19. Kapitel
Am Mittwoch der folgenden Woche trafen sich Jon und Tracie zum viel diskutierten Friseurtermin. Als sie in den Salon traten, plärrte ihnen laute Musik entgegen, und Jon schreckte instinktiv zurück. »Komm schon«, drängte Tracie. »Eine avantgardistische Haarpflege ist nichts für Leute mit schwachen Nerven.« Sie nahm ihn bei der Hand und zog ihn durch den Eingang. »Keine Angst«, sagte sie vergnügt, »Stefan wird sich schon um dich kümmern.«
Das erste Mal in seinem Leben zweifelte Jon ihre Worte ernsthaft an – außer sie meinte die mafiose Variante von »sich um jemanden kümmern«. Na ja, was soll’s, dachte er dann. Er kam sich sowieso schon halb tot vor.
War all das wirklich notwendig, um an eine Frau zu kommen? Es erforderte so viel Zeit, Überlegung und Kraft. Sollte er seine Energie nicht besser in die Beziehung selbst stecken statt in seine Garderobe und seine Frisur? Während Tracie ihn durch den Empfangsbereich zerrte – einen Raum voll greller Lichter, unglaublich lauter Technomusik und einem Dekor, das dem Set einer besonders miesen Gameshow zu entstammen schien -, spürte er, wie er innerlich zusammenzuckte. Es gab einen Punkt, ab dem ein Mann sich zur Wehr setzen musste, und er hatte das Gefühl, dass dieser Punkt nun erreicht war... bis die Frau mit den endlosen Beinen und dem hüftlangen, silbrig-goldenen Haar an ihnen vorbeischwebte. Sie nickte Tracie zu und lächelte ihn – ja, ihn – an. Sie war die schönste Frau, die er je gesehen hatte. »Hallo Ellen«, grüßte Tracie so beiläufig, als wäre nicht soeben die Göttin der Liebe unter ihnen gewandelt.
»Wer ist das?«, flüsterte er.
»Was?«, fragte Tracie fast schreiend, während sie ihn weiterzerrte.
»Wer ist das?«, fragte er, nun ebenfalls schreiend. Er hatte sich Knall auf Fall verliebt. Sie war ein Traum. Sie war das Paradies. Wäre da nicht dieser Höllenlärm gewesen, hätte er sich leicht vorstellen können, mit ihr im Garten Eden zu sein. »Wer?«, brüllte er schließlich.
»Ellen? Ellen ist Ellen«, wiederholte Tracie, als würde das irgendetwas erklären.
Sie hatten mittlerweile den Empfangsbereich durchquert und waren durch einen Raum voller Stühle und Spiegel geeilt, und jetzt führte Tracie ihn durch einen eher leeren Korridor, durch den allerdings immer noch Musik dröhnte. Je weiter sie gingen, desto weiter entfernte er sich von seiner Göttin. Zwei andere Frauen schritten an ihnen vorbei, und obwohl keine so ganz an Ellen heranreichte, waren auch sie unglaublich schön. Wow! Sie nickten entweder Tracie oder ihm zu, und auf die bloße Chance hin, dass sie ihn gemeint hatten, nickte er zurück. Keine von beiden kicherte oder zeigte mit dem Finger auf ihn. Anscheinend wurde von ihm erwartet, dass er zurückgrüßte, genau wie man von den beiden Frauen erwartete, dass sie ihn grüßten. Vielleicht, dachte er, hat Tracie von all dem doch eine gewisse Ahnung. Aber von Ellen wollte er sich auf keinen Fall ablenken lassen. »Wer ist Ellen?«, wiederholte er, sobald die beiden anderen Nymphen außer Hörweite waren.
»Stefans Frau«, brüllte Tracie lässig, als brächte sie damit nicht seine ganze Welt zum Einstürzen. Sie traten durch eine Reihe von Türen, bis Tracie eine weitere öffnete – offenbar den Eingang zum Allerheiligsten in diesem Tempel der Schönheit.
»Ist Stefan denn nicht schwul?«, rief Jon, der noch immer versuchte, die Technomusik zu übertönen. Doch als die Tür hinter ihnen ins Schloss fiel, hatte der Lärm schlagartig ein Ende. Jon fand sich in einem kleinen, quadratischen, absolut stillen weißen Zimmer wieder, in dessen Mitte als einziges Möbelstück ein Friseursessel stand, der aus Star Wars hätte stammen können. Neben dem Sessel stand ein groß gewachsener Mann und blickte ihn an.
