21. Kapitel
Tracie stieg die schmutzige Treppe zu Phils
Wohnung im ersten Stock hinauf. Die Tür stand offen. Er ließ die
Tür immer offen, und das machte Tracie nervös. Sie war sich zwar
bewusst, dass sie da eher konservativ war und am liebsten alles
unter Verschluss und hinter Schloss und Riegel hielt, aber das hier
war wirklich gefährlich. Das Viertel, in dem Phil wohnte, galt
nicht gerade als die sicherste Wohngegend von Seattle. Sie fühlte
sich schon unwohl, wenn sie hier nur ihren Wagen parkte. Einmal war
ihr linker Kotflügel schlimm verkratzt worden, ein anderes Mal
hatte man die Antenne abgebrochen. Deshalb zog sie es im Grunde
vor, wenn Phil zu ihr kam, aber immer wollte sie das auch nicht
haben. Er wohnte ja schon fast bei ihr. Daher die Wette. Hier war
sie also wieder, hatte den Wagen an einem gefährlichen Platz
abgestellt, stieg die schmutzige Treppe hinauf und machte sich auf
noch schmutzigere Bettwäsche gefasst – und das alles nur, um mit
ihm zusammen zu sein, ihrem Standpunkt Nachdruck zu verleihen und
eine gewisse Balance zu wahren. Sie schüttelte den Kopf. Männer
waren ja so schwierig. Sie wusste genau, dass er lieber bei ihr
gewohnt hätte als hier, aber er wollte es einfach nicht zugeben.
Sie musste also unbedingt ihre Wette gewinnen.
Als sie eintrat, fand sie den großen Raum – Phil
lehnte den Begriff »Wohnzimmer« als zu bürgerlich ab – im
chaotischen Normalzustand vor. Behutsam umkurvte sie die einzelnen
»Objekte«. Von der Tür seines Zimmers her hörte sie klickende
Geräusche, denen sie entnahm, dass Phil gerade am Schreiben
war.
Sie fand es einfach großartig – er schrieb ohne
Termindruck und ohne zu wissen, ob das, was er schrieb, je gedruckt
würde.
Sie hätte das nie gekonnt. Sie störte ihn nur äußerst ungern, wenn
er schrieb; ihn ausgerechnet jetzt um einen Gefallen zu bitten,
konnte zu einem echten Problem werden. Sie überlegte, wie sie ihm
das, was sie von ihm wollte, am besten präsentierte, um ihr Ziel zu
erreichen. Nach Jons Versagen am Flughafen und dem dokumentierten
Scheitern im REI musste nun endlich ein Erfolgserlebnis her, wenn
dabei ein Artikel herausspringen sollte. Sie musste ihm unbedingt
ein Date verschaffen. Vielleicht sollte sie einfach mitgehen und
ihm irgendwie die nötigen Anweisungen zukommen lassen. Und wenn sie
den Erfolg fotografisch dokumentierte, konnte das auch nicht
schaden. Sie schrieb eine entsprechende Notiz, damit sie später die
Kamera nicht vergaß. Aber Phil ging normalerweise nicht gern aus,
wenn er nicht gerade einen bestimmten Film sehen wollte oder einen
Auftritt mit der Band bestritt. Bestimmt hätte er keine Lust, ihr
zuliebe den Anstandswauwau zu spielen. Tracie seufzte. Sie machte
echte Fortschritte mit Jon. Ruth – oder wie auch immer sie hieß –
hatte ihn wirklich sympathisch gefunden, bis er sich an der
Kletterwand blamiert hatte.
