28. Kapitel
Tracie saß mürrisch und gereizt an ihrem
Schreibtisch. Eigentlich hätte sie arbeiten sollen, doch seit der
Redaktionssitzung am Vormittag war ihr jegliche Motivation abhanden
gekommen. Statt mit einem neuen Entwurf zu beginnen, nahm sie das
Telefon und wählte Jons Nummer. Seit Tagen hatte sie schon nichts
mehr von ihm gehört. Sie war nicht nur neugierig, wie es bei ihm so
lief, sondern brauchte auch jemanden, bei dem sie sich abreagieren
konnte.
Bei niemandem konnte man sich so gut beschweren wie
bei Jon. Laura machte in solchen Fällen nur Scherzchen und
versuchte, sie aufzumuntern. Phil versuchte, sie abzulenken. Jon
aber hatte wahres Einfühlungsvermögen.
Tracie war schon immer von Pearl Harbour und dem
Zweiten Weltkrieg fasziniert gewesen. Der Vater ihrer Mutter war im
Pazifik gefallen, und auch ihr Großvater väterlicherseits hatte
dort gedient. Eine der wenigen Dinge, die sie in Encino immer
genossen hatte, waren seine Besuche gewesen, und jedes Mal hatte
sie ihn gebeten, ihr Geschichten vom Krieg zu erzählen. Deshalb war
es auch ein ziemlicher Schock für sie, als Marcus bei der Sitzung
am Vormittag einen Fortsetzungsartikel über die örtlichen
Weltkriegsveteranen an Allison vergeben hatte.
»Marcus, ich wäre bestens auf diese Story
vorbereitet. Ich habe noch Material, das ich in meinem Artikel über
den Memorial Day nicht unterbringen konnte«, hatte Tracie ihm
erklärt.
»Ich danke Ihnen für Ihr überaus großzügiges und
hilfreiches Angebot«, hatte Marcus erklärt, »aber ich bin mir ganz
sicher, dass Allison der Aufgabe gewachsen ist.«
Es war einfach unfair. Fast ein ganzes Jahr lang
war Tracie mit
den schwachsinnigsten Themen abgespeist worden, und jetzt entzog
er ihr auch noch eine Geschichte, für die sie sich wirklich
interessierte. Sie war so enttäuscht, dass sie Allison nicht einmal
mehr ansehen konnte, ohne sich vorzustellen, was diese für Marcus
hatte tun müssen, damit sie den Artikel bekam. Während der
Konferenz hatte Allison achselzuckend zu ihr herübergeschaut und
ihr ein Sorry-aber-was-soll-ich-machen-Lächeln zukommen lassen.
Tracie hätte ihr dieses Lächeln am liebsten mit Stahlwolle und ein
wenig Salzsäure aus dem Gesicht gerieben. Und um das Maß voll zu
machen, hatte Marcus ihr einen Artikel zum Thema Vatertag
zugeteilt. Als ob sie nicht wie die meisten Amerikaner ein
ernsthaftes Vaterproblem hätte. »Kann ich auch über Versagerväter
schreiben?«, hatte sie gefragt, aber Marcus hatte die Frage nur mit
einem Lachen abgetan.
Sie nahm den Hörer ab und gab abermals Jons Nummer
bei Micro/Con ein. Nicht nur war Jon noch immer nicht zu erreichen,
auch seine akustische Mailbox war voll, sodass Tracie ihm nicht
einmal eine Nachricht hinterlassen konnte.
»Hast du mal wieder was von Jonny gehört?«, fragte
Beth sie von der Tür aus.
