32. Kapitel
Am nächsten Morgen summte Tracie fröhlich vor sich
hin, als sie im Verlagsgebäude der Times durch den Korridor
ging. Sie war wieder einmal ziemlich früh dran, hatte ihren Mantel
noch an und hielt eine Papiertüte mit einer Tasse Kaffee und einem
Muffin in der Hand. Beth war schon in ihrem Büroabteil und schaute
zu ihr auf. »Hallo, Tracie«, sagte sie, als ihre Freundin
vorbeifegte, aber Tracie wusste, dass sie nicht so glimpflich
davonkommen würde. Sie hörte auf zu summen, weil ihr klar war, dass
Beth ihr bis zu ihrem Schreibtisch folgen würde. Sie seufzte. Nun,
bald wäre das alles vorüber. Beth konnte sich ja in einen anderen
verknallen, während sie ihren alten Freund wiederbekäme, und auch
die Sache mit Phil würde sich so normalisieren.
»Hast du von ihm gehört? Hat sie ihn abblitzen
lassen?«, fragte Beth.
Tracie zuckte mit den Achseln, obwohl ihr bewusst
war, dass sie damit weitere Fragen nicht würde abblocken
können.
»Sie hat ihn abblitzen lassen, stimmt’s? Die ist ja
so dämlich!«, rief Beth.
»Beth, ich habe wirklich Wichtigeres zu tun, als
jeden Pups im Liebesleben meiner Freunde zu registrieren«, erklärte
Tracie. Dann zog sie ihren Mantel aus, hängte ihn auf und setzte
sich. Sara betrat den Raum.
»Hast du’s schon gehört?«, fragte sie.
»Was gehört?«, wollte Tracie wissen.
»Es geht um Allison. Mit Allison ist irgendwas«,
sagte Beth atemlos.
Und dann lächelte Sara mit dem überlegenen Blick
derjenigen, die den Büroklatsch eine Minute früher erfahren haben
als die
anderen. Tracie schüttelte den Kopf und wandte sich ab, um ihren
Frühstücksbeutel zu öffnen.
»Jetzt ratet mal, wer sich gerade krankgemeldet
hat!«, sagte Sara.
»Marcus?«, erkundigte sich Tracie. »Ich hoffe nur,
er hat keinen Gebärmutterkrebs.«
»Allison! Allison hat sich krankgemeldet? An einem
Tag mit Redaktionssitzung?«, fragte Beth fassungslos.
»Marcus bringt sie um«, meinte Sara.
»Sie hat keine Angst vor ihm. Wahrscheinlich hat
sie Jon kaltgemacht«, sagte Tracie zuversichtlich und lächelte.
Dann öffnete sie ihren Beutel und holte den Muffin und ihren Kaffee
heraus. »Beth, ich dachte, du machst eine Therapie, um über diese
Zwangsvorstellung wegzukommen. Was sagt denn dein Therapeut
dazu?«
»Der ist nur daran interessiert, mir neue
Medikamente zu verschreiben. Wir reden eigentlich kaum miteinander.
Er ist eher so eine Art Psychopharmaka-Barkeeper. Apropos
Zwangsvorstellungen – ich dachte, du wärst längst von diesen
Schokomuffins losgekommen. Die machen nämlich süchtig.«
»Ich hab schon ewig keinen mehr gegessen. Nur
dieses eine Mal...«, begann Tracie.
»Du machst dir doch wegen irgendwas Sorgen,
stimmt’s?«, fragte Sara.
»Nein, nein!«, wehrte Tracie verdächtig schnell
ab.
»Na schön. Dann kannst du uns ja erzählen, was
Jonny über Allison gesagt hat«, meinte Beth.
Tracie wandte sich von ihnen ab. »Er hat gar nichts
gesagt. Er hat gar nicht angerufen«, gestand sie.
»Er hat nicht angerufen? O mein Gott! Er ruft doch
sonst immer an. O mein Gott! Tracie, sie hat ihn bekommen. Sie hat
ihn genauso bekommen wie all die anderen. Er ist ein Fisch an ihrer
Angel, ein Hecht an ihrem Haken, eine Forelle«, schrie Beth.
