37. Kapitel
Tracie hatte die ganze Nacht kein Auge zugetan, aber sie sah aus, als hätte sie eine ganze Woche nicht geschlafen. Sie war dabei ertappt worden, wie sie zu spät – viel zu spät – in die Arbeit kam, und sie war nicht einmal in der Lage gewesen, in der traditionellen Geste der Zerknirschung den Kopf einzuziehen. Als Marcus sie daher eine gute Stunde später in sein Büro rief, war ihr schon im Voraus klar, dass dies nichts Gutes bedeuten konnte. Sie hatte von Beth gehört, die es von Sara gehört hatte, die wiederum ein Gespräch zwischen Allison und Marcus belauscht hatte, dass Marcus wütend war, weil Allison ihm den Laufpass gegeben hatte. Das war sicherlich nicht dazu angetan, seine Laune zu verbessern. Er war ja so ein blödes Arschloch.
Aber so lächerlich Marcus und sein Liebesleben auch waren – ihres war noch schlimmer, sie hatte kein Recht, andere zu verurteilen. Molly hatte in allen Punkten Recht gehabt. Sie war dumm, und es deprimierte sie, wenn sie darüber nachdachte, wie sehr sie Jon verletzt hatte und selbst von ihm verletzt worden war und wie sie die wichtigste Freundschaft ihres Lebens ebenso zerstört hatte wie ihre einzige Chance, die wahre Liebe zu finden.
Denn sie liebte Jon wirklich – und das nicht nur, weil er jetzt auch noch gut aussah oder weil sie endlich entdeckt hatte, was für ein begnadeter Liebhaber er war. Sie hatte ihn immer schon geliebt und war lediglich zu dumm gewesen, das zu erkennen. Und dafür musste sie jetzt büßen, und das wahrscheinlich ihr Leben lang. Genau wie Beth hatte sie Jon mehr als ein Dutzend Mal anzurufen versucht. Diese Ironie des Schicksals war ihr nicht entgangen. Jon hatte sie nie zurückgerufen und auch ihre Anrufe im Büro nicht angenommen. Sie war sich nicht sicher, ob sie ihn dazu bringen konnte, ihr zu verzeihen.
Jetzt aber musste sie erst einmal zu Marcus und sich von ihm wahrscheinlich eine weitere idiotische Arbeit aufhalsen lassen. Marcus saß mit hochgekrempelten Ärmeln am Schreibtisch. Er wirkte, als wäre er mitten im Redigieren eines längeren Artikels. Sein blauer Filzstift hatte bereits sämtliche Lebensadern der Story durchtrennt, an der er gerade arbeitete. Er kritzelte so energisch darin herum, dass er sogar im Mundwinkel einen blauen Strich hatte, als hätte er seine eigene Rede redigiert, obwohl Tracie ihn zu gut kannte, um das zu glauben.
Sie sah ihn an und hatte plötzlich das Gefühl, keine einzige seiner Unverschämtheiten und Beleidigungen mehr ertragen zu können. Mit einem entschlossenen Schritt trat sie in sein Zimmer. »Ja, bitte?«, fragte sie.
»Dieser Vatertagsartikel war ziemlich gut«, gab Marcus zu. »Mit Allisons Hilfe natürlich«, fügte er hinzu, während sie einfach nur dastand und wartete. Schon seltsam, dachte Tracie; wenn erst mal das Schlimmste eingetreten ist, haben plötzlich andere Dinge, die einem vorher Angst gemacht haben, keine Macht mehr über einen. So ähnlich war es ihr bisher erst einmal ergangen – nach dem Tod ihrer Mutter. Die beiden Mädchen, die sie so gnadenlos neckten, ihr Lehrer, der ihr Angst einjagte, und selbst der Rottweiler am Ende ihres Häuserblocks in Encino konnten sie nicht mehr schrecken. Sollten sie doch machen mit ihr, was sie wollten, ihr war es egal. In gewisser Weise hatte ihr Elend auch etwas Friedvolles an sich gehabt, und das galt jetzt genauso. Sie blickte Marcus seelenruhig ins Gesicht und machte sich auf alles gefasst.
»Aber natürlich. Ohne sie hätte ich das nie geschafft. Nur schade, dass er so gekürzt wurde«, erklärte sie ruhig. »Vielleicht könnte mein nächster Artikel wieder länger sein. Und möglichst keinen Feiertag zum Thema haben.«
»Abgemacht«, sagte er verdächtig freundlich. Er nahm die Papiere, an denen er gerade arbeitete, und warf sie auf das Sideboard. »Setzten Sie sich«, sagte er.
