27. Kapitel
Gedämpfte Konversation erfüllte das malaysische Restaurant. Kellner und Kellnerinnen schwebten mit riesigen Tabletts zwischen Küche und Gastraum hin und her. Jon saß mit Samantha an einem Ecktisch. In der Pose eines James Dean in Denn sie wissen nicht, was sie tun erzählte er gerade eine sehr gefühlsbetonte Geschichte zu Ende.
»Ich hab noch nie jemandem davon erzählt«, sagte Jon und legte eine Pause ein. Nervös spielte er mit dem Goofy-Pez-Spender herum, dass die Ohren rotierten. Was nun?, dachte er. Der Kürze halber hatte er sich entschieden, zwei von Tracies Ratschlägen miteinander zu verbinden: Er hatte eine Tragödie erfunden und sie gleichzeitig Samantha als ein Geheimnis anvertraut, von dem nur sie etwas wusste.
Samanthas Mitgefühl – eine durchaus angemessene Reaktion auf seine Geschichte – erfüllte ihn mit Verachtung. Er vermutete, es rührte daher, dass er sie mit seiner Lüge für dumm verkauft hatte. Aber wenn er einer Fremden erzählte, dass er ein Mormone sei oder eine Waise oder dass er am Unabhängigkeitstag geboren worden sei statt am 3. Dezember – aus welchem Grund sollte sie ihm dann nicht glauben? Samantha anzulügen war keine großartige Leistung. Warum kam er sich dann so verdammt überlegen dabei vor?
Noch etwas bereitete ihm Sorgen: Je mehr er log, desto leichter fiel es ihm, und desto häufiger fragte er sich, ob das, was andere erzählten, eigentlich wahr war. Wie das wohl bei seinem Vater gewesen war? Hatte er Jon in all den Jahren genauso angelogen wie seine Mutter? Er überlegte und starrte auf den Tisch.
»Ich komm einfach nicht darüber weg, wie falsch ich Sie eingeschätzt habe«, sagte Samantha. »Ich meine, ich habe Sie zwar registriert, aber irgendwie hielt ich Sie für einen...« Sie suchte nach dem richtigen Wort, und Jon war schon gespannt, für welches Synonym von »Langweiler« sie sich wohl entscheiden würde. »Na ja, ich habe Sie mir eben ganz anders vorgestellt«, sagte sie.
Er nickte und ließ ein perfektes James-Dean-Achselzucken folgen. »Ja, das kenne ich. Die meisten Leute sehen nicht mein wahres Ich.« Er seufzte und schaute auf den Pez-Spender hinab. »Mein Bruder war ein großer Pez-Fan.« Er hatte bereits gemerkt, dass es am besten war, wenn er nicht zu viel redete. Andernfalls bestand nur die Gefahr, dass er wieder alles vermasselte oder sich in eine Lüge verwickelte, die er sich dann einprägen musste. Vielleicht war das ja der Grund dafür, warum Männer wie sein Vater die Frauen wechselten wie die Anzüge: Irgendwann wurden die Lügen einfach zu kompliziert, und da sie die Wahrheit nicht eingestehen konnten, begannen sie einfach wieder von vorn.
Samantha vernahm seinen Seufzer und reagierte mit noch größerer Aufmerksamkeit. »An was denken Sie gerade?«, fragte sie. »Sie dürfen es mir ruhig erzählen.« Ihre Augen flehten ihn an. Lüg mich an, sagten sie. Erzähl mir was richtig Dramatisches – etwas, das mich zur Mitwisserin in deinem Drama macht. »Und was ist dann passiert?«, fragte Sam und beugte sich erwartungsvoll zu ihm vor.
