EPILOG

Er weiß es, nicht wahr? Sam lag auf dem Bett und starrte hoch zur schallgedämmten Decke. Silver - er weiß es oder hat zumindest eine Vermutung.

Sie seufzte. Und wenn schon. Er würde niemand etwas davon erzählen. Da war sie sicher. Ihr Geheimnis - das Geheimnis der VGL - war nicht in Gefahr.

Nach all den dramatischen Geschehnissen war die Rückkehr zur Generro-Aerospace-Installation - die Heimkehr - alles andere als ein Höhepunkt geworden. Wills Flügelmänner hatten ihr die Kettenleiter hinauf in das speziell angepaßte Zweisitzer-Cockpit des führenden Feuerfalken geholfen. Irgendwie war es Sam gelungen, ein Grinsen zu unterdrücken, als sie wieder das Innere des UFT-Cockpits gesehen hatte, erkannt hatte, wie furchtbar primitiv und schlicht es im Vergleich zu dem eines echten BattleMechs war. Abgesehen von der Sorge darum, daß sie es in dem improvisierten Beifahrersitz bequem hatte, war Will stumm geblieben, während er die drei Feuerfalken aus Rolandsfeld in die Berge führte, die um diesen Teil von Solaris City aufragten. Sobald er sicher war, außer Sicht der Einheimischen zu sein, hatte er Kontakt mit Macintyre aufgenommen. Zwei Sekunden später hatte Sam das Gefühl des Fallens erfaßt, an dem sie die Translokation zurück zur Erde erkannte.
Und da wäre ich jetzt, dachte sie sarkastisch. Sicherheitsposten hatten neben dem Gerüst im Generro-Kontrollraum auf sie gewartet, wo Wills Cockpit materialisiert war - Gemini hatte der ZweisitzerPrototyp geheißen, ›Zwillinge‹. Ernest Macintyre hatte wortlos zugesehen, wie die Wachen Samantha weggeführt hatten, zu diesem Zimmer, in dem sie die letzten Stunden verbracht hatte.

Zum dutzendsten Mal sah sie sich um. Sie mußte zugeben, der Raum war überraschend komfortabel. Von dem Augenblick an, in dem sie sich entschieden hatte, Solaris Sieben zu verlassen, hatte sie erwartet, daß ihr nächster Halt eine Zelle sein würde. Sie hatte den Gedanken mit einer Schicksalsergebenheit akzeptiert, die sie selbst überrascht hatte. Das war es wert, hatte sie sich gesagt - und an all das zurückgedacht, was sie gelernt, was sie erfahren hatte. An all die Möglichkeiten gedacht, die diese VGL repräsentierte.

Und so hatte dieses Zimmer sie angenehm überrascht. Keine Gitterstäbe, keine Metallpritsche. Alles in allem hatte die Einrichtung sie eher an ein Motel als an San Quentin erinnert - bequem genug und vollkommen durchschnittlich.

Nur, daß die Tür sich nicht öffnete, als sie den Knauf drehte. Und es ist die verriegelte Tür, die eine Zelle letztlich ausmacht, nicht die Einrichtung, richtig...? Sie seufzte wieder, schloß die Augen und wartete.
Das Knacken des Türschlosses weckte sie aus einem leichten, traumreichen Schlaf. Sie setzte sich hastig auf, schwang die Füße auf den Boden und fuhr sich mit den Händen durch das Haar.

»Ms. Dooley.«

Sie lächelte, als sie die beiden Männer in der Tür erkannte. »Mr. Macintyre«, erwiderte sie im selben Ton wie der junge Ingenieur. »Und Mr. Warner.« Sie deutete zu den beiden Stühlen an der Wand. »Bitte.«

Der junge Ingenieur blinzelte und nickte. Warner trat zuerst ein. Macintyre schloß die Tür hinter sich - Sam grinste, als sie ihn abschließen hörte -, ging dann hinüber zu einem der Stühle und setzte sich. Seinen Aktenkoffer (ein störendes Element in Sams Augen) stellte er auf den Boden. Warner lehnte sich an die Wand neben der Tür, ein unbewußtes ›visuelles Echo‹ von Silvers Haltung.