»Nein, danke«, antwortete sie und lehnte sich an den Türpfosten. Früher hätte sie das aus reiner Aufsässigkeit getan, aber jetzt war ihr einfach alles egal.
»Folgendes: Ich werde die Verwandlung des Langweilers bringen. Der Artikel ist wirklich witzig«, sagte er. »Ich dachte, wir ergänzen ihn mit ein paar Parallelen zu Prominenten wie Ted Waite, Steve Balmer von Microsoft und vielleicht Marc Grayson, dem Chef von Netscape. Und vielleicht Kevin Mitnick, dem Hacker, der gerade aus dem Gefängnis entlassen worden ist. Ich dachte, wir zeigen ihn in seinem orangefarbenen Overall als ›Vorher‹-Beispiel, und dann lasse ich von der Fotoabteilung eine Montage mit allen dreien unter der Rubrik ›Nachher‹ machen. Mitnick muss jetzt ein Mädchen finden, das ihn aushält, weil sie ihm nicht einmal mehr bei McDonalds eine Arbeit geben würden. Armer Teufel. Wer vom Computer lebt, kommt durch den Computer um.«
In diesem Moment wünschte sich Tracie, Marcus käme durch seinen Computer ums Leben. Ihr ganzes inneres Gleichgewicht und ihre Ruhe hatten sich mit einem Schlag in Luft aufgelöst. Jon würde ihr nie verzeihen, was sie getan hatte, aber wenn der Artikel auch noch veröffentlicht wurde, brachte er entweder sie oder sich selbst um. »Sie können den Artikel nicht veröffentlichen«, sagte sie.
»Jetzt hören Sie mir mal zu«, sagte er. »Ich weiß von Ihren kleinen Gesprächen mit dem Seattle Magazine. Aber Sie können da nicht veröffentlichen, wenn ich den Artikel für unser Haus reklamiere. Wir haben eine Option darauf, und außerdem haben Sie die Sache mit Sicherheit während Ihrer Arbeitszeit geschrieben.«
»Marcus, Sie können die Story nicht veröffentlichen«, wiederholte sie.
Er nahm den Papierstapel vom Sideboard und hielt ihn ihr unter die Nase. »Nach der ganzen Arbeit, die Sie hier reingesteckt haben? Und was ist mit der Zeit, die ich investiert habe? Das ist das einzig Gute, was Sie bisher geschrieben haben.«
»Marcus, Sie können das nicht bringen...« Wie sollte sie es ihm erklären? Und warum sollte sie überhaupt versuchen, einem Idioten wie ihm etwas zu erklären? »Es... es würde Leute verletzen«, sagte sie.
»Oh. Na gut«, sagte er in seinem sarkastischsten Tonfall. »Wenn es natürlich Leute verletzen würde...«
Sie schaute ihn an und merkte, dass sie ihn keine Minute länger ertragen könnte. Er war ein egoistischer, selbstgefälliger, tyrannischer Pfuscher, und sie hatte ihn gründlich satt.
»Hören Sie, wenn Sie das veröffentlichen, kündige ich«, erklärte sie.
»Tatsächlich?«, sagte Marcus im selben überheblichen Ton. »Da hätte ich eine bessere Idee: Sie sind gefeuert.«
»Na wunderbar«, sagte sie, jetzt wieder ganz ruhig.
Manchmal war die totale Trostlosigkeit, die völlige Leere das Beste. »Dann kann ich ja gleich meinen Schreibtisch ausräumen.«
 
Jedem Beobachter wäre allein auf Grund der Abfälle auf dem Bett klar geworden, dass Tracie dort schon seit Tagen lag. Die Überreste von Pizza, leere Eiscremebehälter, halb volle Zerealienschachteln, Zeitschriften, zerknitterte Zeitungen und Bücher sprachen eine unmissverständliche Sprache. Lesen fiel ihr schwer; die meiste Zeit weinte sie nur oder schlief oder sah sich im Fernsehen Ricky Lake an. Manchmal sah sie auch Jerry Springer, aber danach ging es ihr nur noch schlechter. Heute traten bei Ricky Geschwisterpaare auf, die miteinander schliefen und wollten, dass die Welt ihre Liebe anerkannte. Ihr war schlecht, sei es nun von der Sendung oder von der Eiscreme, die sie zusammen mit Ritz-Crackern gegessen hatte. Sie schaltete deshalb mit der Fernbedienung aus, drehte sich zur Seite und zog sich eine Decke über den Kopf. Das Telefon klingelte, und sie hörte zu, wer ihr eine Nachricht hinterließ, aber da es nicht Jon war, nahm sie das Gespräch nicht an.