Verdutzt sah Tracie zu ihr auf. »Nein«, zischte
sie. »Und wenn, dann würde ich es dir nicht sagen.«
»Oooh!«, säuselte Beth und machte sich davon. »Mit
dir redet man wohl besser erst wieder nach Feierabend.«
Tracie konnte kaum glauben, dass Beth ihre Stimmung
einfach mit einem Schulterzucken abtat und sich in ihr eigenes Büro
zurückzog. Normalerweise belästigte sie sie mindestens eine halbe
Stunde lang. Tracie hatte von Beth’ Erkundigungen nach Jon derart
die Nase voll, dass sie schon bereute, die beiden zusammengebracht
zu haben. Wie hätte sie auch wissen sollen, dass die Sache soweit
gehen würde? Aber mit ein bisschen Glück würde sich das Problem
bald von selbst lösen.
Zumindest war sie mit ihrem Verwandlungsartikel
ganz gut vorangekommen. Er musste nur noch einmal gründlich
redigiert werden und einen guten Schluss bekommen, aber ansonsten
fand
sie ihn recht witzig und prägnant, und auch die Fotos machten sich
prima. Sie fragte sich, ob sie wohl den Mut haben würde, den
Entwurf an das Seattle Magazine zu schicken. Dann dachte sie
einen Schritt weiter. Sie hatten Interesse bekundet. Warum sollte
sie es nicht gleich beim Esquire versuchen? Sie hatte noch
nie etwas in einer landesweit erscheinenden Zeitschrift
veröffentlicht. Sie sollte sich mal bei einigen Zeitschriften das
Impressum ansehen und worüber sie so berichteten.
Da fiel ihr wieder ein, dass sie einen Termin bei
Stefan hatte; wenn sie nicht bald aufbrach, würde sie für den so
dringend nötigen Haarschnitt noch zu spät kommen.
Zum Teufel mit Marcus, Allison und der
Times. Heute würde sie eine ausgedehnte Mittagspause
machen.
Die Musik plärrte aus den Lautsprechern, während
Laura, das Haar in hundert Streifen Alufolie verpackt, darauf
wartete, dass die Farbe einwirkte. In der Zwischenzeit schnitt
Stefan Tracie das Haar. »Nicht zu kurz«, wies Tracie ihn an. Stefan
hatte eine große Ausnahme gemacht und Laura erlaubt zuzuschauen,
wie er Tracies Haar stylte.
»Ich weiß«, sagte Stefan. »Immer dasselbe: nicht zu
kurz.« Er seufzte tief, als hätte er jedes einzelne Haar auf jedem
Kopf von Seattle gründlich satt. Tracie hoffte, dass Stefan nicht
schlecht gelaunt war, da ein schlecht gelaunter Stefan nicht
besonders gut war. »Und wie läuft dein kleines Experiment?«, fragte
Stefan, und einen Augenblick lang hatte sie keine Ahnung, wovon er
überhaupt redete. Dann fuhr Stefan fort: »Ich finde, er ist ein
richtig scharfer Smartie-Boy geworden.« Nun war Tracie klar, dass
er von Jon sprach. »Er war vor zwei Tagen da. Das Blau hat mir gut
gefallen, es steht ihm«, meinte Stefan.
»Jon war hier?«, fragte Tracie. »Jon ist von sich
aus hierher gekommen?«
»Ja, vor zwei Tagen«, erklärte Stefan noch
einmal.
Tracie konnte es kaum glauben. Erstens hatte John
erst vor kurzem die Haare geschnitten bekommen, und
zweitens...
»Wie hat er es geschafft, vor mir einen Termin zu
kriegen?«, fragte sie.
Stefan lächelte still in sich hinein und zuckte mit
den Achseln, was Tracie gerade noch aus den Augenwinkeln mitbekam.
»Dein Smartie-Boy kann eben sehr überzeugend sein.«
Laura kicherte. »Smartie-Boy?«, fragte sie. »Das
ist ja noch schlimmer als Lover-Boy. Nennst du ihn jetzt wirklich
so?«
»Nein«, fuhr Tracie sie an. »Ich nenne ihn in
letzter Zeit nur noch undankbar.«
Tracie konnte einfach nicht fassen, dass er sich
einen Termin hatte geben lassen. Sie konnte auch nicht fassen, dass
er für solche Sachen Zeit hatte, aber keine, um sie anzurufen. In
diesem Augenblick ging die Tür auf – und herein kam Beth. Das Haar
in einer Art farbiger Schlammpackung an den Kopf geklatscht, trat
sie in das reinweiße Allerheiligste.
