlich nicht bestellt. Was hatte
Tracie ihm nur beigebracht? Er schaute Beth an. Sie hatte schöne
dunkle Augen mit noch dunkleren Wimpern, aber dann fiel ihm wieder
ein, dass er ihr das nicht sagen durfte. Als dann die Kellnerin
wieder an ihren Tisch kam und ihnen den Salat brachte, legte
Jon seine Hand auf die der alten Frau, um sie aufzuhalten. Dann
sah er Beth an und sagte zu ihr: »Hat sie nicht wunderschöne
Augen?«
Doch kaum hatte er das gesagt, erkannte er
plötzlich zu seinem Unbehagen, dass man die Augen der Kellnerin
beim besten Willen nicht als schön bezeichnen konnte. Unter den
Falten ihres runzligen Gesichts begraben, waren sie so gut wie
unsichtbar.
»O ja, wirklich wahr«, pflichtete Beth ihm bei,
vermutlich, um der Frau eine Freude zu machen. Oder weil sie
dachte, dass Jon nett sein wollte.
»Danke«, antwortete die Kellnerin. Jon war es zwar
nicht gelungen, Beth eifersüchtig zu machen, aber immerhin hatte er
die Beleidigung mit dem Fisch wieder wettgemacht. Doch was nun? Das
war alles wirklich furchtbar kompliziert. Er seufzte. Sobald die
Kellnerin abgezogen war, begann er, etwas zu sagen, hatte aber auch
Angst vor dem großen Schweigen.
»Das war aber lieb von Ihnen«, sagte Beth in genau
dem Ton, den er schon sein ganzes Leben lang zu hören bekam. »Sie
sind ein richtig netter Kerl.«
»Nein, das bin ich nicht«, sagte Jon entschiedener
als beabsichtigt. Beth blinzelte mit den Augen, über die er
keinerlei Kommentar abgeben sollte. Na super. Als nächstes fing er
noch an von Koffern und dem Unabomber zu schwafeln, und sie rannte
schreiend aus dem Lokal. Reiß dich zusammen, ermahnte er sich. Beth
sagte etwas über das Restaurant, und er musste aus seinen
Grübeleien auftauchen und etwas antworten. »Sind Sie in Seattle
aufgewachsen?«, brachte er gerade noch heraus. Gott, war das
einfallslos, aber so sorgte er wenigstens dafür, dass das Gespräch
nicht abriss. Sie erzählte von allen Städten, in denen sie schon
mal gelebt hatte, aber er wurde abgelenkt: Aus dem Augenwinkel
beobachtete er nämlich, wie Tracie und Phil hereinkamen und zu
einem Tisch am anderen Ende des Restaurants gingen. O nein, dachte
er – sie hatte ihm zwar gesagt, sie würde für ihn da sein, aber
dass Phil sie begleiten könnte, hatte er irgendwie nicht auf der
Rechnung gehabt.
Dabei war eigentlich klar gewesen, dass sie nicht
allein kommen würde, und immer noch besser mit Phil – so verhasst
er ihm auch war – als mit Laura. Falls er die Sache hier
vermasselte, wollte er nicht, dass die Frau, die er aus Versehen
angebaggert hatte, auch noch zusah, wie er mit Pauken und Trompeten
unterging.
Tracie ließ den Blick durch das Lokal schweifen,
entdeckte ihn und winkte ihm diskret zu. Dann nahm sie Platz, mit
dem Rücken zu Beth und Jon. Plötzlich merkte Jon, das Beth eine
Frage stellte.
»Häh?«, fragte er wie der letzte Holzkopf.
»Was für eine Marke fahren Sie eigentlich?«,
wiederholte sie.
»Ein Schwinn... äh... würden Sie mich einen
Augenblick entschuldigen?«, fragte er, als sie lachte.
»Aber natürlich, Jonny«, erklärte sie. Er biss die
Zähne zusammen; er hasste diesen blöden Namen. Dann stand er auf
und wollte auf Tracies Tisch zugehen, aber Beth unterbrach ihn.
»Ich glaube, zur Herrentoilette geht’s da lang«, sagte sie.
»Oh, danke. Ja, richtig.« Er ging in die Richtung,
in die Beth zeigte, bis es ihm gelang, sich einen Augenblick im
Flur zu verstecken und kehrtzumachen. Er duckte sich und rannte zu
Tracies Tisch, wo er zwischen Tracie und Phil den Kopf hochreckte.
Er würde Phil einfach ignorieren. Diesen Phil und all die anderen
scharfen Phils dieser Welt. Jon konzentrierte sich auf
Tracie.