Sie war wohl für eine Weile eingedöst, wachte aber wieder auf, als sie das Türschloss rasseln hörte. Bis sie unter der Decke hervorgekrochen war, stand Laura bereits im Schlafzimmer und sah sich um. »Wow. Sieht ja schlimmer aus, als ich gedacht habe. Ich hab alles gekauft, was du wolltest, außer dem Babybrei. Das war mir dann doch zu dekadent.«
»Eigentlich solltest du nur einkaufen, nicht denken«, sagte Tracie.
Laura setzte sich ans Fußende des Betts, stand wieder auf, um einen Teller mit Toastkrümeln wegzuräumen, und setzte sich wieder. »Hör mal, ich weiß ja, wie schlecht es dir geht. Vielleicht hast du es dir mit Jon ja für immer verdorben, aber eigentlich glaube ich, dass ihr zwei das schon wieder hinkriegt«, erklärte sie Tracie. Die aber stöhnte nur. »Trotzdem, irgendwann musst du wieder aus dem Bett«, fügte Laura hinzu.
»Muss ich nicht«, widersprach Tracie. »Ich hab keinen Job, also muss ich nicht zur Arbeit. Zum Fitnessklub gehe ich auch nicht mehr. Und bis ich mir wieder die Haare schneiden lassen muss, vergehen mindestens noch zwei Jahre. Also kann ich auch gleich im Bett bleiben.«
Laura schaute in die Einkaufstüte, zog ein Päckchen Cracker heraus, öffnete es, warf sich eine Hand voll in den Mund und gab Tracie den Rest. »Aber was wird dann aus dir?«, fragte sie.
»Solange die Pizza geliefert wird und genug Geld da ist, um sie zu bezahlen, bleibe ich liegen«, erklärte Tracie. »Ich hab mein Leben ruiniert. Molly hatte Recht. Ich bin eine Idiotin.«
Laura stand auf, ging zur Kommode und holte Brot, Frischkäse sowie ein mit Mickymäusen verziertes Glas Traubengelee aus der Tüte. Sie öffnete beide Brotaufstriche, legte die Brotscheiben aus und strich zwei Sandwiches, wobei sie die Finger als Messer benutzte. »Molly ist eine weise Frau. Und eine nette Chefin.« Sie gab Tracie ein Sandwich.
»Ummm.« Das weiche Weißbrot, der sahnige Käse und die Süße des Gelees trösteten Tracie ein wenig. Bevor sie schluckte, setzte sie sich im Bett auf. Sie wollte zwar sterben, aber nicht so wie Mama Cass von den Mamas & Papas, die mit zweiunddreißig einem Herzanfall erlegen war.
Laura setzte sich neben sie und biss von ihrem eigenen Sandwich. »Was hat Molly denn gesagt?«
Von Tracies Brot tropfte ein wenig Gelee auf die Bettdecke. Sie wischte es mit dem Zeigefinger weg und leckte ihn ab. »Sie hat mir erklärt, ich würde meine Zeit mit Idioten verschwenden, und das, obwohl Jon mich liebt. Und dass Jon die ganze Zeit da gewesen ist, und ich nur hätte zugreifen müssen, ich es aber nicht zu schätzen gewusst hätte.« Sie biss noch einmal vom Sandwich ab. Wenn sie sich weiter darauf konzentrierte, es zu bedauern, dass das Sandwich bald aufgegessen sein würde, brauchte sie nicht daran zu denken, wie sehr sie die Sache mit Jon bedauerte. »Warum sind wir Frauen eigentlich immer hinter bösen Jungs her?«, fragte sie Laura. »Warum sorgen wir immer dafür, dass wir leiden, wo es doch auch nette Männer gibt? Warum sehen wir die nicht?«
Laura zuckte mit den Achseln. »Weil Gott ein Sadist ist?«, fragte sie und stand auf, um noch zwei Sandwiches zu streichen.