Der Typ war groß, vielleicht einsneunzig oder einsfünfundneunzig, und hatte sehr kurzes blondes Haar und eine Narbe, die quer über eine seiner blonden Brauen lief. Marke harter Bursche. Jon brach als Erster das Schweigen. »Hallo«, sagte er mit beinahe quiekender Stimme. »Sie müssen Stefan sein.«
 
»Dir ist wahrscheinlich gar nicht klar, welches Opfer ich für dich bringe«, sagte Tracie, während sie Jon in den Sessel drückte. »Schau mich an – ich bin hier diejenige, die dringend einen Haarschnitt bräuchte. Dafür hab ich bei dir echt was gut.« Sie trat zurück und lehnte sich gegen die Konsole. Dann näherte sich Stefan, der wie eine Kreuzung aus Edward mit den Scherenhänden und Riverdance wirkte. Er schnippte mit der Schere, stampfte mit den Füßen und sprang herum. Jon fragte sich schon, ob es nicht gefährlich war, dass Stefan mit der Schere so dicht vor seinen Augen herumfuhrwerkte, sagte sich dann aber, dass der Friseur vermutlich wusste, was er tat. Schließlich schaute Tracie seinem Treiben seelenruhig zu und merkte offenbar nicht einmal, dass es hier weder Spiegel noch Lärm noch Menschen gab – nur Stefan und seinen schweren Atem und sein verrücktes Herumgehüpfe. Es war die schrägste Friseursitzung, die Jon je erlebt hatte.
Jon saß fast eine Stunde lang bei dem Mann, den er kurz zuvor beleidigt hatte. Tracie, die offenbar nicht einmal merkte, in welch schrecklicher Gefahr er schwebte, kauerte derweil auf einem winzigen Hocker zu seinen Füßen und schwatzte fröhlich drauflos. Jon wollte nur noch aus dem Sessel aufspringen und aus dem Raum stürzen, vorbei an der fatalen Ellen, der Frau dieses balkanischen Verrückten, und vielleicht sogar Seattle für immer verlassen. Aber er wagte es nicht, sich zu rühren, solange ihm diese höllisch scharfe Schere um den Kopf schnippte.
»... und das Fahrrad«, hörte er Tracie sagen. Wovon redete sie überhaupt?
Da er Angst hatte, Tracie den Kopf zuzuwenden, richtete er nur den Blick auf sie. Es tat weh, die Augäpfel über längere Zeit in die Augenwinkel zu zwingen. »Was ist mit meinem Fahrrad?«, fragte er. Er hätte zu gern mal seine Haare berührt, war aber sicher, dass Stefan ihm dann einen Finger abschneiden würde. Seit einiger Zeit schon flogen kleine Haarbüschel durch den Raum.
»Ich sagte, wir müssen noch was wegen deinem Rucksack und dem Fahrrad unternehmen«, wiederholte Tracie ruhig.
»Was ist mit meinem Rucksack?«, fragte er. »Und gegen mein Fahrrad ist absolut nichts einzuwenden. Was soll das heißen, wir müssten etwas unternehmen wegen meinem Fahrrad?«
»Ein Fahrrad ist einfach total uncool«, erklärte Tracie. »Wie willst du beispielsweise ein Mädel in deine Wohnung mitnehmen? Willst du sie vielleicht auf den Lenker setzen?«
»Ich dachte, ich soll sowieso keine in meine Wohnung lassen«, erinnerte er sie an ihre eigenen Lehren.
»Okay, okay. Also: Wie willst du sie zu ihrer Wohnung bringen?«
Mussten sie das ausgerechnet jetzt besprechen – und ausgerechnet im Beisein von Stefan?
»In ihrem Wagen?«, fragte er hoffnungsvoll.
