7. Kapitel
Jon hatte ein Problem. Er erzählte Tracie alles oder zumindest fast alles, und das war auch gut. Weniger gut fand er allerdings, vor ihr wie ein Vollidiot dazustehen, wie ein Trottel und ein erbärmlicher Wicht. Er brauchte ihr Einfühlungsvermögen und ihren Rat, aber ihr Mitleid fürchtete er. Deshalb machte er meist Scherze über seine leidvollen Erfahrungen. Jetzt hob er die Hände und faltete sie hinter dem Kopf. »Ich bin der ungeschlagene Weltmeister, wenn’s um das beschissenste Privatleben Amerikas geht...«
»Kein Wunder am Muttertag.«
»Nein, fertig gemacht haben mich vor allem die Katastrophen vor dem Muttertag.«
Tracie runzelte die Stirn und verdrehte auf übertriebene Weise die Augen nach oben, als ob sie sich verzweifelt zu erinnern suchte. Sie sah dabei wirklich süß aus. »O Gott! Das tut mir aber Leid! Ich hatte das völlig vergessen. Das Rendezvous hat also nicht geklappt?« Sie seufzte. »Und was war mit dem großen Date?«
Molly brachte erneut Kaffee, goss Tracie welchen ein, schüttelte den Kopf und ging wieder. Tracie beugte sich über den Tisch und fragte leise: »Was ist denn passiert? Was ist schief gelaufen mit dem Rendezvous?« Plötzlich sprach blankes Entsetzen aus ihrer Miene. »Du hast doch wohl nicht diese Jacke mit dem Schottenkaro angehabt?«
»Nein«, versicherte er. »Den blauen Blazer.«
Tracie spuckte fast den Kaffee über den Tisch. »Du hast zu einer ersten Verabredung einen Blazer angezogen?«
»Ja, ich -«
»Für ein erstes Rendezvous darfst du dich grundsätzlich nie besonders schick machen. Der Witz dabei ist doch, locker zu wirken.« Nicht zum ersten Mal seufzte Tracie tief vor Enttäuschung. »Also... was ist passiert?«
»Na ja, ich gehe in die Bar, und sie winkt mir zu. Sie war eigentlich recht attraktiv, wenn man dürre Rothaarige mag. Ich gehe also zu ihr rüber und überreiche ihr die Blumen.«
»Du hast Blumen mitgebracht?«, schrie Tracie und warf entsetzt die Hände hoch. »Mein Gott, das stinkt ja geradezu nach Verzweiflung.«
»Vielleicht hat es deswegen nur elf Minuten gedauert. Wir hatten kaum begonnen, uns zu unterhalten, da sagt sie, sie hätte noch Wäsche im Trockner und wollte nicht, dass sie knittert.«
»Das ist wirklich mal eine neue faule Ausrede«, meinte Tracie. Ein paar Augenblicke lang ließen beide den Horror der Situation auf sich wirken, bevor Tracies Miene sich wie immer wieder aufhellte. Jon war überzeugt davon, dass ihr Optimismus angeboren war. »Ach komm, vergiss sie. Höchstwahrscheinlich war sie sowieso keine echte Rothaarige. Die Fassade passt doch nie zum Teppich.« Jon rang sich ein Grinsen ab, und Tracie grinste zurück. »Und was war Samstagnacht? Du weißt schon, das Date mit deiner Kollegin? Die, nach der du dich mit der Lust von tausend pubertierenden Knaben verzehrst. Wie heißt sie noch mal?«
»Sam. Samantha«, rief Jon ihr in Erinnerung. Einen Augenblick lang fragte er sich, warum er immer jeden Freund und Liebhaber von ihr mit Vor-, Nach- und Spitznamen kannte, sie dagegen... Er seufzte. »Das war sogar noch schlimmer«, gestand er.