Tracie ignorierte ihren Einwurf. »Warum glaubst du, dass du Peter geliebt hast und ich dachte, dass ich Phil liebe, und Beth dachte, Marcus ist es wert, sich seinetwegen verrückt zu machen?«
Laura gab ihr ein Sandwich, lehnte sich auf dem Bett zurück und schlug die Beine übereinander. »Das ist wohl einer jener hässlichen kleinen Scherze, die sich die Natur mit den Frauen erlaubt. Eine Phase, durch die wir einfach durch müssen, so wie die Wechseljahre.«
Sie biss in ihr zweites Sandwich. »Und die schlimmste Ironie daran ist, dass wir in ungefähr fünf Jahren verzweifelt nach netten Jungs zum Heiraten suchen. Aber dann sind alle, die wir in der Schule oder im Studium oder danach haben abblitzen lassen, natürlich längst vergeben – all die Pfeifen wie Bill Gates oder Steven Spielberg oder Woody Allen. Die Jungs, mit denen zwanzig Jahre lang keine halbwegs attraktive Frau etwas zu tun haben wollte, die aber jetzt mit Filmstars und Models ins Bett steigen, weil sie so clever, reich und mächtig sind.«
Tracie warf sich in ihre zerwühlten Kissen zurück und legte sich das Sandwich mit Frischkäse und Gelee auf die Brust. »Ich hab mein ganzes Leben vergeigt. Ich werde einsam und elend sterben.«
Laura zuckte mit den Achseln. »Und was ist mit Phil? Du brauchst doch nicht allein zu sein. Du könntest bestimmt mit Phil zusammenbleiben, auch wenn er noch nie etwas veröffentlicht hat und arbeitslos ist und über ein reichlich bizarres Selbstwertgefühl verfügt.«
Tracie hörte sich diese Beschreibung an. »Vorsicht, sonst verliebe ich mich gleich wieder in ihn.»Nach kurzem Nachdenken schüttelte sie entschieden den Kopf. »Phil! Der langweilt mich schon lange. Ich hab’s nur nicht gemerkt.«
»Ach, ich weiß nicht«, meinte Laura. »So schlecht finde ich ihn gar nicht. Er ist irgendwie -«
Tracie unterbrach sie, indem sie sich abrupt aufsetzte. Die beiden Sandwichhälften flogen über das halbe Bett, prallten an Lauras Arm ab und landeten schließlich wieder auf der Bettdecke. »Und weißt du, was mich fast wahnsinnig macht? Ich kann einfach nicht glauben, dass ich Jon nie richtig wahrgenommen habe, bis ich ihn aufgemöbelt und damit all die anderen Mädels auf ihn aufmerksam gemacht habe.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich hab erst kapiert, was ich an ihm habe, als ich ihn schon ruiniert hatte.«
Laura hob die beiden Sandwichhälften auf und reichte sie Tracie, die aber den Kopf schüttelte. Wenn sie noch mehr aß, musste sie sich übergeben, und da sie nicht die Absicht hatte, das Bett zu verlassen, malte sie sich die Folgen davon lieber nicht so genau aus. »Ich liebe ihn, aber ich verdiene es, für den Rest meines Lebens allein zu sein.« Dann ließ sie sich wieder zurückfallen. »Glaub mir, es ist besser so für die Welt«, fügte sie noch hinzu und starrte zur Decke.
»Sieh doch mal das Positive«, meinte Laura munter. »Immerhin hast du endlich kapiert, dass du ihn liebst. Ich weiß das schon mindestens ein Jahr lang.«
»Mach nur so weiter. Du bist ja so clever. Wenn du mir das schon damals gesagt hättest, könnte ich ihn heute haben. Aber jetzt muss ich mich hinter Allison, Beth, Samantha, Enid und Ruth anstellen.«
»Wow!«, staunte Laura. »Die sind alle süchtig nach ihm? Nur gut, dass er nie mit mir geschlafen hat.« Sie hielt einen Augenblick inne, als überlegte sie, ob sie sagen sollte, was ihr gerade in den Sinn gekommen war. Wie immer entschied sie sich gegen die Diskretion. »War er im Bett so gut, wie Beth behauptet hat?«
»Besser.« Tracie stöhnte, begann zu heulen und zog sich die Decke über den Kopf. Wenige Minuten später hatte sie sich wieder unter Kontrolle; sie wischte Augen und Nase an der Decke ab und lugte dann darunter hervor. Laura saß noch immer auf dem Bett.
»Tracie, ich glaube nicht, dass das gut für dich ist«, sagte sie, was die Untertreibung des Jahres war. »Bist du ganz sicher, dass es mit Jon aus ist? Willst du wirklich nie mehr deine Wohnung verlassen?«, fragte sie.