Aber Phil war das natürlich ebenso egal wie ihr
Artikel. Er würde ihr ohnehin nur raten, nicht solchen bürgerlichen
Mist zu schreiben. Und sie nahm an, dass er damit sogar Recht
hatte, auch wenn sie es irgendwie unfair fand. Schließlich zahlte
sie für das, was er aß, mit dem bürgerlichen Geld, das sie
verdiente. Aber sei nicht verbittert, sagte sie sich. Du
respektierst ihn, weil er ein Künstler, ein Freigeist ist. Und er
hatte etwas an sich... sein Freiheitsdrang und sein anarchisches
Wesen machten ihn ungeheuer anziehend. Es war nicht schwer, einen
Hund zu finden und zu zähmen, vor allem dann nicht, wenn der Hund
schon halb verhungert und geschwächt war. Gelang es einem aber,
einen Luchs oder einen Puma zu zähmen, war das eine echte Leistung.
Jon war ein junger Dalmatiner oder Labrador, der ein Zuhause
suchte. Phil aber war ein Wolf, und ihn dazu zu bringen, dass er
ihr aus der Hand fraß, ohne sie zu beißen, war eine unendlich
faszinierende Aufgabe.
Wieder musste sie an die Wette denken, die sie mit
ihm abgeschlossen hatte. Gewann sie, zog er bei ihr ein. Sie fragte
sich allerdings, ob sie das wirklich wollte; mit ihm zu schlafen
war herrlich, aber mit ihm zusammen zu wohnen konnte große Probleme
aufwerfen. Seine Sehnsucht nach Freiheit faszinierte sie, auch wenn
sie sich manchmal fragte, warum er nicht wenigstens ein klein wenig
reifer werden, sich einen Job suchen und sich ein bisschen... nun
ja, ein bisschen bürgerlicher benehmen konnte. Tracie träumte
wirklich nicht von einem Verlobungsring mit einem Solitär und
wollte nicht als reiche Ehefrau in Encino enden, aber nicht alles
im bürgerlichen Leben schreckte sie ab. Ehe und Familie und eine
nette Wohnung und gutes Essen – das gehörte für sie alles zu den
»guten Dingen des Lebens«. Deshalb hielt er sich ja auch die meiste
Zeit bei ihr auf.
Auf dem Weg zu seiner Tür trat sie auf den Deckel
einer Pizzaschachtel.
»Bist du das, Tracie?«, fragte Phil, ohne
aufzuschauen.
»Ja«, antwortete sie, seine Stimme nachahmend. »Ich
bin leider erst spät aus der Probe gekommen.«
Phil wandte sich vom Computermonitor ab und rieb
sich die Augen, als würde er schon seit längerer Zeit tippen. »Hey,
du hast doch gar keine Proben.«
»Volltreffer«, bestätigte sie und stellte sich
hinter ihn, um ihm die Hände auf die Schultern zu legen. Sie waren
ja so breit. »Du, ich brauche Hilfe.«
»Juckt dich was? Soll ich dich irgendwo kratzen?«,
fragte er und reckte sich.
»Jetzt nicht. Ich rede von meinem Projekt mit
Jonny.«
»Jonny? Meinst du etwa Jon? Den so genannten
geschlechtslosen Wissenschaftler, das asexuelle
Computer-Ass?«
Er hatte ihre Notizen für den Artikel gelesen!
Tracie errötete und ging auf das Bett zu, fort von ihm. Sie
hatte immer versucht, seine Privatsphäre zu respektieren, während
er ganz offensichtlich ihre Zettel las. Sie musste zwar zugeben,
dass sie überall klebten, aber trotzdem ärgerte es sie, dass er ihr
nachgeschnüffelt
hatte. Das sollte ihm noch Leid tun. Sie hob eine halb volle
Flasche Evian hoch. »Genau der. Er sieht gar nicht mehr wie ein
Computerfreak aus. Er macht sich echt gut. Willst du ihn dir mal
ansehen?«
Phil wandte sich wieder zum Bildschirm.
»Nein.«
Sie hatte gewusst, dass das nicht ziehen würde.
»Ich hab für ihn für Freitag ein Date arrangiert«, erklärte
sie.