»Würdest du bitte mit diesen Fischvergleichen
aufhören? Ich vertrage das nicht auf leeren Magen.«
»Der arme Jonny.« Beth schüttelte den Kopf. »Er hat
wirklich was Besseres verdient.« Tracie wusste, dass aus Beth’
Sicht natürlich sie selbst das einzig Bessere war. Na schön, jeder
hat seine Schwachpunkte. Dann klingelte ihr Telefon. »Das ist er!
Ich wette, das ist er. Ich nehm ab«, rief Beth und griff nach dem
Hörer.
»Also entschuldige mal! Das ist immer noch
mein Telefon und mein Büro«, erinnerte Tracie
sie.
Das Telefon läutete abermals.
»Bitte lass mich abnehmen«, flehte Beth. »Ich geb
dir am nächsten Zahltag auch fünfzig Dollar dafür.« Das Telefon
läutete erneut, und Tracie wollte schon danach greifen, doch Beth
stellte sich ihr in den Weg. Auch Tracie konnte es gar nicht
abwarten zu erfahren, was geschehen war, aber sie hätte es nicht
für fünfzig oder gar hundert Dollar und nicht einmal für einen
Muffin verraten. Wie oft läutete es noch, bevor sich der
Anrufbeantworter einschaltete? Meist dreimal, manchmal auch
viermal. Sie versuchte, an ihrer Freundin vorbei nach dem Hörer zu
greifen, doch Beth versperrte ihr den Weg wie ein Torwart auf
Speed.
»Beth, hör auf mit dem Quatsch!«, sagte Tracie.
»Hast du denn gar keine Selbstachtung?«
»Mein Gott, das ist ja besser als in Schatten
der Leidenschaft«, scherzte Sara.
Tracie täuschte nach rechts an, bevor sie links an
Beth vorbeischlüpfte und sich den Hörer schnappte. »Wann werdet ihr
endlich erwachsen?«, fragte sie, als sie den Hörer ans Ohr nahm.
»Hallo?«
»Tracie? Hier Allison.« Ha. Jetzt konnte sie Sara
und Beth schmoren lassen und es ihnen heimzahlen. Außerdem würde
sie gleich erfahren, wie Allison den lieben Jon hatte abblitzen
lassen, und jedes Detail der Geschichte genießen. Sie hielt sich
eigentlich nicht für besonders schadenfroh, aber er hatte es
wirklich verdient, und irgendwann wäre er ihr dankbar dafür.
»Oh, hallo, Allison«, sagte Tracie ruhig. Wie
erwartet erstarrten
Beth und Sara bei diesen Worten zu Salzsäuren. Saras Augen wurden
so groß, als wollten sie jeden Augenblick herausfallen, während
Beth’ Locken wie elektrisiert abzustehen schienen. Sara sprang vom
Schreibtisch auf, stellte sich neben Tracie und hielt den Kopf so
dicht wie möglich an den Hörer, während Beth dasselbe auf der
anderen Seite tat. Tracie versuchte, die beiden abzuschütteln,
während sie Allison zuhörte.
»Ich hab da ein Problem, Tracie. Ich komm einfach
nicht aus dem Bett.« Das glaubte Tracie verstanden zu haben, aber
Allisons Stimme wurde immer leiser. Sie klang fürchterlich.
»Hat dich die Grippe erwischt?«, fragte
Tracie.
»Nein, aber ich komm einfach nicht aus dem Bett.«
Beth rammte Tracie den Ellbogen in die Rippen, aber nicht, weil sie
Allisons letzte Worte gehört hatte, sondern weil sie rein gar
nichts verstehen konnte. Tracie drückte den Hörer fest ans
Ohr.
»Ja, zurzeit schwirren jede Menge Viren durch die
Gegend. Du hast bestimmt eine Kehlkopfentzündung.«
»Nein, ich bin nicht krank«, sagte Allison in einem
ärgerlich klingenden Flüsterton. Eine Pause trat ein. »Ich komm
nicht aus dem Bett, weil ich nicht raus will. Ich bin hier mit
Jonny und...« Tracie sackte auf ihren Stuhl und riss dabei fast
Sara mit.