Tracie nickte. »Das steht nicht zur Debatte, Laura. Ich habe mich selbst als Geisel genommen und komme nicht mehr lebend aus dieser Wohnung heraus.«
Laura nickte und zuckte mit den Achseln. »Dann ist es dir vermutlich auch egal, dass etwas anderes wirklich Schlimmes passiert ist. Schlimmer als dein Streit mit Jon.«
»Was? Was könnte schlimmer sein als das?«, fragte Tracie.
»Der Artikel ist veröffentlicht worden.«
Tracie sprang auf wie unter Strom. »Das gibt’s doch gar nicht!«, sagte sie. »Marcus hat mich zwar gefeuert, aber er würde doch nie -«
Laura holte die Zeitung aus der Papiertüte und warf sie aufs Bett. »Anscheinend doch.« Sie nahm die Zeitung und begann zu blättern. »Seite eins in der Rubrik ›Leben heute‹«, sagte Laura.
Tracie riss ihr die Zeitung aus der Hand, warf einen Blick auf den angerichteten Schaden und stöhnte. Der Artikel nahm die ganze erste Seite ein und ging auf den Seiten drei und vier weiter. Er enthielt auch die lächerlichen Verwandlungen des Hackers und der High-Tech-Manager. Tracie stöhnte erneut. »O Gott. Jetzt kann es keine Versöhnung mit Jon mehr geben. Er wird nie mehr mit mir reden. Verfluchter Marcus! Dieser verlogene Dreckskerl!« Sie überflog den Artikel. »O nein. Der beste Mann aller Zeiten, und ich hab eine Witzfigur aus ihm gemacht.«
In diesem Augenblick hörte Tracie, wie die Türschlösser nacheinander geöffnet wurden. Ein paar Sekunden lang dachte sie, es sei Jon, bevor ihr klar wurde, wer das sein musste. »O Gott! Phil ist hier.« Tracie hörte, wie das letzte Schloss aufgesperrt wurde, bevor sich die Wohnungstür öffnete und Phils Schritte durchs Wohnzimmer hallten.
Er trat ins Schlafzimmer, aber das war ein anderer Phil. Er sah aus wie das Objekt einer ganz anderen Verwandlung. Er hatte sich das Haar schneiden lassen, und sein ganzes Auftreten wirkte ordentlicher, auch wenn nichts davon zusammenpassen wollte. Er trug zwar noch immer Jeans, aber dazu ein Sportsakko. Einen Aktenkoffer hatte er auch dabei. Er trat ans Bett, ohne Tracies Zustand oder den allgegenwärtigen Abfall zu registrieren. Er machte sich zwischen all dem Müll einfach einen Sitzplatz frei und setzte sich neben sie. Tracie war zu erschöpft, um einen Kommentar abzugeben, doch Laura ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen. »Phil, bist du das?«, fragte sie.
»Hallo, Laura«, sagte er fröhlich. »Hey, Tracie, fällt dir an mir was auf?«
»Warst du beim Friseur?«, fragte sie. »Dein Haar ist auch zu kurz.«
Er lächelte. »Daran gewöhnst du dich schon. Außerdem ist das nicht die einzige Veränderung. Ich hab einen Job.«
Laura stand auf. »Hey, Leute, ich geh jetzt besser. Ich hab Spätschicht im Java, The Hut. Tracie, ruf mich später mal an.« Sie bückte sich und rieb Tracies Fuß, bevor sie das Zimmer verließ.
Allein in einem schmutzigen Bett mit Phil überkamen Tracie klaustrophobische Gefühle.
Phil lächelte sie an, als wäre sie bildhübsch mit ihrem gemetzelten, fettigen Haar, in ihrem ältesten Nachthemd und der schmutzigen Bettdecke. »Tracie, du hast die Wette gewonnen«, sagte er. »Ich hab den Artikel gesehen und bin jetzt bereit für etwas Dauerhaftes.«
»Yeah, dauerhaft. Dauerhaft ist für mich genau richtig«, war alles, was Tracie dazu sagen konnte.
»Toll. Hier bin ich also. Ich hab schon meine Sachen gepackt für den Umzug.«
Tracie stöhnte und drehte sich im Bett um. »Ist ja gut, Phil. Die Idee mit der Wette war schwachsinnig. Man sollte nicht mit dem Leben von Menschen spielen, nur um eine Wette zu gewinnen.«
»Schwachsinnig oder nicht – ich bin jedenfalls bereit einzuziehen«, erklärte Phil.
Tracie gab keine Antwort. Ihr Leben war zu einem einzigen Albtraum geworden. Sie lag nur unter der Bettdecke und schwor sich, sich nie mehr zu rühren und nie mehr ein Wort zu sprechen.