»Ist Chelsea Clinton so verzweifelt auf der Suche
nach einem Mann?«, fragte Phil. »Und wie wird Mr. Computerfreak mit
der Tatsache fertig, dass all die Agenten vom Geheimdienst jede
seiner Bewegungen verfolgen? Auch wenn sich bei ihm ja eher nichts
bewegt«, fügte Phil hinzu.
»Und ob sich bei ihm was bewegt; ich hab’s ihm
beigebracht«, verteidigte sie Jon. Sie hoffte, dass er auch ohne
ihre Erotiklektion genügend eigene Erfahrung besaß. Sie überlegte.
Sie musste Phil das, was sie von ihm wollte, ganz behutsam
beibringen. »Stell dir vor, ich hab ihn mit Beth aus der Arbeit
verkuppelt.« Vielleicht klappte es ja, wenn sie ganz beiläufig und
fröhlich klang. »Für Freitag.« Sie legte erneut eine Pause ein.
»Ist das nicht witzig? Da müssen wir dabei sein. Das wäre fast wie
ein Pärchen-Date.«
»Wie ein Pärchen-Date? Ich glaube, ich träume. Oder
ist das eher ein Albtraum?«, fragte Phil, und seine Stimme triefte
vor Sarkasmus. »Tracie, bei mir gibt’s keine Dates, und schon gar
keine Pärchen-Dates. Und wenn, dann bestimmt nicht mit diesem
Technikfreak. Oder mit deiner kleinen Freundin Beth.«
Schön, dann blieb ihr also keine andere Wahl, als
zu betteln. »Ach komm, Phil. Wir müssen ja nicht unbedingt bei
ihnen sitzen. Ich muss ihn einfach beobachten. Wie eine Trainerin.
Ich muss in der Lage sein, ihm zu helfen, wenn was schief geht. Das
ist schließlich das erste Mal.« Sie ließ ihm ein paar Sekunden
Zeit. »Und um eine Reportage zu schreiben, muss ich vor Ort
sein.«
»Das heißt ja noch lange nicht, dass ich mir das
auch antun muss.«
Manchmal war er so egoistisch und vorhersehbar in
seinen Reaktionen, dass sie ihn am liebsten umgebracht hätte.
»Phil, ich schwöre bei Gott, wenn du mir nicht einmal diesen
Gefallen tun kannst …«
»Ich will nicht, dass du ihm noch länger hilfst«,
sagte Phil unvermittelt. Er nahm ihre Hand, stellte die
Wasserflasche ab und zog sie an sich. Er schloss die Beine um sie.
»Das kostet zu viel von deiner Zeit«, murmelte er und küsste sie im
Nacken. »Du warst fast jede Nacht weg. Und wenn du gewinnst,
dann...«
Seine Annäherung jagte ihr einen Schauer der Lust
über den Rücken. »Dann waschen wir gemeinsam die Wäsche«, beendete
sie den Satz an seiner Stelle. »Du würdest richtig gut aussehen mit
einer Packung Ariel.«
Er stieß sie weg und stand abrupt auf. »Siehst du«,
sagte er. »Siehst du! Ich hab’s dir ja gleich gesagt! Das hab ich
nie gewollt. Und du willst mich doch so, wie ich bin, oder? Deshalb
hast du mich ja ausgesucht. Du willst mich nicht in einer Schürze,
wie ich das Wohnzimmer abstaube. Der Outlaw lässt sich nicht
domestizieren.« Er warf sich aufs Bett. »Ich wollte, du würdest
dieses Projekt endlich vergessen.«
Tracie setzte sich auf den Rand seines Bettes und
legte die Arme um ihn. »Vielleicht möchte mein Dad dich ja gern als
Schwiegersohn haben«, flunkerte sie, »aber das hat nichts mit dem
zu tun, was ich möchte. Außerdem möchte ich unbedingt den
Artikel schreiben, Phil.« Wenn Kinderpsychologie nicht wirkte, dann
vielleicht Teenie-Psychologie. »Du hast doch nur Angst davor, dass
ich die Wette gewinnen könnte, stimmt’s? Und davor, dass sich
rausstellen könnte, dass du dich in Jonny geirrt hast.«
»Was soll eigentlich dieses Jonny-Getue?«, fragte
er. »Außerdem hab ich mich nicht in ihm geirrt. Aus dem machst du
nie’nen coolen Typ.«
»Dann sieh ihn dir doch mal an«, sagte sie, als er
sie auf den Rücken rollte und leidenschaftlich küsste. »Kommst du
mit?«, flüsterte sie, und er nickte schweigend.