»Was kann schlimmer sein als ein erstes Rendezvous, das nur elf Minuten dauert?«
»Also erstens, weil ich mich mit ihr im Freien verabredet hatte. Zweitens, weil es geregnet hat. Und drittens, weil sie gar nicht erst gekommen ist.«
Tracie war so ehrlich überrascht, dass ihr die Kinnlade herunterklappte. Dann übertrieb sie es noch mehr, um ihre Überraschung zu überspielen. »Waaas? Sie hat dich total versetzt? Sie kam nicht einfach nur zu spät? Und du hast auch wirklich lang genug gewartet?«
»Zwei Stunden.«
»O Jon! Du hast zwei Stunden im Regen gestanden?«
»Ja. Aber das hat mir nicht halb so viel ausgemacht wie die Tatsache, dass ich ihr morgen bei der Arbeit wieder begegnen werde.«
»Aua, das tut weh!« Tracie verzog das Gesicht, und seine Demütigung spiegelte sich in ihrer Miene wider, bevor sie versuchte, sich von dem Schock zu erholen. »Jetzt sag mir wenigstens, dass sie angerufen und eine Nachricht hinterlassen hat mit einer halbwegs plausiblen Lüge«, bettelte sie.
»Nichts. Keine Nachricht zu Hause, keine in der Firma, nicht einmal eine E-Mail. Und das, obwohl ich ihr auf allen drei Wegen Nachrichten habe zukommen lassen.«
Tracie verzog das Gesicht. Jon lief vor Verlegenheit rot an. »Das hättest du mal besser bleiben lassen«, sagte sie.
Jon versuchte, sich zu verteidigen. »Aber was hätte ich denn sonst machen sollen?«
Tracies Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Das erinnert mich an eine Stelle, ich glaube bei Dorothy Parker, wo einem empfohlen wird, die Klappe zu halten.«
»Aber wie hätte ich ihr denn sonst klar machen sollen, dass ich auf sie gewartet habe?«
»Wozu solltest du sie das wissen lassen? Warst du nicht schon gedemütigt genug?«
Jetzt war sie genervt. Jon sah in ihrem Gesicht etwas, was zu sehr nach Mitleid aussah. »Na, was hätte ich denn sonst tun sollen?«
Bevor Tracie antworten konnte, kam Molly wieder an ihren Tisch, offenbar von mitgehörten Gesprächsfetzen angezogen. »Dir eine suchen, die mit dir ausgehen möchte? Probier es doch mal mit einer älteren Frau«, schlug sie mit klimpernden Wimpern vor. Tracie schaute nicht einmal zu ihr hoch, während Jon sich ein schwaches Lächeln abrang. »War wohl keine so gute Idee. Aber ich bin ja auch nicht aufs College gegangen.« Dann nahm sie hastig die leeren Teller und tänzelte wieder ab in die Küche.
Tracie seufzte. »Also gut, Jon, du hast gewonnen. Dein Wochenende war noch beschissener als meines – und das jetzt schon in der dreiundachtzigsten Woche. Das ist ein neuer Weltrekord.« Sie kritzelte etwas auf ein Post-it-Blöckchen, das sie aus ihrer Handtasche gezogen hatte, und klebte Jon den Zettel aufs Hemd. Sie hatte ein blaues Band aufgezeichnet.
»Großartig. Ein Orden für den weltgrößten Verlierer.« Tracie dachte kurz über die Sache nach. »Aber es ist nicht alles nur deine Schuld. Frauen werden oft magisch angezogen von... Problemen. Von Männern, die... eine Herausforderung darstellen. Weißt du, seit Freitag ist meine Freundin Laura bei mir …«
»Laura? Ist sie gekommen? Werde ich sie jetzt endlich mal kennen lernen?« Jon hatte seit Jahren immer wieder von Laura gehört.
