35. Kapitel
Jon war nach Hause zurückgefahren, nachdem er sich
am Busbahnhof von seinem Vater verabschiedet hatte. Er war kaum
mehr die Treppe zu seiner Wohnung im obersten Stock hochgekommen,
so sehr hatten ihm die Knie gezittert. Obwohl ihm sein Vater in der
Rolle des leichtlebigen Frauenhelden nie gefallen hatte, konnte er
sich mit dem Anblick des armen, kranken, gebrochenen Mannes ebenso
wenig anfreunden. Jon hatte es geschafft, seine Wohnung zu
erreichen, ohne loszuheulen, nur um dort auf Allison zu treffen,
die mit nichts als seinem letzten Micro /Con-T-Shirt bekleidet,
noch immer auf seinem Sofa lag. Sie hatte den Fernseher
angeschaltet. Er musste seinen Schreck verbergen, weil er gar nicht
auf die Idee gekommen war, dass sie noch immer da sein
könnte.
»Wo bist du gewesen?«, fragte sie ohne jeden
Vorwurf, und er musste Small Talk und eine Reihe von Fragen über
seine Arbeit über sich ergehen lassen – wie lange er schon bei
Micro/Con sei, ob er Aktienoptionen besitze und welches Verhältnis
er zu den Firmengründern habe. Er konnte sie nicht einmal anlügen,
wie Tracies Regeln es von ihm verlangt hätten. Er versuchte einfach
nur, höflich zu bleiben, bis sie ins Schlafzimmer ging. Als sie
sich dann bückte, um einen Schuh aufzuheben, spürte er sich der
Lage allmählich wieder gewachsen und trat auf sie zu, um sich den
einzigen Trost zu holen, den sie zu bieten hatte.
»Ich dachte schon, du kommst nie mehr«, sagte
Allison mit einem süffisanten Lächeln.
Jon warf einen Blick auf sein Handgelenk, aber da
war noch immer keine Uhr, und so schaute er auf den Wecker neben
dem Bett. Allisons Körper wirkte wie eine Droge, mit der er die
Situation
seines Vaters schändlich rasch verdrängte, und so verlor er sich
in diesem Körper bis zur totalen Erschöpfung. Congreve hatte sich
geirrt: Es war eben doch nicht die Musik, die besser als alles
andere das wilde Herz zu besänftigen vermochte, sondern der
Twostepp in der Horizontale. Doch kaum war er aus seiner
postkoitalen Benommenheit erwacht, sah er wieder seinen Vater vor
sich, der sich seinen kahlen Kopf kratzte. Toller Vatertag. Und
dann fiel ihm ein, dass es Sonntagabend war und am nächsten Tag
wieder Parsifal auf ihn wartete und – mein Gott! Tracie! Mit einem
Schlag saß er senkrecht im Bett. Er hatte jetzt schon vierzig
Minuten Verspätung.
Er sprang aus dem Bett und begann, sich in rasender
Geschwindigkeit anzuziehen.
»Wo willst du denn hin?«, fragte Allison mit
schläfriger Stimme.
»Ich...äh... mir ist nur gerade etwas eingefallen«,
begann er. Was sollte er ihr sagen? Mir ist gerade eingefallen,
dass ich meine Freundin völlig vergessen habe? Mir ist gerade
eingefallen, dass ich mich mit einer anderen Frau treffen muss? Mir
ist gerade eingefallen, dass ich eigentlich gar nicht mit dir
schlafen will? »Ich...äh... habe meine Sachen im Wäschetrockner
vergessen«, sagte er lahm, während er mit dem rechten Fuß in den
Schuh glitt und sich seinen Sweater schnappte. Dann rannte er zur
Tür.
»Warte doch!«, rief Allison ihm nach. »Wann
sehe...«
Er fummelte am Schloss und an der Kette vor der Tür
herum, sodass er nicht hören konnte, was sie sagte. Tracie würde
ungeheuer wütend sein! Er konnte es selbst nicht glauben. In sieben
Jahren hatte er ihre Verabredung nicht einmal versäumt... und sie
auch nicht. Außer wegen seiner Notoperation am Blinddarm. Er schob
den Riegel zurück, drehte den Türknauf und bekam endlich die Tür
auf.