»Hey, bist du krank oder was?«, fragte Phil. Tracie wusste zwar längst, dass er viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt war, aber für einen Schwachkopf hatte sie ihn bis vor kurzem nicht gehalten. Phil zog die Decke von ihrem Kopf zurück, und obwohl sie versuchte, sie festzuhalten, war er zu schnell für sie. Dann griff er in seinen Aktenkoffer und holte eine Papiertüte und ein schwarzes samtenes Schmuckschächtelchen heraus, das er Tracie überreichte. »Mit dem hier geht’s dir bestimmt gleich viel besser.«
Tracie verdrehte die Augen. »Phil, ich hab mit den Muffins Schluss gemacht, und noch ein Gitarrenblättchen brauch ich im Augenblick auch nicht.«
»Das ist kein Gitarrenblättchen«, verprach er. »Mach’s doch mal auf.« Tracie gehorchte. In der Schatulle war ein traditioneller Verlobungsring mit einem winzigen Diamanten. Sie musste sich zusammennehmen, damit ihr nicht der Mund offen stehen blieb. Kein Wunder, dass Phil als Bassgitarrist nie Erfolg gehabt hatte. Er hatte das schlechteste Timing der Welt.
»Heirate mich, Tracie«, sagte Phil. »Ich liebe dich.«
Tracie schaute erst den Ring und dann Phil an und brach in Tränen aus. Ihre eigene Dummheit frustrierte sie so sehr, dass sie sich am liebsten den Kopf abgerissen hätte.
Phil nahm Tracie liebevoll in die Arme. »O Baby, ich weiß. Ich liebe dich auch«, erklärte er. »Tut mir Leid, dass ich es dir so schwer gemacht habe. Ich musste wohl erst erwachsen werden. Du weißt schon – mehr an andere Leute denken und so.« Tracie schluchzte noch lauter, und er hielt sie noch fester in den Armen. »Ist ja gut«, sagte er, aber natürlich war gar nichts gut. »Danke, dass du dich überhaupt auf mich eingelassen und mich so lange ertragen hast.« Er tätschelte ihr den Rücken. Tracie hasste es, getätschelt zu werden.
»Weißt du, Laura hat mir ein bisschen geholfen, mir über all das klar zu werden. Ich hab meine Prioritäten gesetzt, Tracie, und du bist meine Nummer eins.« Sie schluchzte noch mehr, aber er schien das gar nicht zu bemerken.
»Dein Artikel war echt gut. Du bist besser als Emma Quindlen.«
»Anna«, schluchzte Tracie, die jede Selbstbeherrschung zu verlieren drohte.
Phil schaute sie besorgt an. »Beruhig dich, Liebling. Und probier doch mal den Ring an.«
Sie brachte es nicht fertig; lieber hätte sie sich die Hand abgehackt. Der Mann, von dem sie so lange geglaubt hatte, dass sie ihn liebte, war nicht nur eine vollkommen lächerliche Gestalt, sondern ein Fremder. »Ich... Ich...« Sie versuchte, mit dem Weinen aufzuhören, wischte sich mit den Fingern Augen und Nase ab und schaute ihn an. »Phil, findest du, dass ich wunderschöne Ohrläppchen habe?«
Er zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung. Ist mir noch nie aufgefallen.«
Tracie fing wieder an zu heulen. Phil stand auf, streckte die Hand nach ihrem Schreibtisch aus und reichte ihr ein Kleenex. Dann wandte er ihr den Rücken zu und zog sein Sakko aus. Er legte es sorgfältig auf den Stuhl neben dem Bett und streichelte es wie einen braven Hund. »Ich muss gut auf das Baby hier aufpassen«, sagte er. »Ich glaube, die Jacke hat mir zu dem Job verholfen.«
»Was für ein Job?«, brachte Tracie gerade noch heraus.
Phil wandte sich wieder ihr zu, und zum ersten Mal sah sie das T-Shirt, das er unter seinem Jackett getragen hatte. Ein riesiges Logo von Micro/Con prangte darauf. Wortlos zeigte sie darauf und begann entsetzt, aus dem Bett zu krabbeln. »Was? Wie?«, stotterte sie. »Warum... bist du...«
Phil schaute stolz auf seine Brust. »O ja«, sagte er. »Sie haben mir nicht nur den Job gegeben, sondern auch noch das T-Shirt und Aktien im Wert von tausend Dollar. Da staunst du, was?«