Am Freitagmorgen in der Redaktion hämmerte Tracie
wie besessen auf ihre Tastatur ein, als das Telefon klingelte. Ohne
mit dem Tippen auszusetzen, schaltete sie auf Kopfhörer um.
»Tracie Higgins hier.«
»Weiß ich. Ich hab nämlich gerade deine Nummer
gewählt«, sagte Laura.
»Willst du dich heute nach einem Job umsehen?«,
fragte Tracie. Sie hatte Laura gern bei sich in Seattle und wollte
auf keinen Fall, dass sie wieder zu Peter zurückging, aber sie
konnte nicht ewig in ihrem engen Apartment wohnen.
»Ich hab um drei ein Vorstellungsgespräch«, sagte
Laura stolz. »Und da dachte ich, ich komme hinterher bei dir
vorbei, und wir gehen einen trinken.«
»Super«, sagte Tracie. »Gute Idee, Laura.« Dann
fiel ihr wieder ein, dass Beth heute Abend mit Jon ausging und sie
dabei sein musste. »Für einen schnellen Drink reicht’s auf jeden
Fall«, meinte sie, denn sie wollte für Laura nach dem
Vorstellungsgespräch da sein.
»Prima«, sagte Laura.
»Aber wirklich nur kurz, weil ich heute Abend
ausgehe.« Eine kurze Pause entstand.
»Muss ich bei Phil wieder den Babysitter spielen?«,
fragte Laura.
»Nein, heute nicht. Er kommt mit.«
»Wow! Meinen Glückwunsch! Gibt’s einen besonderen
Anlass?«
»Jon gibt eine Party zu seinem Coming-out.«
»Warum das? Ist er schwul? So ist er mir aber gar
nicht vorgekommen.«
»Red keinen Quatsch«, sagte Tracie. »Er geht heute
Abend mit Beth aus.«
»Aah – die Nacht der Nächte. Umstandsmeier trifft
dumme Kuh.«
Tracie wollte schon protestieren, um ihre beiden
Freunde zu verteidigen, als ihr zweites Telefon klingelte. »Ich
muss auflegen.
Wir treffen uns gegen fünf, okay?«, sagte sie. Dann wurde ihr
Gespräch unterbrochen.
»Tracie Higgins«, meldete sie sich.
»Gilt das mit heute Abend immer noch?«, hörte sie
Jon fragen.
Sie verdrehte die Augen. »Na klar, was dachtest du
denn? Spricht was dagegen?«
»Ach, weißt du«, sagte er, »ich habe im Lauf meines
Lebens schon eine Menge Absagen in allerletzter Minute erlebt.