»Wann sehe ich dich wieder?«, fragte Allison von
der Schlafzimmertür aus. Sie hatte das Laken lose um sich
gewickelt; eine rosa Brustwarze spitzte hervor, und ihr Haar fiel
ihr wie ein blonder Wasserfall über die Schultern. Allison stemmte
die Hände in die Taille. »Du bist wirklich eine tolle Nummer«,
sagte sie.
Jon blinzelte ein paar Mal, während er ihre Worte
auf sich wirken ließ. »Bin ich das?«, fragte er erfreut. Sie sah
aus wie eine Göttin – eine Göttin, die er mit seinem Körper
angebetet hatte. Jon schüttelte den Kopf. Unglaublich! Einfach
unglaublich.
»Ich ruf dich an«, sagte er. Tracie wartete schon,
er musste wirklich gehen. Er schlug die Tür zu, rannte die Treppe
hinunter und stand schon wenige Sekunden später draußen im
Regen.
Er hatte Glück, denn im selben Augenblick kam ein
Taxi vorbei. Schon ziemlich nass geworden, hielt er es an und stieg
ein. »Zum Java, The Hut«, wies er den Fahrer an. »Aber bitte
schnell!«
Im Armaturenbrett war eine Uhr. Es war noch später,
als er gedacht hatte. Was sollte er tun, wenn Tracie schon wieder
gegangen war? Er hatte sein Fahrrad in der Gasse hinter dem Java
abgestellt; er konnte damit zu ihr fahren oder, falls er sie da
nicht antraf, die Straßen auf und ab radeln, bis er sie fand und
sich bei ihr entschuldigen konnte.
Doch irgendwie hatte er jetzt schon den Verdacht,
dass das womöglich nicht funktionieren würde – nicht etwa, weil er
sie nicht finden, sondern weil sie seine Entschuldigung nicht
akzeptieren würde. Sie hatte sich wahrscheinlich geschlagene
sechsundvierzig Minuten lang Mollys Spott anhören müssen. Er zuckte
zusammen bei dem Gedanken, was Molly Tracie alles an den Kopf
werfen könnte, wenn sie sie schon einmal allein antraf.
Er befürchtete, dass Tracie ziemlich wütend war,
und hätte sich nicht weiter gewundert, wenn sie Java, The Hut in
Brand gesteckt hätte – und alles andere, was ihr jetzt in die Quere
kam. Als das Taxi neben dem Coffee-Shop abbremste, wartete Jon
nicht einmal ab, bis der Wagen ganz zum Stehen gekommen war. Er
warf Geld auf den Vordersitz und dankte dem Fahrer, während er aus
dem ausrollenden Fahrzeug sprang. Er rannte hinten ums Taxi herum
und riss die Tür zum Restaurant auf. Er schaute zum Tisch hinüber,
an dem er und Tracie immer saßen. Als er sich umblickte, entdeckte
er Laura in der Tür zur Küche und Molly, die an einem der Tische
saß.
Was hatte Laura hier zu suchen? War Tracie so sauer
auf ihn, dass sie sich geweigert hatte zu kommen? Vielleicht kam er
gar nicht zu spät, weil Tracie ihn versetzt hatte. Im günstigsten
Fall war sie gerade auf der Toilette oder telefonierte mit Phil. Er
trat auf Molly zu, die gerade in einem Teller Rühreier
herumstocherte. Er packte sie am Arm. Sie schaute mit
ausdruckslosem Gesicht zu ihm auf, aber er wusste sofort
Bescheid.
»Sie war hier, stimmt’s?«, fragte er Molly
mutlos.
»Stimmt«, sagte Molly und wandte sich wieder ihren
Rühreiern zu.
Er konnte es einfach nicht fassen. Er hatte eine
altehrwürdige Tradition gebrochen. Er hatte ein furchtbar flaues
Gefühl im Magen und war völlig außer sich. »Molly, ich weiß, dass
ich ein Arsch bin«, räumte er ein, »und du weißt das auch. Aber
bitte sag mir doch, ob sie zu mir gefahren ist oder zu sich nach
Hause?«
Molly zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung«, sagte
sie. »Wir stehen uns nicht gerade nahe.«
Laura war von der Küche herübergekommen, und er
drehte sich zu ihr um. »Bitte, Laura«, war alles, was er sagen
konnte.
»Ich hab sie nicht gehen sehen, aber ich schätze,
dass sie zu dir unterwegs ist«, meinte Laura. »Und ein Messer hat
sie sich auch geborgt«, fügte sie hinzu.