Macintyre betrachtete sie für einen langen Augenblick.
Seine Miene entsprach einer komplexen Mischung aus Neugierde, Bedauern und anderen Gefühlen. Schließlich fragte er: »Wie geht es Ihnen, Ms. Dooley?«
»Gut genug«, stellte sie mit einem Achselzucken fest. »Und bitte nennen Sie mich Sam. So weit waren wir schon mal.« Sie beugte sich vor, stützte die Arme auf die Knie, sah von einem der Männer zum anderen. »Was nun?« fragte sie.
Macintyre sah zur Seite, war anscheinend nicht fähig, ihrem Blick zu begegnen. Und das ist eine ziemlich klare Antwort, oder? stellte Sam traurig fest. Aber es gelang ihr - glaubte sie -, ihre Gefühle zu verbergen.
»Das... ist ein Problem«, gestand Macintyre zögernd ein. »Die Virtual Geographie League war immer gezwungen, Wert auf Geheimhaltung zu legen.« Er zuckte die Schultern und schaffte es noch immer nicht, ihr in die Augen zu sehen. »Ich bin sicher, Sie verstehen das, Samantha. Die Technologie, die wir entwickelt haben... Wenn sie in die falschen Hände fiele...« Er hob die Schultern und ließ den Satz unvollendet.
Er brauchte nicht weiterzureden. Sowjettruppen in BattleMechs beim Marsch auf Westeuropa? Terroristen mit Lasergewehren? Ich verstehe, dachte Sam. Aber: »Gibt es überhaupt richtige Hände?« fragte sie rhetorisch.
Diesmal antwortete Warner. »Der Einwand, daß es sie nicht gibt, wurde schon häufiger erhoben«, gab er zu. »Ich stimme dem nicht unbedingt zu...« - er grinste verlegen -, »...aber ich bin voreingenommen.«
»Ich könnte Ihnen versprechen, daß ich nie über das rede, was ich erfahren habe«, sagte Sam leise. Sie zog mit dem Finger ein X über die Brustpartie ihres Overalls. »Großes Pfadfinderinnenehrenwort.«
Ernest Macintyre kicherte leise, sagte aber nichts. Muß er auch nicht, wußte Sam. »Ich stelle Ihnen die Frage noch einmal, Gentlemen«, sagte sie. Ihre Stimme erschien ihr überraschend ruhig. »Was nun?«
Der Ingenieur drehte sich um und tauschte Blicke mit dem alternden Piloten aus. Nach ein paar Sekunden stellte Macintyre fest: »Sie haben jede Sicherheitsregel gebrochen, die ich in meinem Leben je beachtet habe.« Zum ersten Mal, seit er das Zimmer betreten hatte, sah er sie mit seinen hellen Augen offen an. »Und noch einige mehr, die das Sicherheitspersonal mir erst erklären mußte«, fügte er in ironischem Ton hinzu. »Sie sind ein Außenseiter, Samantha. Eine ungesicherte Waffe. Sie sind eine Gefahr.«
»Und doch singt Mandelbaums Bericht Ihr Lob«, warf Warner ein. »In den höchsten Tönen.«
»Moment«, hob Sam die Hand. »Warten Sie. ›Mandelbaums Bericht‹?«
Macintyre lachte leise. »Sie haben doch wohl nicht geglaubt, Will und die anderen wären zufällig aufgetaucht, oder?« fragte er. »Zugegeben, der Zeitpunkt war... ein Glücksfall«, stellte er vorsichtig fest. »Aber wäre Mandelbaums Nachricht nicht durch Kanäle zu uns gelangt, die seit Jahren nicht mehr benutzt worden waren, wären sie überhaupt nicht erschienen.«
Sam nickte zögernd. Das ist zuviel, um jetzt darüber nachzugrübeln. »Weiter.«
»In seinem Bericht benutzte er Begriffe wie ›taktisches Genie‹«, erklärte der Ingenieur. »Begriffe wie ›enormes Potential‹ ›geborene Kriegerin‹. Muß ich es weiter ausführen?«
Sie schüttelte wortlos den Kopf.
Warner nahm den Faden auf. »Von jemand anderem kommend, hätte dieser Bericht nicht annähernd dieses Gewicht gehabt. Aber Mandelbaum...« - er zuckte die Schultern - »... ist Mandelbaum.«
»Und so sieht es aus«, stellte Macintyre fest. »In gewissen Kreisen gibt es Einwände...« Plötzlich gluckste er. »Ich bin überrascht, daß Sie das Zähneknirschen nicht gehört haben. Aber ich wurde offiziell ermächtigt, Ihnen die Mitgliedschaft in der Virtual Geographie League anzubieten.«
Sam starrte die beiden an, den jungen Ingenieur und den alternden Testpiloten. Sie bemerkte, daß ihr Mund offenstand. Sie schloß ihn. »Ich...«
Sid Warner unterbrach sie. »Sie brauchen nicht sofort zu antworten«, riet er ihr. »Denken Sie darüber nach. Es ist eine weitreichende Entscheidung.« Sein Mund verzog sich zu einem trockenen Lächeln. »Nehmen Sie sich Zeit. Im Übrigen dachte ich mir, Sie hätten vielleicht gerne ein bißchen was an Lektüre, um Ihnen bei der Entscheidungsfindung zu helfen.« Er nickte Macintyre zu.
Der Ingenieur öffnete den Aktenkoffer neben seinen Füßen und holte ein in Leder gebundenes Buch heraus, das er Sam überreichte. Sie nahm es und starrte auf den Namen auf dem Einband.
»Wenn Sie soweit sind und reden wollen, stehe ich zu Ihrer Verfügung. Wir stehen beide zu Ihrer Verfügung.« Warner stieß sich von der Wand ab, Macintyre stand einen Augenblick später auf. Sie drehten sich beide zur Tür.
Warner zögerte und sah zurück. »Ich weiß, es ist voreilig«, sagte er. »Aber... willkommen an Bord, Samantha Dooley.« Und damit verließen die beiden den Raum - durch die Tür, die sie hinter sich schlossen, aber nicht verriegelten.
Fast dreißig Sekunden lang saß Sam nur auf dem Bett und starrte zur Tür. Endlich schüttelte sie den Kopf und schlug das Buch auf der ersten Seite auf. Sie lächelte, als sie den handgeschriebenen Titel las:

›PERSÖNLICHES TAGEBUCH DES JAMES R. DOOLEY,

 

SR.‹

 

Sie lehnte sich zurück und begann zu lesen.