»Und wie kommst du von da nach Hause?« Sie schüttelte den Kopf. »Weißt du, ich glaube, wenn du kein Schwinn-Fahrrad hättest, würdest du einen Pacer fahren.« Jon wusste nicht genau, was ein Pacer war, aber etwas Gutes konnte es kaum sein, weil Stefan lachte. »Ein Date ohne Auto ist kaum möglich.«
»Wir könnten doch ihres nehmen«, wiederholte er. Allmählich sah er die Probleme ein, aber er schlug sich trotzdem wacker. »Oder vielleicht ein Taxi rufen?«, fragte er lahm – er wusste, dass dies kein genialer Zug war. Er hörte ein leises, verächtliches Schnauben hinter sich und wünschte sich einen ganz kurzen Augenblick derjenige zu sein, der diese verdammte Schere in der Hand hielt. »Hör mal, du weißt doch, wie ich darüber denke. Ein Fahrrad ist sicher, praktisch und ökologisch unbedenklich. Wenn ich mit dem Rad fahre, kann ich auf nicht erneuerbare fossile Energien verzichten und komme trotzdem dorthin, wo ich will.«
»Aber du kommst nirgendwo hin. Jedenfalls nicht bei den Frauen«, sagte Stefan, der zum ersten Mal den Mund aufmachte.
Jon versuchte, nicht mit den Zähnen zu knirschen. Immer wenn er Denn sie wissen nicht, was sie tun oder Jenseits von Eden gesehen hatte, war ihm aufgefallen, wie sich James Deans Gebiss verkrampfte, wenn er wütend war. Um keinen Preis wollte er diesem dämonischen Barbier zum Opfer fallen. Stefan würde ihm, ohne zu zögern, die Halsschlagader durchtrennen. Jon beschloss, ihn einfach zu ignorieren. »Willst du mir weismachen, dass ich mir ein Auto kaufen muss, um an Frauen zu kommen?«, fragte er entrüstet. Tracie wusste, was für ein eingefleischter Autogegner er war. All die vielen Blechkisten zerstörten doch den pazifischen Nordwesten und machten der ganzen Umwelt die Hölle heiß. Wie konnte sie bloß so etwas vorschlagen?
»Wie wär’s dann, wenn du doch noch mal über ein Motorrad nachdenken würdest?«, fragte Tracie munter.
»Ein Motorrad? Ich hab dir doch erklärt, dass ich damit nur mich und andere in Gefahr bringen würde.«
»Aber es ist einfach cool«, sagte Tracie und fiel vor Begeisterung fast vom Hocker. »Und die Mädels sind ganz scharf auf Jungs, die Motorrad fahren.«
»Und wie scharf sind sie auf Jungs, bei denen die eine Gesichtshälfte vom Asphalt weggeschürft worden ist?«, fauchte er.
»Ganz ruhig!«, warnte Stefan.
»Darüber unterhalten wir uns später«, beschloss Tracie.
»Das werden wir nicht«, antwortete Jon angesäuert, bevor er herumgewirbelt wurde und Stefan in die Augen sah. Im Rasiermesser des Friseurs blitzte das Licht auf, und einen Augenblick lang dachte Jon schon, Stefan wolle es wie Sweeney Todd schwingen, der dämonische Barbier von Fleet Street aus dem gleichnamigen Horror-Musical, doch dieser Irre hielt ihm nur einen Spiegel hin.
Jon schaute hinein. O Gott! Er sah aus wie ein Igel. Seine Haare standen hoch wie Stacheln. Der dämonische Barbier hätte mich besser gleich umgebracht, dachte er und legte schützend die Hände über den Schädel. Stefan fegte die letzten Haarschnipsel von Jons runderneuertem Kopf.
»Unglaublich«, sagte Tracie.
»Totale Transformation«, erwiderte Stefan selbstzufrieden. Aber Jon war derjenige, der transformiert worden war – in was eigentlich?
Er starrte weiter unverwandt sein Spiegelbild an. Im Spiegel sah er, wie hinter ihm Tracie Stefan umarmte. Dann tanzte sie ausgelassen und voller Begeisterung um seinen Stuhl. Nun, sie war seine Freundin. Wahrscheinlich mochte sie Igel. »Fantastisch«, krähte sie und zog ihn aus dem Stuhl. Vielleicht war es doch gar nicht so schlimm, wie er dachte. Dann zog Tracie ihm im Vorbeigehen die Brieftasche aus der Hose und reichte Stefan seine Kreditkarte.
»Das ist garantiert das Beste, was du je für zweihundert Dollar bekommen hast«, versicherte sie ihm
»Zweihundert Dollar!« Jon blieb die Spucke weg. Dann sah er Stefan mit seinem Rasiermesser an und schluckte. Immer noch besser, als abgemurkst zu werden, wenn auch nicht unbedingt billiger.