»Er saß hinter mir auf dem Motorrad, als ich gestürzt bin. Ich hatte kaum einen Kratzer, aber er« – Jon zögerte ein wenig, um die Spannung zu steigern -, »er hat es nicht überlebt.« Wieder schwieg er ein paar Augenblicke, während er den Blick zur Küche wandte und seine Kiefermuskulatur so auffällig wie nur irgend möglich arbeiten ließ. Mein Gott, wenn ich so weitermache, kriege ich noch Backenknochen wie Jay Leno, dachte er. Er erzählte die Geschichte besser gleich zu Ende. »Ich hab deswegen immer Schuldgefühle mit mir herumgeschleppt, aber seither habe ich vor nichts mehr Angst.«
Sam nickte. »Ich glaube, ich verstehe Sie«, meinte sie – was eine feine Sache war, weil Jon selbst das wahrlich nicht von sich behaupten konnte. Was für ein absoluter Blödsinn! Und die Frauen fielen auf diesen Mist auch noch rein.
Die hübsche junge asiatische Bedienung kam an ihren Tisch. Jon schaute von Sam zu ihr auf und legte ihr, sichtlich überrascht, die Hand auf den Arm. »Hat sie nicht wunderschöne Augen?«, fragte er Sam, während er das Mädchen anlächelte. Als er die Reaktion auf Samanthas Gesicht sah, wusste er, dass er goldrichtig lag.
 
Als Jon am nächsten Morgen den Flur von Micro/Con hinunterging, war er stolz wie Oskar. Er hatte sein Radar auf Samantha geschaltet, als er in der Ferne eine Frau sah, die ihm bekannt vorkam. Um ein Haar wäre er in der Nacht zuvor bei Samantha geblieben, und auch wenn es nicht zum Letzten gekommen war, fand Jon, dass ein exzellentes Flötenspiel auch nicht zu verachten war. Und irgendwie ahnte er, dass oraler Sex bei Samantha das Vorspiel vor dem Eigentlichen war – ihre Art eben, ihm zu zeigen, dass sie nicht die Art Frau war, die schon beim ersten Treffen alles gab.
Samantha hatte sich als sehr anschmiegsam und großzügig erwiesen, was auf den ersten Blick überraschend schien bei einer Frau, die in der Arbeit so erfolgreich und selbstbewusst war. Aber vielleicht war es so überraschend auch wieder nicht. Allmählich erkannte er nämlich, dass die sexuelle Persönlichkeit einer Frau nicht unbedingt von ihrem Auftreten in der Öffentlichkeit abgeleitet werden konnte. Während er noch darüber nachdachte, hielt er den Blick auf die Frau gerichtet, die er in der Ferne erspäht hatte – bis er merkte, wer sie war. »Carole!«, brüllte er. Es war die Schöne vom Flughafen! Hatte sie nicht etwas davon erzählt, dass Micro/Con ein Kunde von ihr war?
Sie drehte sich um, und Jon tat sein Bestes, um seine Coolness wiederzuerlangen. Er hätte ihren Namen natürlich nicht herausschreien dürfen und wollte jetzt auf keinen Fall rennen, um zu ihr aufzuschließen. Wenn Sie auf ihn wartete, konnte er ja vielleicht so tun, als wollte er an ihr vorbeilaufen. Es ging ja wohl nicht an, dass er ein Mädchen dazu brachte, sich nach ihm umzudrehen. Ein übler Ausrutscher.
Manchmal glaubte er schon, es nie zu lernen. Aber als Carole, die Schöne ihn sah und langsam auf ihn zuging, merkte er, dass sie ihn wiedererkannte. Er hatte eine seiner James-Dean-Posen eingenommen – diesmal die trotzig herausfordernde aus Denn sie wissen nicht, was sie tun. Die Vorstellung, dass sie ihn als Pfeife in Erinnerung hatte, war ihm sehr zuwider, und er ärgerte sich, dass er ihr nachgerufen hatte und sie nun wusste, dass er hier arbeitete, aber er war auf Eroberung aus. Vielleicht konnte er aus seinem Patzer am Flughafen, wo er das Bild des Serienkillers so detailgetreu ausgefüllt hatte, wie das ohne genetischen Fingerabdruck möglich war, doch noch Kapital schlagen. Gefährlich wirken, aber doch ehrbar genug sein, um hier zu arbeiten – diese Kombination machte aus ihm einen weitaus akzeptableren Kandidaten. Vielleicht war es ja genau richtig gelaufen.
