14. Kapitel
Tracie saß Jon gegenüber und betrachtete ihn, wie
ein Künstler eine leere Leinwand betrachten mochte. Nun ja, dachte
sie, es wäre wirklich einfacher, wenn er eine leere Leinwand wäre.
Gekleidet war er zwar schon wesentlich besser – er trug ein
schwarzes Armani-T-Shirt, das fantastische Lederhemd und eine Levis
501 -, aber irgendwie passte das alles noch nicht so recht
zusammen. Seine langweilige Frisur, seine Brille und selbst seine
Körperhaltung waren einfach indiskutabel. Sie wusste jetzt schon,
was er bestellen und wie er es essen würde, und auch das war alles
andere als sexy. Vielleicht hat Phil ja Recht, dachte sie. Die
Wette gewinne ich nie, und eine Reportage hole ich aus dem Projekt
schon gar nicht raus.
Andererseits hatte sie sich noch vor keiner
Herausforderung gefürchtet. Es war damals auch nicht leicht
gewesen, den Magisterabschluss zu machen oder sich den Job bei der
Seattle Times zu sichern. Tracie seufzte. »Fangen wir an«,
sagte sie zu Jon. »Wenn zwei sich verabreden, gehen sie oft ins
Restaurant, also musst du darauf vorbereitet sein.«
»Und wie?«, fragte er. »Ich habe doch schon meine
Am-Ex-Karte.«
»Nein, nein. Damit meine ich, dass du dich...
angemessen verhalten musst. Frauen merken alles. Du musst zum
Beispiel das Richtige essen.« Sie schrieb eine entsprechende Notiz
auf einen Zettel.
»Das Richtige?«, wiederholte Jon. »Was meinst du
damit?«
Tracie seufzte noch einmal, bevor sie konkret
wurde. »Du wirst nie mehr verlorene Eier oder einen Maissalat
bestellen. Verlorene Eier sind einfach nicht sexy.«
»Weißt du, eigentlich mag ich gar keine verlorenen
Eier«, gestand Jon. »Mir gefällt es nur immer, wenn Molly schreit:
›Adam und Eva auf einem Floß‹. Das klingt so romantisch.«
»Auch nur für dich«, erklärte Tracy. »Verlorene
Eier sind was für Invaliden oder Kleinkinder, aber nicht für harte
Männer.«
Jon starrte an die Decke, als stünde dort etwas
über das verlorene Eierglück. Dann fragte er gereizt: »Und was ist
gegen Maissalat einzuwenden? Ich ess das Hähnchen nicht mal.
Außerdem schmeckt mir Maissalat.«
»Aber noch mehr schmeckt es dir, wenn es zu einem
zweiten Date kommt«, murmelt Tracie, über den Tisch gebeugt.
Dem konnte er nicht widersprechen. »Keine
Frage.«
Tracie lächelte. Der Junge war wirklich hoch
motiviert und zollte ihr dazu auch noch den nötigen Respekt. Wer
weiß, vielleicht brächte sie ihn mit einer kräftigen Dosis
Zuckerbrot – mit anderen Worten: Sexappeal – doch noch dazu, kein
solcher Esel zu sein. »Eines muss dir klar sein: Entscheidend ist,
was Frauen auf deinem Teller sehen, vor allem beim ersten
Rendevous.« Sie lehnte sich auf ihrer Sitzbank zurück. »Essen ist
wie Sex: Du musst zugleich den Eindruck von Stärke und
Selbstbeherrschung erwecken. Gefragt ist Spontaneität mit einer
Prise Gesundheitsbewusstsein.«
John starrte sie an. Das alles klang gut, aber auch
verwirrend. Tracie legte eine Kunstpause ein. Sie war von sich
selbst nicht weniger beeindruckt, als Jon es war. Sie kritzelte die
Essenz dessen, was sie gerade von sich gegeben hatte, auf einen
weiteren Haftnotizzettel. Dann fiel ihr wieder ein, mit wem sie es
zu tun hatte, und blickte erschrocken auf. »Und verrate ihnen um
Gottes willen nicht, dass du Veganer bist.«
»Ich bin kein Veganer«, protestierte Jon.
»Ich hab’s dir doch erklärt. Veganer essen keine Milchprodukte und
auch keine Eier. Ich bin Vegetarier.«
Tracie verdrehte die Augen. »Ist doch völlig egal.
Jedenfalls behältst du’s für dich.« Dann fuhr sie fort, weil sie
ihn nur zu gut kannte: »Und versuche nicht, ihnen den Unterschied
zu erklären.
