38. Kapitel
Jon schwitzte. Er lief, so schnell er konnte. Das
letzte Mal hatte er eine solche Angst verspürt, als der Hund seines
Nachbarn hinter ihm her gewesen war; das Vieh war dafür berüchtigt
gewesen, dass es jeden biss, der näher als fünfzig Meter an den Hof
seines Herrchens herankam. Diesmal aber versuchte Jon, vor sich
selber davonzulaufen. Früh am Morgen hatte er es geschafft,
ungesehen ins Gebäude von Micro/Con zu gelangen, und sich im
Fitnessraum aufs Laufband begeben. Jetzt aber strömten immer mehr
Menschen herein, und er wusste, das er sich das nicht einbildete –
alle Augen waren auf ihn gerichtet. Normalerweise starrten die
Leute ins Leere, während sie auf einem Heimtrainer strampelten, auf
der Hantelbank Gewichte stemmten oder auf den Laufbändern joggten.
An diesem Morgen aber glich ihr Blick eher einem Starren der
Verwunderung – so, als ob sie eine berühmte Persönlichkeit
wiedererkannten. So ist das also, wenn deine beste Freundin dein
Leben vor aller Öffentlichkeit in der Lokalzeitung ausbreitet,
dachte er.
Er konnte einfach nicht glauben, dass Tracie so
gehässig war und den Artikel aus Rache veröffentlicht hatte. Aber
er hatte sie wohl nie richtig gekannt. Er hatte sich so aufgeregt,
dass er die Nacht bei seiner Mutter hatte verbringen müssen, und
das war nicht ganz einfach gewesen. Sie hatte den Artikel natürlich
auch nicht gut gefunden, hatte ihn aber trotzdem immer wieder
gedrängt: »Ruf Tracie an. Ich weiß zwar nicht, wie es zu all dem
kommen konnte, aber ich weiß sehr wohl, dass eine Freundschaft wie
die eure nicht so enden sollte. Ruf sie an.« Dann hatte sie viel
über Vergebung gesprochen und ihn gedrängt, seinen Vater im
Krankenhaus zu besuchen. Jon war so außer sich über
diesen Vorschlag und dachte – aber er sprach es natürlich nicht
aus -, es sei wesentlich leichter, jemandem zu vergeben, der ihr
Leben ruiniert hatte, als jemandem, der das seine zerstört
hatte.
Trotzdem hatte er einen Besuch bei seinem Vater
noch nicht wirklich ins Auge gefasst. Nachdem er über sein Mitleid
hinweggekommen war, hatte er fast das Gefühl, dass er auf Chuck
auch wütend war. Was sollte eigentlich der ganze Quatsch mit
Muttertag und Vatertag? Wieso gab es keinen Kindertag? Mit Hilfe
des Feiertags hatte Chuck ihn eben erst dazu gebracht, sich mit ihm
zu treffen, ohne dass er sich explizit für sein kindisches und
rücksichtsloses Verhalten im Lauf der Jahre zu entschuldigen
brauchte. Seine Mutter konnte leicht Vergebung predigen, denn
Großvater war ein wirklich guter Vater und ein netter Kerl gewesen.
Er hatte Chuck häufiger vertreten müssen, als es Jon lieb gewesen
war. Am nächsten Vatertag, beschloss Jon, würde er zur Abwechslung
mal das Grab seines Großvaters besuchen und ihm danken. Wenn er
nicht vorher vor Verlegenheit starb.
Jon versuchte, die anderen Angestellten nicht
weiter zu beachten, die gekommen waren, um zu trainieren oder ihn
anzustarren, aber leicht war das nicht. Am liebsten hätte er das
Laufband ausgeschaltet, wäre heruntergesprungen und hätte ihnen
haarklein erklärt, was genau Tracie ihm angetan hatte. Wie sehr sie
ihn verletzt hatte. Wie sie ihn als den Clown der Stadt
bloßgestellt hatte. Wie sie ihn zum Maskottchen von Micro/Con
gemacht hatte. Jon aber entschied sich dafür, weiter auf dem
Laufband zu joggen. Sein Herz hämmerte mit jedem Schritt. Wie
konnte sie mir das nur antun?, dachte er. Er konnte sich nicht
erinnern, diesen Schmerz in der Brust wieder verspürt zu haben,
seit sein Vater seine Mutter und ihn vor so langer Zeit verlassen
hatte. Natürlich hatte er Mitleid gehabt mit all den anderen
Frauen, die sein Vater nacheinander verlassen hatte, aber diese
Kränkung war mehr, als Jon verkraften konnte.