»Bestimmt. Aber ich wollte damit sagen, dass sie im Moment bei mir wohnt, weil sie sich von Peter getrennt hat. Sie ist ganz verrückt nach ihm, obwohl sie sagt, dass er ein mieser Kerl ist, der panische Angst vor einer echten Beziehung hat. Daraus schließe ich, dass Frauen anscheinend solche miesen Typen bevorzugen, bis sie es dann doch aufgeben.«
»Das ist unfair, wo ich mir doch so viel Mühe gebe.«
»Ein mieser Typ zu sein?«
»Nein, keiner zu sein, natürlich.«
»Ich weiß, war nur’n Scherz. Aber das ist vielleicht genau der Punkt: Du gibst dir zu viel Mühe, und du bist... du bist einfach zu nett.«
»Wie kann man zu nett sein?«
»Jon, du bist zu nett und viel zu rücksichtsvoll. Bleiben wir doch mal bei den Tatsachen: Heute hast du nicht nur deine Mutter besucht, sondern auch noch all deine bösen Stiefmütter. Du bist eben einfach zu nett.«
»Das ist doch lächerlich«, meinte Jon.
»Ich weiß, dass dir das irgendwie unlogisch vorkommt«, räumte Tracie ein. »Wir Frauen verstehen es ja selber nicht ganz, und ich glaube eigentlich nicht, dass wir besonders gern leiden. Aber eines weiß ich sicher: Wir hassen Langeweile. Nimm zum Beispiel Phil: Er fasziniert mich. Er sorgt dafür, dass mein Leben interessant bleibt.«
»Er ist Bassgitarrist, um Himmels willen«, sagte Jon entgeistert. »Strohdumm. Total egozentrisch. Und egoistisch. Das nennst du interessant?« Er merkte, dass er womöglich zu weit gegangen war und sie gekränkt hatte.
Tracie aber lächelte nur. »Hast du vielleicht was gegen Jungs, die Instrumente mit vier Saiten spielen?«
Jon beruhigte sich wieder. »Überhaupt nicht. Nur gegen ihn. Er hat dich doch überhaupt nicht verdient.«
»Aber er ist einfach süß! Und dann der Sex mit ihm!«, sagte sie und errötete.
Jon wandte den Blick ab. Das war die Strafe dafür, dass er zu weit gegangen war. Es gab Dinge, die er gar nicht wissen wollte. Er seufzte. »Ich würde alles dafür geben, Frauen aufzureißen, so wie Phil das kann. Wenn ich bloß lernen könnte, mich dümmer zu stellen, als ich bin, oder egoistischer...« Er dachte nach. »Hey, Tracie, mir ist da gerade was eingefallen.«
»Dir fällt doch immer was ein«, sagte sie und stand auf. »Deshalb bist du ja auch der intergalaktische Alchimist der Kosmischen Systemerweiterung oder was auch immer du im Microland bist.«
»Nein, das meine ich nicht«, sagte Jon und blieb sitzen. Sie durfte jetzt noch nicht gehen. »Ich meine in Bezug auf mein Leben.«
»Na großartig. Können wir das vielleicht nächste Woche besprechen? Ich muss noch zum Supermarkt.«
»Was willst du denn da? Eine Strumpfhose kaufen?« Tracie war schon seit Jahren in keinem Supermarkt mehr gewesen.
»Nein. Natron. Und Mehl.«
»Arbeitest du an einem Forschungsprojekt, oder ist es was für deine Haare?«
»Es ist zum Backen«, erklärte Tracie, so würdevoll sie konnte, was ihr bei ihm nicht gut gelang.
»Seit wann backst du? Und wieso ausgerechnet um Mitternacht?« Jon kannte Tracie gut genug, um zu wissen, dass sie das schwarze Ding in ihrer Küche mit der Tür auf der Vorderseite für ein zusätzliches Schuhschränkchen hielt. Und er hoffte von ganzem Herzen, dass ihr keiner ein Brot in den Ofen geschoben hatte. »Soll das vielleicht ein Trick sein, um Phil süß zu stimmen? Da sehe ich bei deinen Backkünsten aber schwarz...«
»Du erwartest darauf doch wohl keine Antwort«, erwiderte Tracie und griff nach ihrer Jacke.
Jon stand nun ebenfalls auf. Er wollte nicht zeigen, wie sehr er sich nach Gesellschaft sehnte. Außerdem interessierte ihn das Geheimnis von Tracys neu entdeckter Häuslichkeit. Dann begriff er endlich.