Denk dran: Du bist kein Oberlehrer, sondern eine Sexmaschine.« Sie
nickte und schrieb: »Lehrer-Nein. Sexmaschine-Ja« auf einen
weiteren Zettel.
»Und was bestellt eine Sexmaschine zu essen?«,
fragte Jon. »Rohes Fleisch?«
Molly, die die beiden aus den Augenwinkeln
beobachtet hatte, während sie an einem Tisch im Hintergrund ihr
eigenes Essen einnahm, stand auf und kam auf sie zu. Tracie machte
sich schon auf die üblichen Feindseligkeiten gefasst. »Teufel noch
mal«, sagte Molly und hob die Brauen fast bis zum Haaransatz, »du
haust mich um«. Dann beugte sie sich zu Jon hinab und gab ihm einen
Kuss auf den Mund – natürlich nur, um Tracie zu ärgern, wie diese
genau wusste. Jon lächelte zu Molly hoch. Wenn er lächelte, war Jon
sogar mit seiner schrecklichen Brille irgendwie süß, das musste
Tracie zugeben.
Es war einfacher, mit den Wölfen zu heulen. »Molly,
könntest du hier mal aushelfen?«, bat Tracie. »Tu einfach so, als
wärst du eine Kellnerin.«
»Klar doch, Süße. Wenn du endlich aufhörst, so zu
tun, als würdest du Trinkgeld geben.« Molly richtete sich zu voller
Lebensgröße auf, straffte die Schultern und streckte ihren
beträchtlichen Busen vor. Mit hoher Stimme sagte sie: »Mein Name
ist Molly. Ich werde Sie heute Abend bedienen. Unsere Spezialitäten
sind Gemüselasagne und Kalbsschnitzel in Käserahmsoße, und unser
Wasser wird frisch gezapft. Darf ich Ihnen für den Anfang schon mal
etwas zu trinken bringen?«
Jon lachte, was Tracie irritierte, denn schließlich
handelte es sich hier um ein ernsthaftes Projekt. Warum musste
Molly mit Jon eigentlich immer flirten? Und warum schien ihm das so
gut zu gefallen? Sie war viel zu alt für ihn und... Männer! Tracie
beschloss, sich über diese unwürdige Angelegenheit einfach keine
Gedanken mehr zu machen. »Ich hätte bitte gerne einen Cappuccino«,
sagte Jon.
Tracies Daumen zeigte nach unten. »Nein. Von jetzt
an trinkst du nur noch Bier, Bourbon oder Kaffee – und zwar
schwarz.«
Erneut zog Molly die Brauen hoch.
»Aber ich kann schwarzen Kaffee nicht ausstehen!«,
protestierte Jon.
»Keine Freundin zu haben kannst du noch viel
weniger ausstehen«, erinnerte ihn Tracie.
»Schachmatt«, resignierte Jon. Dann drehte er sich
zu Molly um, zuckte mit den Achseln und schnitt eine Grimasse.
»Also gut, ein Bier bitte.«
»Kann ich bitte Ihren Personalausweis sehen?«,
fragte Molly zu Tracies Entsetzen. Jon begann tatsächlich, in
seiner Brieftasche zu wühlen, als Molly hinzufügte: »War nur’n
Scherz.«
Tracie hätte am liebsten geweint. Oder gelacht. Jon
auf ein Date zu trimmen – mein Gott! Sie sah ihn an. Vielleicht war
es ja doch möglich. Sie seufzte. »Für mich auch eins. Brauchen Sie
meinen Ausweis auch?«, fragte sie Molly.
»Träum weiter, Süße. Sollen das jetzt Als-ob-Biere
sein oder echte?«
»Für mich ein echtes«, sagte Jon.
»Wie es euch gefällt«, sagte Molly und verschwand
zu Tracies Erleichterung Richtung Bar. Tracie hielt weiter den
Blick auf die Speisekarte gerichtet.
»Und nun zur Speisekarten-Etikette«, begann Tracie.
»Du sitzt also am Tisch und schaust dir die Speisekarte an.« Sie
demonstrierte es. »Sie bestellt Kalbsschnitzel in
Käserahmsoße. Und was machst du?«
»Ihr erzählen, wie die Kälber aufgezogen
werden?«
»Nein! Bloß keine politischen Tiraden«, warnte
Tracie.