Er wischte sich die Schweißperlen von der Stirn,
bevor sie ihm in die Augen rollen und brennen konnten. Obwohl das
gar nicht so schlecht wäre, dachte er. Dann wäre mein Blick
vielleicht so
getrübt, dass ich nicht mehr sehen könnte, wie alle mich
anstarren. Er fragte sich, ob der Schmerz, den er jetzt empfand,
derselbe war, den er all den Frauen zugefügt hatte, mit denen er
seit Beginn seiner Verwandlung geschlafen hatte. Vor allem Beth,
die Hartnäckigste von allen. Nun, dank Miss Higgins war er
schließlich doch noch zum wahren Sohn seines Vaters geworden.
Warum hatte Tracie erst mit ihm geschlafen, nachdem
er mit all den anderen zusammen gewesen war? War sie eifersüchtig
auf sie? Hatte sie ihn die ganze Zeit schon gewollt? Oder wollte
sie nur sehen, ob er das mit dem Sex auch richtig machte, um sich
darüber Notizen zu machen? Jon hielt es im Fitnessraum nicht mehr
aus, und so sprang er vom Laufband und ging hinaus. Sein Handtuch
nutzte er als Schild, hinter dem er sich verstecken konnte, während
er sich sein nasses Gesicht und seinen Nacken abrieb.
Wenigstens war der Umkleideraum leer, und so war
ihm ein bisschen Zeit vergönnt, um die Fassung wiederzugewinnen,
bevor er in den Flur hinaustreten musste. Er hatte schon den halben
Weg zu seinem Büro hinter sich, als er Samantha begegnete. Jon
sehnte sich fast schon nach der Zeit zurück, als es lediglich ein
Traum von ihm gewesen war, sie auf sich zukommen zu sehen. Aber was
sie nun mit ihm machte, übertraf selbst seine wildesten Träume. »Du
dreckiger kleiner Mistkerl!«, spuckte Sam ihm ins Gesicht, und
bevor Jon etwas erwidern konnte, hatte sie ihm auch schon eine
Ohrfeige verpasst.
Na wunderbar, dachte er, wenn alle Frauen bei
Micro/Con so reagieren, bin ich bis zum Nachmittag grün und blau.
Er legte die Hand ans Gesicht und setzte seinen Weg durch den Flur
fort. Unterwegs schaute er in alle Büros. Zum Glück waren die
meisten leer, sodass er ohne weitere Probleme zum Hauptraum
gelangte, wo sämtliche Büros seiner Abteilung lagen. Ihm fiel die
Filmszene aus Jerry Maguire wieder ein, in der Tom Cruise an
seinem letzten Arbeitstag zum Aufzug geht und alle aufstehen und
ihm nachsehen. Wenn ich nur auch weggehen könnte, dachte Jon. Er
könnte ihnen entgegentreten und erklären, dass der Artikel, den
Tracie für die Zeitung geschrieben hatte, nicht seine
Liebesphilosophie war, dass er mit all dem nichts zu tun hatte.
Dann, so stellte er sich vor, würde einfach jeder wieder an seine
Arbeit gehen und nie mehr einen Gedanken an die Sache verschwenden.
Am Eingang zum großen Raum blieb er stehen. Jeder war mit seiner
Arbeit beschäftigt, und niemand schaute zu ihm auf; sie taten das,
was sie jeden Morgen taten, wenn er in die Firma kam. Könnte
schlimmer sein, dachte er, als er sein Büro betrat.
An diesem Tag wollte er die Tür hinter sich
schließen, damit jeder, der zu ihm wollte, sich zuvor ankündigen
lassen musste. Als er sich von der Tür zu seinem Schreibtisch
wandte, entdeckte er erschrocken, dass Carole es sich in einem
seiner Sitzsäcke bequem gemacht hatte.
»Guten Morgen, Mr. Bad Boy«, sagte sie mit einem
verlegenen Grinsen. »Du bist ja heute in aller Munde.«
Mein Gott! Das konnte er jetzt wirklich nicht
gebrauchen – nicht nach allem, was er schon durchgemacht hatte.