Außerdem müsste ich unbedingt arbeiten. Ich hab den Job in letzter
Zeit ziemlich schleifen lassen und bin mit meiner Arbeit total im
Rückstand …«
Er war einfach unmöglich. Jahrelang war er
praktisch rund um die Uhr im Dienst gewesen, und das sieben Tage
die Woche. Und nun benutzte er seine Arbeit als Ausrede, obwohl es
ihm in Wahrheit nur an Selbstvertrauen mangelte. Er wollte
aufgeben, bevor er Beth überhaupt getroffen hatte. »Das war
einmal«, erklärte sie. »Du bist jetzt ein neuer Mensch. Du siehst
böse aus, tust böse Dinge und bist böse. Du bist jetzt ein böser
Junge, der alle Mädels magnetisch anzieht. Stell dir einfach vor,
Beth wäre nichts weiter als ein Eisenspan.«
»He, hast du eigentlich als Kind auch dieses kleine
Spielzeug gehabt?«, fragte er. »Diese Plastikkugel mit dem Gesicht
von so einem Glatzkopf und einer Hand voll Eisenspäne darin? Mit
einem Magneten konnte man ihm dann entweder eine Frisur oder einen
Bart machen.«
Tracie wandte den Blick vom Bildschirm ab und
starrte in den Hörer. »Jonny, stell bitte heute Abend keine solchen
Fragen, ja?«, drängte sie ihn. »Keine Kindereien, keine deiner
Imitationen von Cartman aus South Park, verstanden? Und sing
bloß nicht den gesamten Titelsong von Gilligans Insel. Im
Zweifelsfall hältst du einfach den Mund.«
»Also gut, Mund halten«, versprach er am anderen
Ende der Leitung. »Aber musst du mich unbedingt Jonny nennen? Das
ist so... komisch.«
Sie hatte den Eindruck, dass er ein klein wenig
verletzt klang, sagte sich dann aber, dass ja alles nur zu seinem
Besten war. »Da gewöhnst du dich schon dran.« Sie überlegte, womit
er Beth’ Interesse wecken könnte. Der beste Trick bestand wohl
darin, so zu tun, als wäre er nicht zu haben. Aber wie sollte er
das anstellen? Dann erinnerte sie sich an einen Streit mit Phil und
lächelte. Ja, das war es! »Jonny, es gibt da noch etwas, was du
unbedingt tun musst«, erklärte sie. »Einige Zeit, nachdem du mit
der Kellnerin geflirtet hast, möchte ich, dass du dich
entschuldigst, an die Bar gehst und irgendeine Frau
anquatscht.«
»Eine andere Frau? Aber ich...«
Das Licht für Leitung zwei auf Tracies Telefon
leuchtete auf. »Jonny, bleib doch bitte mal kurz dran, ja?« Als sie
den Knopf für Leitung zwei drückte, fiel ihr auf, dass ihr sein
neuer Name gefiel. »Hallo, hier Tracie Higgins. Kann ich Ihnen
helfen?«
»Ich brauche etwas mehr als nur Hilfe von dir«,
sagte Phil.
»Bleib doch mal kurz dran, ja? Ich hab noch ein
Gespräch auf der anderen Leitung.« Tracy drückte Leitung eins und
setzte das Gespräch mit Jon – nein, Jonny – fort. »Wo waren wir
stehen geblieben? Ach ja. Du stehst also an die Bar und machst eine
Frau an …«
»Tracie, ich hab doch für heute Abend schon eine
Verabredung. Außerdem hab ich noch nicht mal ein Mädchen
erobert; wie soll ich da gleichzeitig zwei
abschleppen?«
»Darum geht’s doch gar nicht«, sagte sie. »Stell
dir einfach vor, das ist eine Art Zaubertrick, und du bist ein
Illusionist.« Dann fiel ihr Phil auf der anderen Leitung wieder
ein. »Augenblick mal«, sagte sie und drückte den anderen Knopf.
»Phil, gleich hab ich Zeit für dich.« Sie kehrte zurück zu Leitung
eins. »Also, Jonny. Frag sie einfach, wie spät es ist. Oder wie man
am besten nach Olympia kommt. Und dann möchte ich, dass du mit
Kugelschreiber eine Telefonnummer auf deine Handfläche
schreibst.«
»Wessen Telefonnummer?«, fragte Jon.