»Keine Unterbrechungen, ich schneide«, knurrte
Stefan.
»Nicht zu kurz«, erinnerte ihn Tracie. »Beth, was
machst du denn hier?« Wie viele Leute konnten sich von der Arbeit
abseilen, ohne dass die Times dichtmachen musste – und waren
sie eigentlich alle hier? Saß Allison vielleicht gerade bei der
Kosmetikerin, während Sara zur Pediküre da war und Marcus eine
Dauerwelle bekam?
Beth ignorierte Stefan und kam zu ihr. »Zur
Zahnwurzelbehandlung werde ich wohl kaum hier sein.« Sie lächelte.
Es war ein breites, fröhliches Lächeln. Tracie wappnete sich schon
für die nächste Frage, bei der es mit Sicherheit um Jon ging, aber
Beth setzte sich einfach nur auf den Boden.
»Keine Zuschauer bitte«, sagte Stefan, schwang
seine Schere und schnipselte noch ein wenig von oben ab. Tracie
schaute nervös von Laura zu Beth. Wenn er zu viel abschnitt, würden
sie es ihr schon sagen. Zumindest hoffte sie das. Ganz ruhig,
dachte sie. Stefan ist der einzige Mann in Seattle, dem du wirklich
vertrauen kannst. Deshalb kommst du schließlich hierher, lässt dir
seine Eigenheiten gefallen und zahlst seine unverschämten Preise.
Trotzdem wünschte sie sich einen Spiegel.
»Beth, du solltest jetzt lieber gehen«, riet sie
ihrer Freundin nervös.
»Ach was«, meinte Beth. »In Wirklichkeit macht es
Stefan doch nichts aus.«
»Also, wie läuft die Sache mit Smartie?«, fragte
Stefan.
»Sehr gut. Fast schon zu gut«, erzählte Tracie.
»Mein Freund Jon hat viel Hilfe gebraucht, aber jetzt sieht er
richtig gut aus.«
»Viel zu gut«, stimmte Beth ihr zu.
»Man kann zu reich oder zu dünn sein, aber nie zu
gut aussehen«, belehrte Stefan sie.
»Er hat Recht.« Beth stöhnte.
»Ich dachte, du hasst ihn«, sagte Tracie. »Ist das
nicht der Typ, der nie zurückruft?«
»Er hat mich ja zurückgerufen, kurz nachdem ich mit
dir gesprochen habe«, erklärte Beth mit einem triumphierenden, aber
schuldbewussten kleinen Lächeln. »Deswegen bin ich ja hier. Das ist
ein Notfall.«
»Ich hoffe, du hast ihn ordentlich abblitzen
lassen«, sagte Tracie, auch wenn sie es besser wusste, denn wenn
Jon Beth angerufen hatte und mit ihr ausgehen wollte, dann war
klar, dass Beth mitging.
»Ich hab ihm erklärt, dass ich ihn liebend gern
heute Abend treffen würde«, äußerte Beth beglückt.
»Heute Abend? Erst ruft er dich tagelang nicht an,
dann will er noch am selben Abend mit dir ausgehen, und du sagst
auch noch zu? Du bist wirklich ein hoffnungsloser Fall«, erklärte
Tracie.
»Ich hab jetzt eine Erklärung«, sagte sie. »Jonny
ist eben sehr sensibel, und ich glaube, er hat einfach nur Angst,
zu viel für mich zu empfinden. Das hat ihn eben
verunsichert.«
Tracie und Laura tauschten einen Blick, und Laura
verdrehte hinter Beth’ Rücken die Augen.