»Schon gut, schon gut. Wir spielen Quiz, okay? Die
Antwort war falsch«, gab Jon zu. »Lass es mich noch mal probieren.«
Er überlegte und senkte seine Stimme zu einem tiefen Bass. »Ich
sage: ›Klingt gut. Das nehm ich auch.‹«
Tracie schaute ihn frustriert an und schüttelte den
Kopf. »Nein, auf gar keinen Fall. Du schaust sie tadelnd an, ziehst
die Brauen hoch und sagst: ›Das ist doch nicht Ihr Ernst? Ist das
nicht ein wenig zu... mächtig für Sie?‹«
Jon starrte sie einen Augenblick lang
verständnislos an, als wartete er darauf, dass bei ihm der Groschen
fiel. »Wieso sollte ich das denn sagen?«
»Um die Marschrichtung zu bestimmen. Um sie gleich
von Anfang an in die Defensive zu drängen. Um ihr klar zu machen,
dass du dir bereits Gedanken über ihre Oberschenkel gemacht hast.
Damit sie sich Sorgen macht, ihre Schenkel könnten dir nicht gut
genug sein.«
»Das alles passiert, wenn ich Kalbfleisch als
›mächtig‹ bezeichne?«, fragt Jon fast kieksend.
»Klar«, bestätigte Tracie. »Frauen – jedenfalls die
Frauen in diesem Land – halten sich grundsätzlich für zu dick. Mit
jedem Mund voll Essen schaufeln sie auch Schuldgefühle in sich
hinein. Mach was draus.«
Molly kam mit zwei Gläsern Bier und zwei leeren
Tellern. »Ich hab euch beiden zugehört. Lasst mich doch mal
rekapitulieren. Im Augenblick bin ich eine echte Kellnerin, die
echte Biere bringt, aber gleichzeitig tue ich auch so, als ob ich
eine Kellnerin wäre, und bringe Als-ob-Essen, aber kein
Kalbsschnitzel in Käserahmsoße.« Molly stellte die beiden leeren
Teller vor sie auf den Tisch. Dann schaute sie Tracie an. »Gegen
dich war Kafka ein Stümper.«
»Ignorier sie einfach«, befahl Tracie. »Also, was
sagst du jetzt zur Kellnerin?«
Jon zögerte. »Gar nichts. Du hast ja gerade gesagt,
ich soll sie ignorieren.«
»Molly sollst du ignorieren«, sagte Tracie
völlig frustriert. Sie wünschte, Molly würde endlich mit diesem
Augenbrauengeziehe aufhören und verschwinden. »Zur Als-ob-Kellnerin
sagst du: ›Einen Augenblick bitte.‹ Dann sagst du zu deiner
Begleiterin: ›Hat sie nicht wunderschöne Augen?‹«
»Wird auch höchste Zeit, dass dir das auffällt«,
meinte Molly.
Jon starrte Tracy an, als hätte sie ihn gerade zum
Cunnilingus mit einer Ente aufgefordert. »Moment mal, das hab ich
jetzt
nicht ganz verstanden. Ich soll der Kellnerin sagen, was meine
Begleiterin für schöne Augen hat?«
Tracie schüttelte ungeduldig den Kopf. »Nein. Nein!
Ich habe gesagt, du sollst deiner Begleiterin sagen, was die
Kellnerin für schöne Augen hat. Das wird sie entweder
furchtbar ärgern oder faszinieren. Oder auch beides zusammen.« Sie
legte eine kleine Kunstpause ein und dachte kurz über das nach, was
sie soeben gesagt hatte. »Viele Frauen wissen sowieso nicht, wo da
der Unterschied liegt.«
»Ich schon«, sagte Molly.
Tracie schlug sich mit der Hand gegen die Stirn.
»Na schön. Molly weiß es. Aber mit Molly bist du ja nicht
verabredet.« Tracie wünschte Molly mittlerweile zum Teufel. Wenn
sie mit Jon allein war, waren ihr ihre eigenen Ratschläge weniger
peinlich. In Mollys Gegenwart kam ihr alles reichlich absurd vor.
»Ich spreche hier von normalen Frauen«, stellte sie klar. »Und
jetzt werden wir uns mit der schönen Kunst des Komplimentemachens
befassen.« Tracie hielt kurz inne, um »Komplimente« auf ihrem
Zettel zu notieren.
»Warum darf ich mir eigentlich nicht auch Notizen
machen?«, jammerte Jon.
»Weil nur Dummköpfe Notizen brauchen«, fauchte
Tracie. Eigentlich sollte sie ihm von ihrer Idee mit der Reportage
erzählen, aber... na ja, später vielleicht.