Aber er konnte Phil nicht einfach ignorieren, denn
als er seinen Kopf auf Phils Augenhöhe schob, wäre dieser vor
gespieltem Erstaunen fast nach hinten umgekippt. Nur gut, dass er
gerade nichts im Mund hatte. Obwohl Jon nicht zum Scherzen zu Mute
war, musste er sich wohl oder übel auf die eine oder andere
Beleidigung gefasst machen.
»Boaaah! Ist das Jonny?« Jon sparte sich die
Antwort, aber Phil machte auch ohne weiter. »Mann, Tracie, der
sieht aber gut aus. Ich meine, für seine Verhältnisse sieht er echt
gut aus! Vielleicht ein wenig verkleidet...«
Jon beschloss erneut, ihn einfach zu ignorieren.
»Es läuft total schief«, erklärte er Tracie.
»Ach, tatsächlich?«, erwiderte sie sarkastisch.
»Könnte das vielleicht damit zu tun haben, dass du ihr dein Bic vor
die Nase gehalten hast?«
»Das war kein Bic, sondern ein Pez.«
»Das ist natürlich was ganz anderes«, meinte
Tracie, aber ihr Sarkasmus entging ihm.
»Okay, okay. Ich weiß ja, dass ich Mist gebaut hab,
aber wie soll ich das jetzt wieder hinbiegen?«
»Woher weißt du, dass das überhaupt nötig
ist?«
»Sie hat gesagt, dass sie mich nett findet.«
Phil lachte. »War ja wohl klar«, meinte er
höhnisch, »einem Computerheini kann man vielleicht den Computer
austreiben, aber nicht den Heini.«
»Vielen Dank«, fauchte Jon.
»Und was hat sie genau gesagt?«, erkundigte sich
Tracie.
»Sie hat gesagt, ich wär ein ›netter Kerl‹.«
Phil lachte. »Scheiße«, entfuhr es Tracie. Da sie
nur äußerst selten Fäkalsprache benutzte, wusste Jon, dass die Lage
genauso verfahren war, wie er befürchtet hatte. Er hatte versucht,
seinen Teil beizutragen. Er hatte versucht, sich an ihre
Anweisungen zu halten. Er hatte es wirklich versucht. Die Frisur,
die Kleidung, das Restaurant, das, was er sagen, und das, was er
nicht sagen sollte – er hatte sein Bestes getan, aber es
funktionierte trotzdem nicht. Vielleicht sollte er es besser mit
einer Karriere im Kloster versuchen.
Trotz seiner Nervosität merkte er, dass er ins
Schwafeln geriet, aber er konnte nicht mehr aufhören. »Und sie hat
nicht Kalbsschnitzel in Käserahmsoße bestellt, die Kellnerin ist
älter als meine Oma, und als ich die Show mit den schönen Augen
abgezogen habe, fand sie mich einfach nur lieb.« Er schlug mit der
Faust auf den Tisch. »Warum halten die mich bloß immer für
lieb?«
Tracie versuchte, ihn zu beruhigen. »Reg dich ab.
Keine Sorge.
Die werden schon noch merken, wie herzlos du sein kannst. Das ist
schließlich dein erster Versuch. Betrachte es einfach als Übung.
Hast du den Trick mit der Telefonnummer schon gebracht?«
»Was für einen Trick?«
Tracie schaute erst Phil und dann wieder Jon an.
»Der, von dem ich dir erzählt hab«, sagte sie nur. Sie nahm seine
Hand und schrieb mit dem Finger drauf.
»Ach so, ja«, sagte Jon. »Ja, ich meine nein, aber
ich mach es noch.« Widerwillig wandte er sich Phil zu, der sich,
wenn er schon unbedingt Zeuge seiner Niederlage werden musste,
wenigstens nützlich machen konnte. »Übrigens Phil, da fällt mir ein
– fährst du eine Yamaha?«
Phil schaute ihn angewidert an. »Nein, ich spiele
eine Yamaha. Ich fahre eine Suzuki.«
Da Jon zurückmusste, hatte er leider nicht die Zeit
für eine rotzige Antwort. »Super. Danke«, sagte er nur, bevor er
geduckt in den Korridor zurückhastete. Dort stand er auf und
schaute sich nach einer Frau um, die er ansprechen konnte, bevor er
sich die Nummer auf die Hand schrieb. Aber es war weit und breit
keine Frau in Sicht, und selbst wenn, hätte Beth ihn ohnehin nicht
sehen können. Aber er musste etwas tun, und so nahm er einfach
einen Kugelschreiber und schrieb sich eine Telefonnummer auf die
Hand. Mit einem Gang wie James Dean in Giganten stolzierte
er zu seinem Tisch zurück, wo bereits der Fisch wartete.