»Er hatte einfach Angst vor seinen eigenen
Gefühlen. Das kommt bei Männern oft vor.«
»Meine liebe Beth«, sagte Tracie mit gütiger
Stimme, »du hast ihm bestimmt keine Angst eingejagt.«
»Darf ich vielleicht darum bitten, dass die
Psychologenkonferenz künftig an der Universität konferiert?
Meinetwegen auch im Irrenhaus. Hier nicht. Sprechen verboten!«,
erinnerte Stefan sie entschieden.
Beth beachtete ihn nicht. »Weißt du, er ist eben
noch immer traumatisiert durch den Tod seines Bruders«, erklärte
sie Tracie.
»Was denn für ein Bruder? Jon – Jonny ist doch ein
Einzelkind!«, sagte Tracie.
»Nein«, korrigierte Beth sie kopfschüttelnd. »Er
spricht nicht gern darüber. Außer mit mir.«
»Gott!«, stöhnte Tracie.
Laura verdrehte erneut die Augen und schnaubte
verächtlich. Tracie konnte es einfach nicht glauben. Sie hatte ihm
diesen Trick beigebracht, den Frauen eine dramatische Geschichte
aufzutischen – aber dass er es tatsächlich getan und damit auch
noch Erfolg hatte! Zwar nur bei Beth, die nicht gerade mit
lügendetektorischen Gaben gesegnet war, aber trotzdem!
»Bitte?«, fragte Beth und starrte Tracie an. »Oh,
sei deswegen bitte nicht beleidigt. Mir vertrauen viele Männer
Sachen an, die sie sonst niemandem erzählen.« Sie winkte. »Ich muss
gehen, sonst komme ich noch zu spät zu ihm.«
»Geh bloß weiter«, sagte Stefan, und Tracie fragte
sich, ob das ein Kommentar zu Beth’ Bemerkung sein sollte oder ob
er damit nur die kreative Leitung wahren wollte.
Sie rannte hinaus, und Stefan schnippelte mit einem
Geräusch, das halbwegs zwischen einem Seufzer und einem Stöhnen
lag, noch zweimal kurz an Tracies Haar.
Laura kniff die Augen zusammen und zuckte mit den
Achseln, bevor sie wortlos auf Tracies Kopf deutete. Tracie
befürchtete schon das Schlimmste. »Nicht vergessen: bloß nicht zu
kurz, okay?«, erinnerte sie Stefan erneut. »Ist das mit Beth nicht
unglaublich?«, sagte sie zu Laura.
»Ja, das macht sie bloß wieder für drei Monate
süchtig«, sagte Laura. »Aber dafür glaube ich, dass ich endlich
über Peter hinweg bin.«
»Na wunderbar!«, rief Tracie.
»Und ich glaube, ich möchte gern hier in Seattle
bleiben.« Und nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Ich suche
mir eine Wohnung.«
»Das ist ja phantastisch!«, sagte Tracie, und sie
meinte es auch so.
»Ja, ich dachte mir schon, dass dich das freut«,
sagte Laura. »Es muss dir ganz schön auf den Geist gegangen sein,
jemanden in der Wohnung zu haben, der nur rumhockt und Trübsal
bläst. Außerdem bin ich dir und Phil ja wohl etwas im Weg«, fügte
sie hinzu.
Tracie schüttelte den Kopf, doch als sie Stefans
schnelles Einatmen hörte, wusste sie, dass sie sich in einem
kritischen Augenblick bewegt hatte. »Tut mir Leid«, entschuldigte
sie sich bei Stefan. »Kein Problem«, sagte sie zu Laura, hatte aber
gleichzeitig ein schlechtes Gewissen, weil sie erst kürzlich genau
dasselbe gedacht hatte.
»Ich weiß ja, dass du mich auf Dauer nicht bei dir
wohnen haben möchtest...«
»Du bist mir jederzeit willkommen«, sagte
Tracie.
»Wo ich herkomme, sagt man: Gäste sind wie Fische,
nach drei Tagen fangen sie an zu stinken«, warf Stefan ein und
schnippelte ein weiteres Fitzelchen ab.