»Ach so, das ist für deine Freundin Laura aus San Antonio. Die ist Köchin, oder?«
»Na und?«, sagte Tracie, während sie in ihre Jacke schlüpfte. »Das heißt doch noch lang nicht, dass ich nichts kann.«
»Du kannst eine ganze Menge«, bestätigte Jon. »Du kannst richtig gut schreiben, bist eine gute Freundin und weißt, wie man sich gut anzieht. Und Geschenke für Mütter aussuchen kannst du auch sehr gut. Aber backen...«
Tracie warf ihm einen Blick zu. »Sie ist aus Sacramento«, verbesserte sie ihn, was ihre Art war, ihm Recht zu geben.
Jon lächelte. »Ich helfe dir beim Einkaufen«, bot er ihr an.
»Was? Musst du denn nicht arbeiten oder schlafen? Das eine oder andere musst du doch immer. Und außerdem ist das die langweiligste Sache der Welt.«
»Nicht für einen Mann, der einen Korb bekommen hat, als er sich zum Wäschefalten angeboten hat«, sagte Jon. »Ich kann ja den Einkaufswagen schieben.«
»Wenn du möchtest«, meinte Tracie achselzuckend und entfernte sich von ihrem Tisch, während Jon seine Taschen durchwühlte und hastig einen Zwanziger auf den Tisch warf. Ohne sich umzudrehen, sagte Tracie: »Du gibst ja schon wieder viel zu viel Trinkgeld. Ich sag’s ja – du bist einfach zu nett.« Tracie schüttelte den Kopf, während sie sich zwischen den leeren Tischen durchschlängelte. »Und Frauen wollen keine netten Jungs.«
Jon wurde immer aufgeregter. Genau. Warum war er nicht schon früher darauf gekommen? Es war perfekt – ein Konzept, das ihm schon fertig ausgearbeitet in den Sinn kam, genau wie das Parsifal-Projekt. Er musste Tracie dazu bringen, dass sie seinen Plan verstand, ihn guthieß und seine Vision wahr werden ließ. Aber darin war er gut. »Bis nächste Woche«, rief er Molly zu und holte Tracie ein, als sie das Lokal verließ.
 
»Was hast du vor?«, fragte Tracie, als sie einen Einkaufswagen herauszog.
»Bei mir muss sich was ändern, und zwar bevor ich Viagra brauche.«
»Du musst nicht gleich so dramatisch werden«, meinte Tracie, als sie durch die Schreibwaren- und die Drogerieabteilung gingen. Bei den Milchprodukten schaute sie ihn aus den Augenwinkeln an. »Dein Verfallsdatum ist doch noch nicht abgelaufen; du bist noch locker für zwei oder drei Jahre gut.«
»Ich bin nicht dramatisch, sondern realistisch.« Er holte tief Luft. Er musste sie irgendwie zum Mitmachen bewegen. »Ich möchte, dass du mir beibringst, wie man ein richtiger Kotzbrocken wird.«
Tracie ging gerade an den Haarpflegemitteln vorbei, als sie abrupt stehen blieb und sich verwundert zu Jon umdrehte. »Was?«
Er spürte förmlich, wie ihm das Herz gegen die Rippen schlug, und schluckte. »Ich möchte, dass du mich auf den Typ Mann trimmst, auf den die Mädels abfahren. Du weißt schon – die Art Mann, mit der du dich immer abgibst. Phil. Und vor ihm Jimmy. Und erinnerst du dich noch an Roger, den Nöler? Der war ein richtiger Drecksack, und du warst total verrückt nach ihm.«
»Du bist verrückt«, sagte Tracie, schob den Einkaufswagen weiter und ließ ihn stehen. Sie schnappte sich ein Shampoo, das sie nie genommen hätte, wenn sie nicht so durcheinander gewesen wäre, bevor Jon sie in der fast leeren Backwarenabteilung einholte.