»Guten Morgen«, sagte er ruhig und ging zu seinem Stuhl. »Kann ich
dir irgendwie behilflich sein?«
»Ich fliege heute wieder nach Hause und wollte dir
nur sagen, dass es eine helle Freude war, das ›asexuelle
Computeraas‹ von Seattle kennen gelernt zu haben.« Sie grinste
erneut.
»Ich hatte nicht -«, begann er, aber sie stand auf
und legte den Finger an den Mund, um ihn zum Schweigen zu
bringen.
»Du brauchst mir nichts zu erklären, Jonny«, sagte
sie pampig. »Ein Junge muss eben tun, was ein Junge tun muss. Du
schaffst das schon.« Dann trat sie näher an seinen Schreibtisch und
zeigte auf ein Memo. »Vielleicht hättest du doch mehr Zeit für
Parsifal aufwenden sollen als für mich und all die anderen.«
Jon schaute auf das Papier hinunter. Scheiße! Es
war von Dave, seinem Abteilungsleiter. Er überflog den Inhalt und
fand im zweiten Absatz in fett gedruckten Großbuchstaben das Wort
Fehlschlag. Er stieß seinen Stuhl vom Schreibtisch ab, und
Carole ging zur Tür. »Viel Glück«, sagte sie. »Vielleicht treffen
wir uns ja mal wieder am Gepäckband B.«
Endlich hatte er seinen Arbeitstag hinter sich.
Jon verließ das Bürogebäude und ging zu seinem Fahrrad. Tracie
stand daneben, die Hand auf dem Sattel. Als er sie sah, blieb er
kurz stehen, machte kehrt und ging wieder auf den Eingang von
Micro/Con zu. »Jon, bitte«, rief Tracie und lief ihm nach. »Lass es
mich doch wenigstens erklären und mich bei dir
entschuldigen.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich hätte nie gedacht,
dass du so eine Lügnerin bist.«
»Jon, ich schwöre dir, dass ich erst dein
Einverständnis eingeholt hätte, bevor ich -«
»Mein Einverständnis, mich zu demütigen?«,
unterbrach er sie. »Ich glaube kaum, dass ich das erlaubt hätte,
nicht einmal dir.«
»Hör mir doch mal zu! Marcus hatte die Idee vor
Monaten abgelehnt. Ich -«
»Aber als er seine Meinung geändert hat, warst du
gleich Feuer und Flamme, was?«
»Marcus hat versprochen, die Geschichte nicht zu
veröffentlichen …«
»Für wen hältst du dich eigentlich?«, fragte er.
»Was gibt dir das Recht, Gott zu spielen?« Er konnte einfach nicht
fassen, wie herzlos sie gewesen war und dass sie ihn nur dazu
benutzt hatte, um Phil näher zu kommen. Einen Moment lang war er so
wütend, dass er schon fast nachvollziehen konnte, wie ein Mann eine
Frau schlagen konnte. »Unglaublich! Sich in das Leben anderer Leute
einzumischen und sie total umkrempeln zu wollen.«
»Aber du hast mich doch darum gebeten«, erinnerte
sie ihn.
Das stimmte allerdings. Was hatte er sich dabei
gedacht? Er musste an seinen Vater denken, an das, was dieser
seiner Mutter und seinen Stiefmüttern angetan und wie viel Leid er
verursacht hatte. Jon schüttelte den Kopf, um die Gedanken zu
verscheuchen.
»Weißt du«, sagte Jon, »vielleicht hat Molly ja
Recht. Für eine intelligente Frau bist du ganz schön dämlich.
Vielleicht habe ich dich ja um was ganz anderes gebeten. Vielleicht
habe ich dir eine
viel wichtigere Frage gestellt als die, warum Samantha nichts von
mir wissen wollte.«
»Was denn für eine Frage? Und um was wolltest du
mich bitten?«, fragte sie.
Jon wandte ihr den Rücken zu und ging. Er wollte,
dass sie verschwand, sich in Luft auflöste. Stattdessen folgte sie
ihm. Mein Gott! Er brauchte wirklich nicht noch mehr Zuschauer bei
diesem Drama. Aber Jon konnte den Mund nicht halten. »Nachdem du
über sieben Jahre lang meine beste Freundin warst, hättest du
vielleicht wissen sollen, was ich von dir wollte. Und warum«,
fauchte er.