»Also jedenfalls kann ich mir ohne Job keine
Wohnung leisten, und ohne Eigenkapital kann ich auch keinen
Catering-Service aufziehen, aber in einem Brunchlokal suchen sie
gerade eine Köchin und -«
»Du hast eine Arbeit?«, fragte Tracie, überrascht
und erfreut zugleich.
»Ja. Ich habe mit der Besitzerin gesprochen. Wir
sind uns einig.«
»Kriege ich da einen Rabatt?«, fragte Tracie.
»Nein, aber dafür verspreche ich hoch und heilig,
nicht in dein Essen zu spucken«, versicherte Laura ihr.
»Phantastisch!«, sagte Tracie. Sie versuchte, sich
an die Ohren
zu fassen, um zu prüfen, ob sie noch bedeckt waren, aber Stefan
zischte und stieß ihre Hände weg.
»Glückwunsch.« Eine Zeit lang saßen sie schweigend
da, und nur das ominöse Geräusch von Stefans Schere war noch zu
hören. »Ich verstehe Beth einfach nicht«, sagte Tracie schließlich,
um das Schweigen zu brechen. »Wie konnte sie nur Jon gleich
zusagen, nachdem er sie so hat sitzen lassen?«
»Wie hätte sie nein sagen können, wo sie ihn doch
so mag?«, erwiderte Laura achselzuckend.
»Stell dir vor, er hat ein Date mit Ruth, dem
Mädchen vom REI. Wahrscheinlich trifft er sich auch noch mit
anderen Frauen. Und er hat mir nichts davon erzählt«, klagte
Tracie.
»Dir kann doch egal sein, was er treibt. Ich
glaube, du bist regelrecht besessen von ihm.«
»Ich bin gar nicht besessen von ihm«, protestierte
Tracie. »Ich brauche einfach nur die nötigen Informationen für
meinen Artikel.« Dann hörte sie Stefan schniefen. Diesmal brauchte
er ungewöhnlich lange. So lange hatte er noch nie gebraucht.
»Das ist doch lächerlich. Mir brauchst du mit so
einem Scheiß nicht zu kommen, Higgins«, erklärte Laura. »Ich
glaube, du bist in Jon verliebt.«
»Laura!« Tracie riss den Kopf zu Laura herum, und
Stefans Schere ging nur haarscharf an ihrem Ohr vorbei.
»Aufhören! Aufhören! Aufhören!«, schrie er. »Hier
geht’s um meinen Kopf und nicht um dein Herz.«
»Um meinen Kopf«, berichtigte ihn Tracie.
»Und mein Herz hat gar nichts damit zu tun. Ich liebe Phil. Jon ist
nur ein Freund. Er war schon immer mein Freund.« Laura begann zu
summen, als wäre es pure Zeitverschwendung, Tracie zuzuhören.
»Jetzt hör aber auf, Laura, du weißt ganz genau, dass das stimmt«,
beteuerte Tracie. »Ich versuche nur, meinen Job zu machen, das ist
alles. Ich bin nicht besessen von ihm.«
»Das glaubst vielleicht du«, sagte Laura. »Aber am
Anfang bestreiten wir immer, besessen zu sein.«
Stefan gab ein Furcht erregendes Geräusch von sich,
das irgendwo
zwischen dem Zischen eines Heizkörpers und dem Warnton einer
Klapperschlange angesiedelt war. Er stampfte zu Laura hinüber, und
einen Augenblick lang dachte Tracie schon, er wolle sie schlagen.
Stattdessen entfaltete er ein Stück Folie.«Ja, das ist richtig«,
sagte er. »Wir sind fertig.« Tracie war sich nicht ganz sicher, ob
er damit sagen wollte, dass Lauras Strähnchen soweit fertig waren,
oder ob sie selbst emotionale Probleme hatte. Jedenfalls kam er
zurück und schnippelte weiter, diesmal an ihrem Pony.