»Irgendeine Telefonnummer«, erklärte sie, am Ende
ihrer
Geduld. »Dann gehst du wieder an deinen Tisch und verlierst kein
Wort darüber. Sorg einfach nur dafür, dass Beth deine Hand
sieht.«
»Ich soll es sie auch noch sehen lassen?«, winselte
er. »Tracie, du treibst mich noch zum Wahnsinn. Das ist eine
ungewöhnlich grausame Strafe. Vielleicht sollten wir die Sache
besser abblasen. Ich bin mit meiner Arbeit sowieso furchtbar im
Rückstand, und außerdem fühl ich mich auf einmal gar nicht
wohl...«
»Lass dir bloß nicht einfallen, jetzt krank zu
machen«, warnte sie ihn. »Sonst kannst du dein Glück wieder auf dem
Flughafen versuchen. Außerdem wird sie nach dieser Geschichte ganz
wild nach dir sein. Du wirst ihr wie ein großer Eroberer vorkommen.
Du könntest jede haben, hast dich aber für sie entschieden.«
»Aber ich könnte genauso gut eine andere
abschleppen«, wimmerte er. Er hatte immer noch nichts
begriffen.
Tracie verdrehte die Augen. »Jonny, genau darum
geht’s doch bei einem Date im neuen Millennium: um eine
ungewöhnlich grausame Strafe. Hast du’s jetzt endlich
kapiert?«
»Ja, ja. Dann treffe ich mich mit ihr also um halb
sechs vor deiner Firma.«
»Komm auf keinen Fall vor Viertel vor sechs«, riet
sie.
»Aber... ah. Okay.«
»Bis später«, verabschiedete sich Tracie. Erst als
sie aufgelegt und wieder angefangen hatte zu arbeiten, merkte sie,
dass das Licht für Leitung zwei erloschen war. Phil! Sie zuckte mit
den Achseln. Sie wusste nicht, wo sie Phil erreichen konnte, aber
er rief garantiert wieder an.
Beth machte sich fein, während Tracie, Laura und
Sara ihr dabei zusahen. »Du solltest deine Haare bürsten«, schlug
Sara vor. Tracie reichte ihr einen Rougestift und richtete ihr den
Kragen.
»Hab ich schon, Sara. Danke. Gott, wahrscheinlich
werde ich schwitzen wie ein Schwein«, meinte Beth. »Hätte ich doch
nur mein Parfüm mitgebracht.«
»Willst du was von meinem Giorgio?«, bot Laura an
und begann, in ihrer Handtasche zu wühlen.
»Nein, danke«, sagte Beth. »Ich hab heute Morgen
schon White Shoulders genommen; zusammen beißen die sich womöglich.
Ist er wirklich so schnuckelig, Trace?«
»Ja, das ist er... ein bisschen wie James Dean.«
Tracie dachte, sie könnte schon ein wenig vorarbeiten.
Beth aber fragte: »Wer ist James Dean?«
»Er ist tot. Ein Schauspieler, stimmt’s?«, sagte
Sara.
»Du hast ja so ein Glück, Beth. Ich hab schon seit
Monaten kein Date mehr gehabt. Tracie, warum besorgst du mir nicht
auch mal’nen heißen Typ? Hat Jonny vielleicht Freunde?«, fragte
Sara.
»Früher hat Tracie nie tolle Typen gekannt«, meinte
Beth. »Laura, wo hat sie diesen Kerl aufgetrieben? Ich hab nie von
ihm gehört«, sagte Beth, während sie sich die Wimpern
tuschte.
»Sie hat ihn selbst geschaffen«, erklärte Laura den
beiden und grinste Tracie über ihre Köpfe hinweg an. Tracie warf
Laura einen warnenden Blick zu und schaute auf die Uhr. »Du kommst
noch zu spät«, sagte sie zu Beth. »Und Laura und ich, wir gehen
jetzt einen trinken.«
Beth geriet in Panik. »Das ist doch nicht dein
Ernst! Ich muss doch erst noch meine linke Augenbraue zupfen. Hat
vielleicht eine von euch eine Pinzette?«, fragte sie. »Ich seh ja
aus wie ein Gorillamädchen.« Laura reichte ihr die Pinzette,
während Tracie verstohlen aus dem Fenster schaute. Wann immer Beth
an den vereinbarten Treffpunkt kam – Jon musste nach ihr
eintreffen. Sie hoffte nur, dass Beth nicht allzu enttäuscht sein
würde oder ihn furchtbar abblitzen ließ.