Carole musterte ihn von Kopf bis Fuß. »Das Flugzeug, stimmt’s?«, fragte sie. Er ließ sich nichts anmerken. Konnte es so einfach sein? Nein. Im nächsten Augenblick blinzelte sie und korrigierte sich: »Oh, das Gepäck.«
Na gut, in diesem Fall war ein guter Angriff wohl die beste Verteidigung. Er rang sich ein Lachen ab. »Genau. Mir war mein Gepäck abhanden gekommen und Ihnen offenbar Ihr Sinn für Humor.« Er ließ den Satz kurz wirken. »Mann, Sie haben mich doch glatt ernst genommen, als ich Ihnen den Verrückten vorgespielt habe«, sagte er und zeigte mit einer Geste über dem Kopf an, um wie viel ihr sein Scherz zu hoch gewesen war.
Zu seiner Verblüffung errötete sie. »Tut mir Leid. Ich war wahrscheinlich ein wenig verkrampft. Lügen mag ich nicht. Aber... Sie sehen... irgendwie verändert aus.«
Er zuckte mit den Achseln. »Vielleicht machen das die Stiefel«, sagte er, und sie schaute auf seine Füße.
»Sie arbeiten hier?«, fragte Carole. »Das wusste ich ja gar nicht. Haben Sie mir das damals erzählt?«
Er sah, wie sie sich allmählich entspannte. Sie lächelte. Offenbar war sie zu dem Ergebnis gekommen, dass er doch kein Irrer aus dem Wald war, der nur auf sein nächstes Opfer wartete. Oder dass er, selbst wenn er irr war, wenigstens über eine umfassende Krankenversicherung verfügte. »Ich habe manchmal hier zu tun«, bestätigte Jon wahrheitsgemäß. Endlich einmal brachte es ihm was, als Typ mit Vollzeitjob geoutet zu werden. Er lächelte. Allmählich kam er auf den Trichter. Mann brauchte nur, den Gedanken von Frau zuvorzukommen.
»Und was machen Sie hier?«, fragte er.
Carole lächelte. »Das kann ich Ihnen nicht sagen«, erklärte sie.
Er zuckte mit den Achseln. Durch die Frage hatte er ein paar Punkte verloren, aber das war ihm ziemlich egal. Schließlich hatte er morgen ein Date mit Ruth, am Wochenende eines mit Samantha, und Beth rief auch noch dauernd an. Wenn sie nicht bald damit aufhörte, musste er wohl schon deshalb noch einmal mit ihr schlafen, um seine Telefonleitung freizuhalten. Der Gedanke entlockte ihm beinahe ein Lächeln, aber stattdessen schaute er Carole an. Sie war nicht nur hübsch, sie war auch intelligent. Und sie arbeitete für Micro/Con, so dass sie beide sicherlich einiges gemeinsam hatten. Jon fragte sich, wie es wohl war, mit einer Frau zusammen zu sein, die seine Arbeit verstand und alles, was sie so mit sich brachte. Selbst bei Tracie war das nicht der Fall. Er bedachte Carole mit einem noch breiteren Lächeln. »Können Sie mir sagen, ob Sie essen?«, fragte er.
»Essen? Natürlich ess ich.«
»Können Sie mir sagen, ob Sie mit mir essen gehen wollen?«
Sie lächelte zurück. »Aber natürlich will ich mit Ihnen essen gehen.«
Und danach wirst du mich küssen und dann wahrscheinlich mit mir schlafen, dachte er hoffnungsfroh. Jon grinste. Das war um einiges interessanter als Parsifal.
»Und wo?«, fragte sie.