»Nicht zu kurz«, wiederholte sie. »Und ich bin
nicht besessen«, erklärte sie Laura.
»Natürlich nicht. Und Marcus ist ein netter Kerl.
Hör mal, wenn einer was von Besessenheit versteht, dann ich, und
ich sage dir, Tracie, du bist besessen.«
»Nein. Ich bin nur ein bisschen... verärgert und
wehmütig«, beteuerte sie. »Der Artikel nimmt endlich Gestalt an,
aber Jon... hat sich irgendwie verändert. Er verhält sich nicht
mehr wie ein guter Freund. Er hat Beth wehgetan, und wahrscheinlich
verletzt er auch andere Frauen. Das finde ich furchtbar.«
»Vielleicht braucht er eine, die es ihm heimzahlt«,
meinte Laura.
»Ist das dein Ernst?«, fragte Tracie.
Laura zuckte mit den Achseln. »Du hast in die
Gesetze des Universums gepfuscht; sei nun bereit, die Auswirkungen
auf dein Karma zu tragen«, intonierte sie in ihrem schlimmsten
Buddha-Tonfall.
Tracie stöhnte. »O Gott! Ich muss diesen
Mann einfach von seiner unglaublichen Selbstzufriedenheit
herunterholen.«
»Genau«, stimmte Laura zu. »Sorge dafür, dass das
Universum wieder ins Gleichgewicht kommt.«
»Lasst die Finger von ihm. Er ist wie ein Koch in
einem Süßwarenladen«, sagte Stefan.
»Ein Koch?«, fragte Laura, aber Tracie zog warnend
die Brauen hoch. Die Grundregel in ihrem Universum lautete: Leg
dich nie mit einem Friseur an, solange er eine Schere in der Hand
hat.
»Ich brauche einen richtigen Männer mordenden
Vamp«, meinte Tracie. »Eine, die den Jäger zur Beute macht.«
»Nur schade, dass du keinen Vamp kennst«, sagte
Laura. »Außer mir natürlich, aber ich hab ja jetzt schon einen Job.
Vielleicht ist Sharon Stone noch frei.«
»Laura, du bist ein Genie!«, rief Tracie.
»Ich weiß, aber glaubst du wirklich, diese Strähnen
stehen mir?«, fragte Laura.
Stefan versetzte Tracies Haar einen letzten Schnipp
und wirbelte den Stuhl herum. »Fertig!«, sagte er und holte einen
Spiegel hervor.
»O mein Gott!«, stöhnte Tracie, als sie ihr
Spiegelbild betrachtete. Ihr Haar war viel zu kurz.
Tracie lag auf dem Sofa, den kurz geschorenen
Schädel in einen Handtuchturban gewickelt, während Phil und Laura,
die gerade die Teller vom Mittagessen spülten, wie immer
aufeinander herumhackten.
»Jetzt hör aber auf«, protestierte Phil. »Als
nächstes willst du mir wahrscheinlich noch weismachen, dass es für
das Geschirrspülen eine feste Reihenfolge gibt.«
»Gibt es auch«, erklärte Laura. »Sag bloß, du weißt
das nicht?«
»Ich weiß nur, wann du mich durch den Kakao
ziehst«, erwiderte Phil.
»Im Moment könnte ich dich höchstens ein bisschen
ins Spülwasser tunken«, sagte Laura und warf ihre herrliche Mähne
mit den wunderschönen Strähnchen zurück. »Aber ich kann einfach
nicht glauben, dass du nicht weißt, in welcher Reihenfolge man das
Geschirr spült.«
»So ein Schwachsinn. Da gibt’s keine Reihenfolge.
Man spült Geschirr, wenn man kein sauberes mehr hat, oder etwa
nicht, Glatzköpfchen?«
Tracie murmelte etwas aus ihrer Kurzhaardepression
heraus, aber die beiden erwarteten gar keine Reaktion.
»Das ist eben nicht egal«, erklärte Laura.