»Bitte, Tracie. Ich meine es ernst.« Er stand vor der schwierigen Aufgabe, sie gleichzeitig beruhigen und ihre Begeisterung wecken zu müssen. Dann erinnerte er sich daran, dass er einige Erfahrung darin hatte, Teams für ganz spezielle Projekte zusammenzustellen.
»Mach dich nicht lächerlich. Warum willst du unbedingt zum Mistkerl werden? Außerdem ist das völlig unmöglich. Du schaffst es nie, dich so zu ver-«
»Doch. Wenn du es mir beibringst.« Einwände entkräften, sagte er sich. Und dann auf ihr Talent anspielen. »Weißt du nicht mehr, was für ein guter Schüler ich war? Jetzt komm schon, Tracie. Betrachte es als Herausforderung – als Möglichkeit, all die Erfahrungen einzubringen, die du mit deinen tätowierten Lovern gesammelt hast.« Er merkte, wie ihr Interesse erwachte. Und jetzt der nächste Schritt – erwünschten Widerspruch wecken. »Wenn du nicht mitmachst«, sagte er, so beiläufig er konnte, »hat Molly wohl doch Recht gehabt.«
Als er die Kellnerin erwähnte, blieb Tracie erneut stehen. Sie drehte sich zu ihm um. »Womit soll sie Recht gehabt haben?«, fragte sie schroff, bevor sie sich dem Mehl zuwandte.
»Mit der Zwangsvorstellung«, erklärte er mit heftig pochendem Herzen. Jetzt hatte er sie. »Seit sieben Jahren wiederholst du dich ohne vernünftigen Grund. Verschwendest deine Zeit. Aber wenn du mich verwandeln könntest, wie eine Alchimistin sozusagen …«
Sie bückte sich, um das Etikett auf einer der weiter unten stehenden Mehltüten zu lesen. »Ich wusste gar nicht, dass es so viele Sorten Mehl gibt«, sagte sie – ein Versuch, vom Thema abzulenken, worauf er aber nicht hereinfallen würde. »Was meinst du – will sie Auszugsmehl oder Instantmehl oder Vollkornmehl oder Vollkornschrot?«
Jon dachte an Barbaras Kekse, die er vor fünfzehn Stunden gegessen hatte, und entschied sich für das Auszugsmehl. »Das da«, sagte er und reichte ihr die Packung. Sie stand auf und nahm das Mehl. »Also, was ist jetzt? Bringst du es mir bei?«
Sie zuckte mit den Achseln, legte das Mehl in den Einkaufswagen und setzte sich in Bewegung. »Also«, begann sie, »ich kann ja vielleicht eine recht gute Reportage schreiben und an einem Regentag in Seattle mein Haar föhnen, ohne dass es sich kräuselt. Aber backen kann ich nicht, und kein Mensch kann dir beibringen, ein Schwein zu werden. Du kannst gar kein Schwein werden, also kann das nicht ernst gemeint sein.« Sie wandte sich ab.
Jon überkam plötzlich Verzweiflung. Er sah bereits vor sich, wie er Samantha am nächsten Morgen in der Firma traf, und konnte die Vorstellung kaum ertragen. Außerdem hatte Tracie völlig Recht: Dass er bei ihr angerufen hatte, machte alles noch viel schlimmer. Warum stellte er sich nur manchmal so ungeheuer dämlich an?
Doch obwohl Tracie das Gegenteil behauptete, konnte sie ihm helfen, wenn sie nur wollte. Sie hielt den Schlüssel in Händen, gab ihn aber nicht her. Und so was wollte eine Freundin sein. Jetzt musste er für einen starken Abschluss sorgen. Schließlich hatte er es sogar geschafft, die Leitung millionenschwerer Projekte übertragen zu bekommen, also konnte er auch das hier schaffen. Er packte sie am Arm, riss sie herum und schaute ihr direkt in die Augen. »Ich habe noch nie etwas ernster gemeint. Und du bist die Einzige, die mir helfen kann. Du kennst alle meine schmutzigen kleinen Angewohnheiten und hast in bösen Jungs promoviert.«
»Eine Herausforderung wäre es schon«, gab Tracie zu und lächelte ihn an. Voll Zuneigung. Geschafft!, jubelte er innerlich, ließ sich seinen Triumph aber nicht anmerken. Tracie zog die Augenbrauen hoch und brachte ihren letzten Einwand vor. »Aber warum sollte eine Alchimistin Gold in Blei verwandeln?«, fragte sie und drückte seine Hand.