»Wenn du mich wolltest, warum hast du das dann
nicht gesagt oder dich um mich bemüht?«, fragte sie. »Ich kann doch
schließlich keine Gedanken lesen.«
Das war so unfair, dass es ihm wehtat. »Wozu hätte
ich das tun sollen? Um von dir zu hören, dass du mich liebst, aber
nicht ›auf diese Art‹?« Er spürte einen Schmerz und eine Wut, die
ihm bislang gar nicht bewusst gewesen waren. »Ist dir eigentlich
klar, dass du mir das ins Gesicht sagst?«, fragte er. »Du
warst clever genug, um diesen ganzen Zirkus abzuziehen, damit die
Frauen auf mich geflogen sind. Du warst clever genug, um mich in
eine modernere, bessere Ausgabe meines Vaters zu verwandeln. Du
warst auch clever genug, einen Artikel zu schreiben, in dem ich als
das Arschloch erscheine, das ich jetzt bin. Und du bist nicht
clever genug, um zwischen den Zeilen zu lesen? Und du
möchtest Schriftstellerin sein?«
Jetzt rannen ihr Tränen über die Wangen, die er
einst mit Küssen bedeckt hatte. »Jon, ich liebe dich. Ich habe mit
dir geschlafen …«
»Aber erst, nachdem du mich verändert hattest.
Erst, nachdem jede zweite Frau in Seattle mit mir geschlafen
hatte.« Endlich hatte er seine verdammte Fahrradkette
aufgeschlossen. Tracie stellte sich neben Jon und berührte sanft
seinen Arm. Er zog den Arm so heftig weg, dass sie erschrocken
zurückwich. »Vorher war ich ja nicht gut genug für dich. Du hast
mich entweder
gar nicht richtig wahrgenommen oder mich als selbstverständlich
betrachtet oder sonst was; schlafen wolltest du damals jedenfalls
nicht mit mir.«
Tracie senkte den Kopf und hielt sich die Hände
vors Gesicht. Er wollte gar nicht sehen, was für ein Bild des
Jammers sie abgab. Er hatte sie schon ähnlich traurig gesehen –
wegen einiger der Schwachköpfe, mit denen sie früher mal zusammen
gewesen war. Als sie dann antwortete, war es nur ein Flüstern. »Ich
glaube, ich wollte immer mit dir schlafen. Du warst der Einzige,
der mich wirklich kannte, Jon. Aber ich war ja so dumm. Und ich
glaube, ich hatte Angst. Jon, weißt du eigentlich, wie viel unsere
gemeinsame Nacht mir bedeutet? Weißt du denn nicht, wie wunderschön
es für mich war und wie sehr ich dich liebe?«
Jon wandte sich ihr zu. »Und du hattest gar keine
Angst vor Phil?«, fragte er.
Tracie hob den Kopf und warf ihm einen
schuldbewussten Blick zu. Und dann war seine Hoffnung wieder
zerstört, weil er sie gut genug kannte, um zu wissen, dass sie
einen großen Fehler gemacht hatte. Sie war keine Lügnerin, auch
wenn er ihr das vorgeworfen hatte. Vielleicht war der Artikel ja
wirklich ein Versehen gewesen. Aber was hatte sie ihm mit diesem
Blick sagen wollen? Was hatte sie in den vergangenen vierundzwanzig
Stunden getan, das sie nicht hätte tun sollen? »Mit wem hast du
letzte Nacht geschlafen, Tracie?«, fragte er.
Tracie senkte den Blick, aber erst, nachdem er sie
hatte erröten sehen. Jetzt wusste er, dass er Recht hatte. »Mit
Phil, aber ich... aber er hatte gerade... wir haben nicht...«,
stammelte sie.
Er wollte kein Wort mehr hören. Ihm war so
speiübel, dass er Angst hatte, sich gleich an Ort und Stelle
übergeben zu müssen. »Ich war letzte Nacht allein, Tracie. Und das
wäre ich jetzt auch gern«, sagte Jon abrupt, stieg auf sein Rad und
fuhr davon.