»Die Reihenfolge hängt davon ab, was man zuerst in den Mund
nimmt.«
»Wovon redest du eigentlich? Soll das so was wie
ein dreckiger Witz sein?«, fragte Phil.
»Steck deinen Kopf ins Spülmittel, da gehört er
hin«, sagte Laura finster. »Mrs. Ogg hat uns beigebracht, dass wir
mit dem Besteck anfangen sollen, weil wir das in den Mund nehmen.
Das spült man zuerst, wenn das Wasser noch am saubersten ist.
Stimmt’s, Tracie?« Tracie murmelte wieder etwas. »Siehst du? Dann
legst du es zur Seite und spülst die Gläser, denn die führst du an
die Lippen.«
»Du meinst das ja wirklich ernst!«, sagte Phil, und
auf seinem Gesicht malte sich eine solche Verblüffung ab, als
enthüllte sie ihm gerade, wie er einen Verleger finden oder seine
Bassgitarre spielen könnte. »Darüber schreibe ich ein Gedicht«,
verkündete er. »Na, Kojak, wär das nicht’ne feine Sache? Komm rüber
und plausch ein bisschen mit mir.«
Tracie stöhnte, und Laura schüttelte nur den Kopf.
»Lass sie doch endlich in Ruhe. Hör lieber zu. Als Nächstes kommen
die Teller, weil die nicht den Mund berühren.«
»Mein Teller schon – jedenfalls wenn du kochst,
weil ich ihn dann normalerweise ablecke.«
»Ist das nicht süß?«, sagte Laura in ihrem
härtesten Tonfall. »Als ob du damit erreichen könntest, dass ich
öfter für dich koche.« Trotzdem errötete sie ein wenig. »Jedenfalls
kommen ganz zum Schluss erst die Töpfe und Pfannen, die ja nicht
mal du ableckst«, sagte sie und reichte ihm die Stahlwolle.
Tracie wünschte, sie würden einfach verschwinden.
Sie wollte, dass Phil nach Hause ging und sie mit ihrem Elend
allein ließ. Zumindest versuchte Laura, ihr ein wenig zu helfen,
indem sie ihn beschäftigte. Tracie lag schon seit Tagen apathisch
auf dem Sofa herum. Sogar krank gemeldet hatte sie sich. Sie
versuchte, an ihrem nächsten Artikel für Marcus zu arbeiten, aber
sie dachte die ganze Zeit nur darüber nach, wie sie Allison dazu
bringen konnte, Jon einen kleinen Dämpfer zu versetzen. Aber
wie sollte sie es anstellen, Allison zu einem Blind Date zu
überreden?
»Ich lecke vielleicht keine Töpfe aus, aber meine
Mitbewohner schon«, sagte er und begann, den Topf widerspruchslos
zu schrubben.
»Bist du nicht ein bisschen zu alt für eine
Wohngemeinschaft?«, fragte Laura.
»Das musst gerade du sagen«, konterte er. »Hey,
Tracie, komm endlich unter diesen Decken vor.« Tracie antwortete
nur mit einem Stöhnen.
»Ich sehe mich gerade nach einer Wohnung um«,
rechtfertigte sich Laura.
»Ehrlich? Gehst du zurück zu diesem Scheißkerl in
Sacramento?«
»Nein«, sagte sie und zog ihre Gummihandschuhe aus.
Dann cremte sie sich die Hände ein und konzentrierte sich besonders
auf Fingerknöchel und Nagelhäutchen.
»Warum machst du das?«, fragte Phil.
»Damit meine Hände zart bleiben.«
Er nahm ihre rechte Hand. »Ja«, sagte er. »Die sind
wirklich zart.« Er hielt inne. Dann wandte er sich wieder dem Topf
zu und begann, fester zu schrubben, ohne Laura dabei anzusehen. »Du
willst also wirklich ausziehen? Hast du schon eine Wohnung
gefunden?«
»Weißt du, was ich glaube?«, sagte Laura, »ich
glaube, Tracie wäre dir gegenüber anders, wenn sie dich ein
bisschen ernster nehmen könnte. Ich meine, wenn du eine eigene
Wohnung hättest und einen richtigen Job – und wenn du dir darüber
klar wärst, was du eigentlich willst.«
»Ich weiß genau, was ich will«, sagte Phil und
starrte finster in den Kochtopf.