Jon wusste nicht, ob das ein Scherz sein sollte,
aber das war ihm egal. »Ich hol mein Rad«, erklärte er Molly und
rannte, wie von der Tarantel gestochen, durch das Restaurant und
die Küche, wobei er fast ein Tablett mit Gebäck umstieß. Vor der
Hintertür lehnte sein Fahrrad angekettet an einem Geländer. Er ließ
in seiner Hektik erst den Schlüssel fallen und fummelte dann am
Schloss herum. Als er es endlich aufbekommen hatte, riss er das
Fahrrad herum und raste über das nasse Kopfsteinpflaster der Gasse
hinaus auf die Straße. Dort fegte ihm der Regen voll ins Gesicht,
sodass er mit gesenktem Kopf zu seiner Wohnung radeln musste.
Es war eine lange, kalte Fahrt, und da er seinen
Regenumhang
nicht dabei hatte, war er bis auf die Haut durchnässt, lange bevor
er nach Hause kam. Aber er fror nicht. Er schwitzte sogar, vor
Angst ebenso wie vor Anstrengung. Er musste sie einfach
erwischen, bevor sie wieder ging. An seinem Haus angekommen, war er
völlig außer Atem, und nun musste er auch noch die verdammte Treppe
hoch. Er nahm zwei Stufen auf einmal, um schneller zu Tracie zu
gelangen. Er keuchte, als er die Feuertür zu seinem Flur öffnete,
und sein Herz pochte gegen seinen Brustkorb. Es schien einen Schlag
lang auszusetzen, als er sah, dass der Flur leer war. Sie war schon
weg, und falls es ihm je gelang, sie zu finden, würde sie nur noch
wütender sein. Als er auf seine Tür zuging, wurde ihm klar, dass
sie bereits ziemlich wütend sein musste. Er sah das
Post-it-Spektakel, wirbelte aber herum, ohne die Zettel zu lesen,
und rannte die Treppe hinunter.
Am Fuß der Treppe angelangt, schnappte er sich sein
Fahrrad, verfluchte sich dafür, dass er kein Auto hatte, und
bugsierte das Rad wieder in den Regen hinaus.
Allmählich hasste er alles an sich und seinem
Leben. Warum war er ausgerechnet in Seattle zur Welt gekommen,
warum lebte er immer noch hier – in einer Stadt, in der es ständig
schüttete? Und warum war er nur so stur? Wieso hatte er sich nie
ein Auto zugelegt? Alle erwachsenen Menschen hatten ein Auto. Und
wie hatte er nur so dämlich sein können, seine Verabredung mit
Tracie zu vergessen?
Irgendwie hatte er Tracie immer als eine Art Waise
und sich selbst als ihre Ersatzfamilie betrachtet. Ihre Mutter war
tot, ihr Vater so gut wie. Sie hatte auf ihn gewartet, während er
neben einer nackten Fremden im Bett gelegen hatte. In all den
Jahren und mit all den Lovern, die sie gehabt hatte, hatte Tracie
ihre sonntägliche Verabredung nie – auch nicht ein einziges Mal –
ausfallen lassen. Was sollte er nur tun, wenn sie nicht nach Hause
gegangen war? War sie vielleicht bei Phil? Und wo wohnte Phil
überhaupt? Er konnte sich nicht an seine Adresse erinnern, falls er
sie überhaupt je gekannt hatte.
Der Regen rann ihm über das Gesicht und tropfte von
seinem
Kinn auf seine Brust. Es goss nun in Strömen, und er sah noch
weniger als zuvor. Er war nur noch einen Block von ihrem Haus
entfernt. Er trat noch kräftiger in die Pedale, als er plötzlich
wenige Meter vor sich die Bremslichter eines Autos sah. Er machte
einen Schlenker, um ihm auszuweichen, da er erkannte, dass es wegen
des starken Regens an den Straßenrand gelenkt worden war. Das war
knapp, dachte er noch. Ich sollte lieber etwas vorsichtiger fahren.
Er konnte es sich nicht leisten, nicht bis zu Tracies Wohnung zu
kommen.
Gerade als er um die Ecke von Tracies Straße bog,
sah er, wie ihr Wagen in den Parkplatz fuhr und sie ausstieg. Er
ließ sein Rad los, das daraufhin in einer Pfütze landete, aber das
war ihm egal. Er rannte auf sie zu und schrie: »Tracie! Tracie!«,
aber entweder hörte sie ihn nicht, oder sie ignorierte ihn ganz
bewusst.