»O Scheiße«, sagte Sara. »Da wird Marcus sich aber
freuen.«
Wieder versuchten Beth und Sara zuzuhören, bis sie
merkten, dass Tracies überlegenes Lächeln sich zu einer Grimasse
verzerrt hatte. Sie wandte den beiden Frauen, die sie genau
beobachteten, den Rücken zu. Sie hatte das Gefühl, als drehte sich
alles um sie. Sie hatte etwas verpasst, was Allison gesagt hatte.
»… Ich komm einfach nicht aus dem Bett. Ich will hier nie wieder
raus. Ich bin total erschöpft.«
»Aber... Aber...« Was konnte sie schon dazu sagen?
Er ist gar nicht so gut im Bett, er ist nur mein Freund? Glaub
nicht, was du siehst und fühlst, in Wirklichkeit ist er ein
Langweiler? Sei nicht so nett zu ihm, bestrafe ihn, weil er es
verdient hat? »Aber... die Redaktionskonferenz«, sagte sie
schließlich lahm.
»Zum Teufel mit Marcus und der Konferenz. Das hier
ist einfach zu gut.«
»Tatsächlich?«, fragte Tracie, bevor sie sich
zurückhalten konnte. Schließlich war sie diejenige, die wegen eines
misslungenen Haarschnitts blaugemacht hatte. »Tatsächlich?«, fragte
sie noch einmal.
»Das Beste überhaupt«, flüsterte Allison mit
Kennerstimme.
Nun, wenn jemand das beurteilen konnte, dann
Allison, dachte Tracie verbittert. Was stimmte an der Sache bloß
nicht? Beth bedrängte sie von der einen Seite und Sara von der
anderen, aber Allison redete weiter.
»Tracie, ich muss mich bei dir entschuldigen. Ich
dachte immer, du magst mich nicht besonders, aber da habe ich mich
wohl geirrt.«
Nein, hast du nicht, dachte Tracie. Aber jetzt
irrst du dich gewaltig.
»Was?«, fragte Beth. »Was hat sie ihm angetan?«
Tracie stieß Beth mit dem Ellbogen weg und bedeckte das Telefon mit
der Hand.
»Ich wollte mich nur bei dir bedanken«, fuhr
Allison fort. »Jonny hat mir erzählt, wie gut ihr befreundet seid,
und... Ich bin dir wirklich dankbar für die beste Nacht meines
Lebens.« Allisons Stimme klang den Tränen nahe, und sie hielt inne,
als müsste sie erst wieder Luft holen. »Danke«, hauchte sie noch
einmal.
»Keine Ursache«, erwiderte Tracie.
»Oh, er wacht gerade auf. Ich muss jetzt auflegen«,
teilte Allison ihr mit. »Noch mal vielen Dank, Tracie.« Und dann
war die Leitung tot.
Tracie legte den Hörer auf und wandte sich langsam
wieder ihren beiden Freundinnen zu. »Sie hat mit Jonny die Nacht
verbracht. »
Beth stöhnte. »Das halt ich nicht aus. Das ist
einfach nicht gerecht.«
»Sie liegt jetzt mit ihm im Bett«, erklärte Tracie
und stellte
schockiert fest, wie ihr die Tränen in die Augen traten. Mit einem
Mal fühlte sie sich unglaublich einsam. »Ich kapier das einfach
nicht. Ist er wirklich so gut?«
»Verdammt gut«, bestätigte Beth, bevor sie
langsam aufstand und sich zum Gehen wandte. »Vielleicht sollte ich
zu Marcus zurück«, sagte sie und ging.
Sara schaute Tracie an. »Und was willst du jetzt
machen?«
Tracie zwang sich, aufrecht in ihrem Stuhl zu
sitzen, nahm ihren Kuchen und biss ein großes Stück ab. »Wart nur
bis zum Brunch am Sonntag«, sagte sie mit vollem Mund. »Da bring
ich ihn um.«