»Ich hab schon mal angefangen«, entschuldigte sich
Beth. »Ich hoffe, Sie finden das nicht ungezogen.«
»Aber nein, überhaupt nicht.« Er griff nach der
Remoulade und hätte sie fast umgeworfen. Beth fing sie gerade noch
auf und hielt kurz seine Hand. »Oh. Danke«, sagte er.
Beth errötete und senkte den Blick. Dann fiel ihr
seine Hand auf. »Ist das nicht Tracies Telefonnummer?«, fragte
sie.
Verdammt noch mal! »Aah... ja. Ich vergesse sie
manchmal«, sagte er, so lässig er konnte. Hier war wohl ein
Themenwechsel
angebracht. »Also, um Ihre Frage zu beantworten: Ich fahre eine
Suzuki.«
»Eine 750er?«, fragte sie, während sie sich ein
Stück Endiviensalat in den Mund schob.
Ihr Mund war sehr sexy. Sie hatte einen richtigen
Schmollmund oder wie solche vollen Lippen in den
Frauenzeitschriften genannt wurden. Sie trug einen sehr roten
Lippenstift, und aus irgendeinem Grund regte sich etwas in Jons
Schoß. »Äh … ja.«
»Ich hab gar nicht gewusst, dass Suzuki eine 750er
baut. Mein Bruder hat mal’ne Harley gefahren.« Sie aß den Rest von
ihrem Fisch. »Er sagt, die japanischen Motorräder sind lauter
Schrott.«
»Das kommt mir ein bisschen nationalistisch
vor.«
Er schaute auf seinen eigenen Fisch. Er war kalt,
und er hatte ihn sowieso nie gewollt.
»Schmeckt Ihnen Ihr Fisch nicht, Jonny?«
Mein Gott! Immer wenn sie ihn so nannte, dachte er,
sie meine jemand anderen. »Äh... ja. Das heißt, nein. Eigentlich
nicht«, gestand er. »Ich hab ihn nur bestellt, weil Sie ihn
bestellt haben. Aber glauben Sie deswegen bloß nicht, ich wäre
Vegetarier oder so«, versicherte er ihr. Dann entstand eine kurze
Pause. Er musste einfach was sagen. »Sie haben hübsche
Ohrläppchen«, sagte er schließlich. »Sehr schön geformt.«
Beth lachte. »Sie sind wirklich komisch.« Sie
lachte erneut. Dann unterhielten sie sich eine Zeit lang. »Ihre
Jacke gefällt mir. Wo haben Sie die her?«, fragte sie
schließlich.
»Meine Freundin – ich meine, ein Mädchen, mit dem
ich befreundet bin – das heißt, ein Freund von mir, der zufällig
ein Mädchen ist – die dachte, das Ding würde -«
Sie unterbrach ihn. »Sind Sie mit einer Frau
zusammen? Ich meine, so richtig ernsthaft?«
Hatte Tracie ihm erklärt, wie er auf eine solche
Frage zu antworten hatte? Wenn ja, dann erinnerte er sich nicht
daran. »Nein. Nein. Ich -«
»Sie leben doch nicht mit ihr zusammen, oder?«,
fragte Beth.
Nun erinnerte er sich an den passenden Text. »Nein, ich wohne
allein. Aber Sie können nicht zu mir kommen.«
»Dann gehen wir eben zu mir«, sagte Beth.
Jon legte die Gabel hin. Hatte er richtig gehört?
Fast hätte er Beth gebeten, es noch einmal zu sagen, aber da nicht
nur sein Herz einen Sprung tat, wollte er sein Glück nicht
herausfordern. Mit einer Handbewegung bestellte er die Rechnung und
legte Bargeld auf den Tisch, sobald er sie erhalten hatte. (Tracie
hatte ihm geraten, keine Kreditkarte zu benutzen, und außerdem
wollte er schnell handeln, bevor Beth es sich anders überlegte.)
Jetzt musste er sie nur noch aus der Tür bugsieren, bevor sie
Tracie und Phil auf der anderen Seite des Restaurants
entdeckte.
In seiner Angst, dass doch noch etwas schief gehen
könnte, fasste er sie an der Schulter und schob sie sanft, aber
bestimmt zur Tür, wobei er ihren Körper so drehte, dass ihre Augen
zur Bar und nicht zum Restaurant gerichtet waren.
Sie drehte sich zu ihm um und sagte: »Das ist echt
sexy.«
Jon traute seinen Ohren kaum. Als er hinausging,
blieb ihm gerade noch genug Zeit, Tracie einen flüchtigen Blick
zuzuwerfen. Sie reckte sich nach ihm, und obwohl er sich nicht ganz
sicher war, hatte er doch den Eindruck, dass ihre Miene eine
gewisse Verblüffung verriet.