»Aber du bist -«
»Konzentrier dich jetzt bitte.«
»Aber das ist alles so schrecklich viel auf
einmal.«
Dem musste Tracie zustimmen. Die Wette gewinne ich
nie im Leben, dachte sie. »Für den Anfang ist es fast einfacher,
wir haken erst mal ab, was du auf gar keinen Fall sagen darfst. Sag
einer Frau vor allem nie, dass sie schöne Augen hat.«
»Warum?«, fragte Molly und setzte sich zu Tracies
Missvergnügen an einen Tisch hinter ihnen, zum Bleiben
entschlossen.
»Jeder sagt Frauen, dass sie schöne Augen
haben«, erklärte
Tracie. »Wer hat eigentlich keine schönen Augen? Selbst Kälber
haben schöne Augen.«
»Daran denkst du aber nicht, wenn du Kalbsfleisch
isst, oder?«, fragte Jon.
»Hörst du jetzt vielleicht endlich mal mit deinem
blöden Kalbsfleisch auf?«, fauchte Tracie. »Der entscheidende Punkt
ist, dass du was Kleines herauspickst, ein winziges Detail.
Damit kriegst du sie rum.«
Jon dachte ein paar Sekunden nach. Sie beobachtete
ihn mit angehaltenem Atem und hoffte auf einen guten Einfall. Sein
Gesicht spiegelte aber nach wie vor nur Verwirrung wider. »Zum
Beispiel?«, fragte er schließlich.
Entnervt stieß Tracie die Luft aus. »Sei doch mal
kreativ. In deinem Job bist du das doch auch die ganze Zeit. Das
ist schließlich deine Spezialität.«
»Genau«, warf Molly ein. »Hast du an der Uni nie
kreative Komplimentik belegt?«
Jon ignorierte Molly Gott sei Dank und
konzentrierte sich auf Tracie. Sie starrte zurück, ihm direkt in
die Augen, die doch tatsächlich von einem sehr schönen Braun waren
– und seine Wimpern waren ja so schrecklich lang. Nicht zum ersten
Mal fragte sich Tracie, warum lange Wimpern so oft auf Männer
verschwendet wurden. Ihr Freund in der High School hatte auch
solche Wimpern wie Jon gehabt. Bei ihrer ersten Knutscherei hatte
er damit Schmetterlingsküsse in ihrem ganzen Gesicht verteilt.
Komisch. In all den Jahren hatte sie nie mehr an Gregg gedacht. Er
war so süß gewesen, ganz und gar nicht wie Phil.
»Hilf mir doch ein bisschen. Gib mir wenigstens
einen Tipp«, bat Jon. »Soll ich vielleicht sagen: ›Tolle
Schneidezähne haben Sie da?‹«
»Dann beisst sie dich höchstens damit«, grinste
Molly.
»Die Richtung stimmt schon so ungefähr, aber… ich
weiß ja auch nicht.« Tracie seufzte. »Schau mal, du musst einfach
ein Gefühl dafür entwickeln. Greif eine Einzelheit heraus – ihre
Augenbrauen oder ihre Nagelhäutchen.«
»Nagelhäutchen? Wozu das denn?«, fragte er.
Er sah, wie Tracies Gesicht einen träumerischen
Ausdruck annahm. »Der Typ da in der High School – mein damaliger
Freund Gregg – hat mir mal gesagt, ich hätte wunderschöne
Nagelhäutchen. Ich hatte zwar keine Ahnung, wovon er eigentlich
redete, aber dass er diese Kleinigkeit überhaupt registriert hat,
war ja so... so aufmerksam.« Sie schüttelte den Kopf und
schaute dann Jon an. »Das war echt geil.«
Molly streckte die Hände aus, betrachtete sie und
verglich sie mit Tracies Händen. »Ich geb’s nicht gern zu«, sagte
sie, »aber du hast wirklich schöne Nagelhäutchen.« Dann schaute sie
Jon an. »Sie ist gut«, gestand sie. »Völlig gaga, aber gut.«
Tracie lächelte. »Und jetzt ist es höchste Zeit für
das Video.«
»Jetzt? Tracie, ich kann jetzt keine Filme
anschauen. Ich habe jede Menge Arbeit.«
»Das gehört aber zu deinem Training«, erklärte
Tracie ihm, stand auf und ging. Ihm blieb nichts weiter übrig, als
die Rechnung zu bezahlen und ihr zu folgen.