»Das kann ich Ihnen nicht sagen«, erklärte er, und sie musste lachen. »Wenn ich Ihnen das sagen würde, würden sie mir auf die Spur kommen und mich töten.«
»Und das wäre natürlich ganz furchtbar«, meinte sie, und er merkte, dass sie mit ihm flirtete. Ach, das Flirten. Er musterte Carole genauer. Sie war witziger als Sam und wahrscheinlich auch witziger als Ruth. Und sie war sehr, sehr schön. Aber nicht ganz so schön, wie er sie in Erinnerung gehabt hatte.
 
Jon saß mit Ruth, der Bergsteigerin, an einem Ecktisch bei Vito’s. Der Raum war schwach erleuchtet, und auf jedem Tisch brannten Kerzen in winzigen Glaslaternen. Er hatte sie gerade an seine obligatorische Drama/Geheimnis/Das-habe-ich-bisher-nur-direrzählt-Geschichte herangeführt. »Und was ist dann passiert?«, fragte Ruth atemlos.
»Wir waren Zwillingsbrüder«, sagte er. »Aber mein Bruder hat sich umgebracht. Ich war besser in der Schule, besser im Sport, kam besser bei den Mädchen an. Ich selber habe ihn zwar nie als Rivalen gesehen, aber ich fürchte, er hat sich immer irgendwie... minderwertig gefühlt. Seit seinem Tod werde ich deswegen von Schuldgefühlen verfolgt.« Er schwieg ein paar Sekunden, überrascht, dass er tatsächlich eine Spur des Schmerzes spürte, den sein imaginärer Zwillingsbruder bei ihm ausgelöst hatte. Er zuckte die Achseln. »Nun ja, und seither habe ich vor nichts mehr Angst.«
»Wirklich?«, sagte Ruth, und er sah, wie sich Mitgefühl über ihr Gesicht ausbreitete.
Als ihre stämmige Kellnerin an den Tisch kam, um die Teller abzuräumen, gebot Jon ihr Einhalt, indem er ihr die Hand auf den Ellbogen legte. »Hat sie nicht wunderschöne Augen?«, fragte er Ruth.
 
Jon lehnte sich auf seiner Bank zurück. Er wartete im Java, The Hut an einem Ecktisch auf Tracie, aber er war nicht allein. Bei ihm saß Doris, die asiatisch-amerikanische Kellnerin, die er kennen gelernt hatte, als er mit Samantha essen gewesen war. »Und was ist dann passiert?«, fragte ihn das Mädchen, als hinge ihre ganze Existenz von seinen nächsten Worten ab.
»Wir haben auf dem Schießplatz herumgeballert«, erklärte er. »Ich bin ein erstklassiger Schütze, und er hat mich dazu herausgefordert, ihm eine Zigarette aus dem Mund zu schießen. Und obwohl ich erst vierzehn war und er mein Vater, hab ich nein gesagt. Da ist er sehr wütend geworden, aber ich hab trotzdem nein gesagt.« Er holte einen Pez-Spender mit Caspar, dem kleinen Geist, hervor und hielt ihn ihr hin, als handelte es sich um einen Orden der Ehrenlegion. Danach fuhr er fort: »Dann hat er vor all seinen Kumpeln mit meinen Schießkünsten angegeben und mit ihnen gewettet, dass ich das könnte. Da kam ziemlich viel Geld zusammen. Und nachdem er so das Maul aufgerissen hatte, blieb mir nichts anderes übrig, als es zu versuchen... und danach hatte er wirklich ein großes Maul. Im wahrsten Sinne des Wortes. Es war natürlich ein Unfall.« Er seufzte tief. »Aber trotzdem habe ich deswegen immer ein schlechtes Gewissen gehabt. Seither habe ich vor nichts mehr Angst.« Er rang sich einen weiteren tiefen Seufzer ab, bevor er den Kopf zum Fenster wandte, als stünde sein Vater draußen auf dem dunklen Parkplatz.
Molly kam an den Tisch und brachte ihnen ihr Essen. Nachdem sie jedem seinen Teller gegeben hatte, nahm Jon ihre Hand und schaute Molly in die Augen: »Hat sie nicht wunderschöne Augen?«, fragte er seine Begleiterin.