»Es ist schon zwanzig vor sechs«, verkündete
Tracie. »Du solltest doch schon vor zehn Minuten da sein.«
»Lass ihn ruhig warten«, meinte Sara. »Die kommen
sowieso immer zu spät.«
Beth zupfte sich noch zwei unsichtbare Härchen aus
den Brauen, gab die Pinzette zurück, nahm ihre Tasche und wollte
gehen. »Hey, wenn wir rüber zum Aufzug gehen, können wir sie
sehen, wenn sie sich auf der anderen Straßenseite treffen«, meinte
Sara.
»Also los«, sagte Laura.
Laura, Tracie, Beth und Sara drängten sich durch
die im Aufbruch begriffenen Kollegen im Flur und gingen zum Aufzug.
Beth drückte den Knopf. »Wünscht mir alles Gute!«, rief sie.
Bevor die anderen antworten konnten, öffneten sich
auch schon die Türen, und sie stieg ein. Genau in dem Augenblick
stürzte die schöne Allison in den Flur. »Wartet auf mich!«, rief
sie. »Ich komm sonst zu spät!«
»Interessiert mich doch einen Scheiß«, murmelte
Sara, aber natürlich drückte einer der Männer im Aufzug den
entsprechenden Knopf in der Hoffnung, ein paar Augenblicke neben
Allison stehen und ihre Aura in sich aufsaugen zu können. Neben
Allison gab Beth keine ganz so strahlende Erscheinung mehr ab, doch
Tracie weigerte sich, diese Tatsache zur Kenntnis zu nehmen.
»Viel Spaß«, sagte Tracie. »Er ist echt’ne
Wucht.«
Die drei verbliebenen Frauen sahen zu, wie sich die
Tür vor Beth’ hoffnungsfrohem Gesicht schloss. Als Erste ging Sara
ans Fenster, dann Laura und schließlich Tracie. Sie warteten ein
paar Minuten, bis Beth unten auftauchte. Dann sahen sie zu, wie sie
über die Straße ging und allein in der Dämmerung wartete.
»Wenn dieser Schweinehund nicht auftaucht…«,
flüsterte Sara. »Beth hat’s in letzter Zeit wirklich nicht leicht
gehabt.«
»Der kommt schon«, sagte Tracie grimmig und hoffte,
dass sie Recht behielt.
»Sie sieht wirklich super aus«, sagte Laura ein
wenig wehmütig, die Nase schon an der Fensterscheibe. »So
schlank.«
»Ha! Ich hoffe nur, er kommt von vorne auf sie zu
und sieht nicht zuerst ihren Hintern«, meinte Sara.
»Sara!«, schrien Laura und Tracie unisono
auf.
»War nur’n Scherz«, sagte Sara.
Unter ihnen wartete Beth noch immer. Sie trat von
einem Fuß
auf den anderen und versuchte, sich lässig an einen Laternenpfahl
zu lehnen. Die anderen Frauen sahen ein paar Minuten lang
schweigend zu. Trotz ihrer Nervosität – oder gerade deswegen –
strahlte ihr Gesicht so, wie es bei einem ersten Date eben
strahlte, bevor man sich verliebte und zu leuchten begann.
»Wenn er nicht auftaucht, bring ich dich um,
Tracie«, drohte Laura.
»Wenn er auftaucht und gut aussieht, bring ich dich
um, weil du ihn mit Beth verkuppelt hast und nicht mit mir«,
grollte Sara.
»Hey, hey!«, versuchte Tracie sie zu beruhigen.