»Weil das Gold sich unbedingt verändern möchte«, erklärte Jon. »Und wenn das Gold die Alchimistin anflehen würde?« Er wusste im selben Augenblick, dass er zu weit gegangen war.
Sie ließ seine Hand los. »Lieber nicht, Jon. Ich mag dich so, wie du bist«, sagte Tracie und klang dabei fast wie seine Mutter.
»Aber leider niemand sonst«, erinnerte er sie, aber es war zu spät. Achselzuckend schob sie den Wagen weiter.
»Ich kann es einfach nicht. Hey, hab ich gerade Natron oder Backpulver gesagt?«, fragte sie mit Blick auf das Regal, wo sich beides zu Dutzenden stapelte.
»Du hast Natron gesagt«, sagte er. »Und du könntest mich verwandeln, wenn du es nur wolltest.«
Tracie überlegte. Er hoffte, dass sie über das Projekt nachdachte, aber eine Minute später schüttelte sie den Kopf. »Ich glaube auch, dass ich Natron mitbringen soll. Aber vielleicht war’s doch Backpulver.«
Jon seufzte. »Und wo ist da der Unterschied?«, fragte er entmutigt.
»Man nimmt sie für unterschiedliche Sachen.«
»Aha. Und für welche Sachen?«, fragte er. Er war wütend auf sie und wollte ihr nichts mehr durchgehen lassen. »Und wodurch unterscheiden sie sich?«
»Backpulver lässt Kuchen aufgehen.«
»Lesen kann ich selber, Tracie. Und was macht Natron?«
»Na ja, du kannst die Zähne damit putzen oder den Kühlschrank damit geruchsfrei halten.«
»Und hat deine Freundin aus Santa Barbara ihre Zahnpasta vergessen, oder hat der Gestank aus deinem Kühlschrank sie umgehauen?«
Tracie warf ihm einen vernichtenden Blick zu, bevor sie mit den Achseln zuckte und beide Artikel in ihren Einkaufswagen warf. Dann wandte sie sich dem Ausgang zu und marschierte los. Jon folgte ihr. Er war fest entschlossen, nicht aufzugeben. Ohne seine Hartnäckigkeit hätte er es bei Micro/Con nie so weit gebracht. Vielleicht klappte es ja mit Humor. Er ging in die Knie, packte den Griff des Einkaufswagens und begann zu betteln, wie Kinder in Geschäften ihre Mütter um Süßigkeiten anbettelten. »Bitte, bitte. Ich tu alles dafür, ich versprech’s dir.«
Tracie schaute sich verlegen um. »Steh auf!«, zischte sie ihn an. Er wusste, dass sie Szenen in der Öffentlichkeit hasste, und genau darauf spekulierte er jetzt. »Jon, du hast eine tolle Wohnung und einen Superjob, und du wirst stinkreich werden, wenn du deine Aktienoptionen zu Geld machst.« Sie versuchte, die alte Frau mit dem Korb über dem Arm ebenso zu ignorieren wie den großen jungen Mann mit dem Wagen voller Bierdosen. »Steh endlich auf«, wiederholte sie. »Es gab doch schon jede Menge Mädchen, die dich mochten.«
Er stand nicht auf. »Aber nicht auf diese Art«, winselte er. »Es läuft nie auf diese Art. Die Frauen wollen mich höchstens als platonischen Freund oder als Mentor oder als großen Bruder.« Er versuchte, die Verbitterung aus seinem Tonfall herauszuhalten. Mit Verbitterung verkaufte man keine Projekte.
Tracie war auch eine dieser Frauen und in dieser Hinsicht sogar die Schlimmste von allen, aber das brauchte er nicht eigens zu erwähnen.