»Und was? Willst du vielleicht von den sechs Dollar
im Jahr leben, die du mit deiner Schreiberei verdienst?«, fragte
Laura. »Oder von dem Freibier, das dir deine Auftritte
einbringen?«
»Ich glaube nicht, dass dich das was angeht.«
Laura zuckte mit den Achseln. »Mach, was du willst.
Aber bei keinem dauert die Jugend ewig. Außer bei Warren Beatty
natürlich.«
»Wer ist das denn?«, fragte Phil.
»Unwichtig. Sein Job ist schon vergeben«, erklärte
Laura. »Aber Seattle ist voller Jobs. Jede Art von Jobs. Es gibt
keinen Grund, warum du nicht was finden könntest, was dir Spaß
macht und Kohle bringt. Du machst doch den lieben langen Tag nichts
anderes als pennen oder irgendwo faul rumhängen.«
Phil stellte den Topf ab. »Geh doch zum Teufel.
Scher dich zurück in dein kalifornisches Pfefferland.«
»Ach komm, lass Sacramento aus dem Spiel«, sagte
Laura gutmütig.
»Ich brauche eben eine gewisse Muße, um
schöpferisch tätig werden zu können«, verteidigte er sich wie ein
trotziges Kind. »Ich brauche leere Tage, um zu schreiben.«
»Ach, komm. Den Scheiß kannst du vielleicht Tracie
verkaufen, aber mir nicht. Mein Vater war Schriftsteller, und rate
mal, was er gemacht hat?«
Phil schüttelte den Kopf.
»Er hat geschrieben. Das tun Schriftsteller
nämlich.« Sie hielt einen Augenblick inne und tätschelte ihm
schwesterlich den Arm. »Hör mal, ich wollte dich nicht beleidigen.
Ich habe nur den Eindruck, dass du nicht besonders glücklich
bist.«
»Wer sagt, dass man unbedingt glücklich sein
muss?«, fragte Phil, während er seine Jacke anzog. »Wer sagt
eigentlich, dass es im Leben immer nur darum geht, glücklich zu
sein?«
»In Encino sagt das niemand«, räumte Laura ein.
»Deswegen bin ich ja auch von da abgehauen. Und auch wenn ich nicht
glaube, dass es immer nur darum geht, glücklich zu sein, halte ich
trotzdem nichts davon, ewig in derselben Sackgasse stecken zu
bleiben. Jeder von uns möchte doch tun, was ihm Freude macht, und
vermeiden, was ihm keine Freude macht. Das ist doch im Grunde
alles, was man tun kann. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass es
dir Freude macht, den ganzen Tag nutzlos
rumzuhängen. Ganz zu schweigen von den demütigenden Absagen von
irgendwelchen prätentiösen literarischen Zeitschriften und
Schwachköpfen wie Bob.« Sie zuckte mit ihren breiten Schultern.
»Ich meine nur, dass du inzwischen für manche Sachen vielleicht ein
bisschen zu alt bist. Aber man soll die Hoffnung ja nie
aufgeben.«
Einen Augenblick lang war es sehr still im Raum.
Tracie rechnete schon damit, dass Phil jeden Augenblick losschreien
würde, aber er räusperte sich nur, bevor es erneut still wurde.
Vielleicht würde er Laura schlagen oder aus Wut etwas zerdeppern,
bevor er aus der Wohnung stürmte. Stattdessen räusperte er sich
noch einmal. »Stell dir vor«, sagte er in einem sehr sanften
Tonfall, »dasselbe hab ich mir auch schon gedacht.«