»Keine Aufregung. Wahrscheinlich gefällt er dir nicht mal.«
Genau in diesem Augenblick sah Tracie, wie er sein
Fahrrad an einem Geländer um die Ecke ankettete. Mein Gott! Sie
hoffte nur, dass die beiden anderen ihn noch nicht entdeckt hatten.
Wie ein Vollidiot hatte er seinen Motorradhelm am Lenker
festgeschnallt. Sie musste ihm wirklich alles haarklein auseinander
setzen – sogar, dass er nicht mit dem Rad zu einem Date kommen
durfte. Ein Wunder, dass er wegen seiner Begriffsstutzigkeit noch
nicht verhaftet worden war. Tracie sah zu, wie er den Helm nahm,
die Straße entlangrannte und erst an der Ecke langsamer wurde. Im
Schaufenster des Drugstore betrachtete er sich. Zum Glück hatten
Sara und Laura ihn noch nicht gesehen. Als er um die Ecke bog und
über die Straße stolzierte, konnte ihn nichts mehr mit dem Fahrrad
in Verbindung bringen.
»Da ist er ja«, sagte Laura. Unter ihnen überquerte
Jonny die Straße und ging auf Beth zu. Jetzt hatten sie offenbar
Kontakt zueinander aufgenommen und stellten sich einander vor.
Tracie trat einen Schritt zurück, um die Reaktion der anderen zu
beobachten.
»Mein Gott, sieht der gut aus!«, sagte Sara. Sie
drückte die Nase ans Fenster und legte die Hände seitlich vom Kopf
an die Scheibe, um die Spiegelungen zu reduzieren und noch besser
sehen zu können.
»Toller Sweater«, kommentierte Laura.
»Klasse Jacke. So eine hab ich letztes Jahr mal bei
Ralph Lauren
gesehen«, fuhr Sara fort. »Scheint ganz schön Kohle zu haben. Von
seinen Muskeln ganz zu schweigen.«
»Er trägt einen Helm! Fährt er etwa Motorrad?«,
fragte Laura. Tracie fiel wieder ein, dass Peter ein Motorrad
hatte.
»Und wo ist sein Bike?«, fragte Sara.
»Wahrscheinlich um den Block geparkt«, sagte Tracie
wahrheitsgetreu und fügte hinzu, um von dem Thema abzulenken:
»Wisst ihr, er hat gerade mit einer Schluss gemacht.«
Aus dem Fenster beobachteten sie, wie Jonny und
Beth sich unterhielten. Jon steckte die Hand in die Tasche und zog
etwas heraus, das er Beth vor die Nase hielt.
»Ist das ein Feuerzeug?«, fragte Sara. »Aber Beth
raucht doch gar nicht!«
Tracie verdrehte die Augen, als Jon den Pez-Spender
wieder in die Tasche steckte. Dafür würde sie ihn später umbringen
müssen. Dann streckte er die Hand aus und berührte Beth’
Haarspitzen, und die beiden lachten über etwas. Und in der Stille
vor dem Aufzug hüllte Einsamkeit die drei Frauen ein. Tracie musste
daran denken, wie aufgeregt sie gewesen war, als sie Phil kennen
gelernt hatte; wie sie oft eine geschlagene Stunde lang alles
durchprobierte, was bei ihr im Schrank hing. Wie glücklich sie sich
gefühlt hatte, wenn sie ihn nur sah. Das erinnerte sie an etwas.
»Komm schon, Laura, wir müssen jetzt gehen«, sagte Tracie. »Ich hab
nur zwanzig Minuten Zeit, weil ich mich dann mit Phil
treffe.«
»Ja, und ich muss noch eine Story schreiben«,
seufzte Sara.
»Ich denke, ich schreibe heute Abend meinen
Lebenslauf«, meinte Laura. »Und dann lese ich die
Stellenangebote.«
Die drei Frauen seufzten wie aus einem Mund, bevor
eine jede dem Fenster den Rücken kehrte.