»Jetzt steh doch bitte auf«, bat sie wieder. »Die Leute gucken schon.« In Wirklichkeit waren die beiden verschwunden; in ihrer Nähe befand sich nur noch ein Angestellter, der sie nicht einmal beachtete, weil er viel zu sehr damit beschäftigt war, Preisschilder auf Grapefruits zu kleben. Tracie ließ ihn stehen. Gut so. Er würde ihre Verlegenheit gegen sie einsetzen. Er konnte es schaffen. Tracie schob den Wagen zur Kasse im vorderen Teil des Supermarkts. Wunderbar – jede Menge Leute. Jon half Tracie, die Waren aufs Band zu legen. Wieder ging er auf die Knie und jaulte laut: »Ich will interessante Mädels. Die ganz scharfen Mädels. Aber die wollen alle immer nur böse Jungs.«
»Steh auf«, zischte sie. »Jetzt übertreibst du wirklich.« Leider war es schon zu spät, um eine größere Menschenmenge um sich zu scharen. Er würde wohl seine Trumpfkarte ausspielen und an ihre angeborene Ehrlichkeit appellieren müssen.
»Komm schon, Tracie. Du weißt doch ganz genau, dass es so ist.«
»Also …«
Endlich starrte wenigstens die Kassiererin sie an. Dann zuckte sie mit den Achseln und tippte die Ware ein, während Tracie in ihrer Handtasche nach Geld wühlte. Jon seufzte, stand auf und starrte mit leerem Blick auf das Zeitschriftenregal. Ihm taten die Knie weh. Betteln war harte Arbeit. Dann sah er ein Exemplar von Gentleman’s Quarterly. Auf der Titelseite war ein junger Filmstar abgebildet, der sich gerade von seiner Freundin getrennt hatte, in aller Öffentlichkeit, direkt vor der Oscar-Verleihung. Jon schaute Tracie an und deutete auf die Zeitschrift. »Ich will so aussehen wie dieser Typ von Mann.«
»Es geht doch nicht nur ums Aussehen«, erklärte Tracie und nahm ihre Tragetasche. »Du siehst gut aus – auf deine nette Art.«
Er nahm ihr die Tüte ab, und sie gingen zusammen zum Ausgang. »Genau. Und der Knabe da sieht gar nicht nett aus. Er sieht scharf aus. Der hat am Muttertag bestimmt nicht seine Stiefmütter zum Essen eingeladen.« Dann drehte er sich wieder um und deutete auf den Kerl auf der Titelseite. »Du weißt doch sicher, was er gerade getan hat?«
Tracie warf einen Blick auf die Zeitschrift und antwortete achselzuckend: »Er hat seiner Freundin erklärt, dass er ab jetzt mit anderen Leuten zusammen sein möchte.« Dann ging sie hinaus.
Jon folgte ihr. »Das könnte ich auch! Ich meine, wenn ich eine Freundin hätte. Und wenn du mir dabei helfen würdest«, flehte er. »Betrachte es einfach als ein Forschungsprojekt.« Er rannte zurück, schnappte sich die Zeitschrift als Anschauungsstück, warf einen Fünfdollarschein auf das Band und rannte Tracie nach. »Du bist Expertin«, erklärte er. »Nur du bist in der Lage, das ganz miese Verhalten, das du so bewunderst, gewissermaßen zu destillieren und mir einzuimpfen.«
Tracie fummelte schon mit den Schlüsseln an ihrer Autotür herum. Sie nahm ihm die Einkaufstüte ab, öffnete die Tür und stieg ein. »Hör auf, ja?«, bat sie. »Du hast einfach eine zu große Dosis von deinem allwöchentlichen Selbsthass genommen. Morgen geht’s dir wieder besser.«
»Bestimmt. Spätestens, wenn ich Samantha sehe«, stimmte er düster zu. »Das wird mich sicher aufmuntern.«
»Ach Jon, setz dich auf dein Rad und fahr nach Hause«, riet ihm Tracie. Und das tat er dann auch.