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Das also ist Pop-Pops Allerheiligstes. Sein geheimer Zufluchtsort. Einen Augenblick lang fühlte sich Samantha wie von der Wirklichkeit abgeschnitten. Ich drehe durch, dachte sie benommen. Das ist wie in einem... einem Film oder so. In Wirklichkeit haben Leute keine Geheimzimmer.

Aber andererseits, warum nicht? Warum sollten sie keine haben, wenn sie eine Notwendigkeit dafür sahen und ihr Haus selbst entwarfen und bauten? Je mehr sie darüber nachdachte, um so besser gefiel ihr der Gedanke. Ich hätte nichts dagegen, auch eines zu haben, mußte sie zugeben, und für Pop-Pop muß der Gedanke unwiderstehlich gewesen sein - eine Art Streich, den er der ganzen restlichen Welt spielen konnte. Die Existenz dieses ›Allerheiligsten‹ erklärte auch einiges, was ihr immer zu denken gegeben hatte. Für einen Mann mit einer fünfzigjährigen Laufbahn als Berufspilot hatte Jim Dooley, Sr., bei ihr immer den Eindruck hinterlassen, ungewöhnlich wenige Souvenirs und Erinnerungsstücke zu besitzen. Sicher, er hatte seine Bücher und Fotos gehabt, an der Wand der Bibliothek und auch anderswo im Haus, aber das war es auch so ziemlich. Da hatte es keine Flugzeugmodelle, verzierten Kaffeetassen und andere ›Trophäen‹ gegeben, wie sie Piloten beinahe immer ansammelten. Teufel, selbst Mags hat ihren Aschenbecher als Erinnerung an eine ihrer ersten

Maschinen. Statt anzunehmen, daß Pop-Pop sich so sehr von allen anderen Piloten unterschied, denen sie je begegnet war, war es da nicht vernünftiger, anzunehmen, daß er einfach einen privateren Ort gefunden hatte, um seine Kostbarkeiten aufzuheben?

Die fensterlose ›innere Bibliothek‹ war geräumiger, als sie erwartet hatte: knappe zwei Meter breit schätzungsweise und vielleicht vier Meter tief. Und sie war sichtlich überfüllt. Fotos - gerahmt und ungerahmt, schwarzweiß und in Farbe - füllten zwei der Wände. Eine dritte war zugestellt mit kleinen Borden und Regalen, die eine verwirrende Masse Zeug trugen: Modelle, Plaketten und Ehrungen, sogar zwei Orden in einem gläsernen Schaukasten. Plötzlich wurde Sam klar, daß ihr Mund offenstand, und sie schloß ihn mit hörbarem Klacken. Sie fühlte ein warmes Schaudern bittersüßer Nostalgie. Sein ganzes Leben ist hier aufgebaut, dachte sie. Pop-Pops ganzes Leben. Alles, was ihm wichtig war.

Langsam näherte sie sich einer der Fotowände, streckte zögernd die Hand nach einem der Bilder aus. Es war ein körniges Gruppenfoto, in Farbe, und zeigte Jim Dooley mit Mitte Vierzig, zwischen sechs anderen Männern, alle in militärisch geschnittenen Fliegeroveralls. Ein kleines Kind von vielleicht vier Jahren saß auf der Schulter eines der Männer. Sam beugte sich vor und versuchte das Einheitsabzeichen auf der Brustpartie von Pop-Pops Overall zu erkennen, aber die Auflösung des Fotos war zu schlecht. Sie wollte weitergehen, aber eines der Gesichter in der hinteren Reihe fiel ihr ins Auge. Wieder beugte sie sich vor und kniff die Augen zusammen. Sie schüttelte den Kopf. Das konnte Simon Warner sein, aber es war unmöglich mit Gewißheit zu sagen.

Das nächste Bild war viel älter - schwarzweiß, mit dem geringen Kontrast, den Sam mit Bildern aus der Zeit des 2. Weltkriegs assoziierte. Da war Pop-Pop wieder, jetzt als kraftstrotzender junger Mann Mitte Zwanzig, der aus dem Cockpit einer P-51 Mustang kletterte. Abschußmarkierungen auf dem Rumpf unter der Kanzel zeigten, daß er zwei feindliche Maschinen bestätigt und eine ›wahrscheinlich‹ vom Himmel geholt hatte.

Sam erkannte keinen der beiden Männer auf dem nächsten Foto. Auch dies war ein grobkörniges Schwarzweißbild, das diesmal zwei Männer in altmodischen Anzügen zeigte, die vor einem Ding standen, das Sam an einen frühen Bathyskaph erinnerte.

Vor dem nächsten gerahmten Foto blieb Sam stocksteif stehen. Wieder war Jim Dooley, Sr., zu sehen, ein großer, schlaksiger Jüngling nicht älter als zwanzig. Neben ihm stand eine schlanke, graziös wirkende Frau in den Dreißigern mit einem rätselhaften Halblächeln, das Haar leicht zerzaust, und mit Augen, so tief wie das Meer. Beide trugen Fliegermontur: hohe Schnürstiefel, Broadclothhosen und verschlissene lederne Fliegerjacken. Sam starrte mit weit aufgerissenen Augen auf das Bild. Sie erkannte die Frau. Sie hatte dieses Gesicht mit ebendiesem Lächeln auf den Seiten Dutzender Biographien und Fliegeralmanache gesehen. Amelia Earhart, das muß sie sein. Pop-Pop kannte Amelia Earhart - es sieht sogar aus, als wäre er mit ihr geflogen. Sie konnte nicht fassen, daß er ihr das nie gesagt hatte!

Es sei denn, es war eine Art Promostunt gewesen, dachte sie plötzlich. Ein Foto von Ihnen mit Lady Lindy für nur einen Dollar. Das konnte es gewesen sein.

Aber diese Erklärung glaubte sie selbst nicht so recht. Vorsichtig nahm sie das gerahmte Foto von der Wand und drehte es um. Im Rahmen steckte eine vergilbte Visitenkarte. G. P. PUTNAM'S SONS, PUBLISHERS, und eine Telefonnummer in New York. Aber es war der handschriftliche Vermerk auf der Karte, der Sams Aufmerksamkeit erregte. Für Jimmy, las sie. Nur der Himmel ist die Grenze! In Freundschaft, A. E.

Leicht benommen hängte sie das Bild wieder an die Wand. Was hat Sid Warner letztens gesagt? ›Stille Wasser sind tief'...‹

Sie überflog die übrigen Fotos mit zunehmender Eile. Jim Dooley in verschiedenen Stadien seiner Laufbahn, vor den unterschiedlichsten Flugzeugen. Gruppenbilder, lässig und posiert, von Männern und Frauen, die ihr unbekannt waren. Amateurfotos von Freunden und Kollegen.

Sie blieb plötzlich stehen, als ihr ein anderes Bild ins Auge fiel. Jim Dooley, wie es schien jetzt Ende Dreißig, grinste breit und schüttelte die Hand eines gebeugten Mannes mit wirrem grauem Haar, einem Schnauzbart wie einem Handfeger und den traurigen Augen eines Menschen, der die dunkelsten Geheimnisse der menschlichen Seele kennengelernt hatte. Albert Einstein.

Sam schüttelte langsam den Kopf. Das gibt es doch nicht, sagte sie sich. Einstein. Earhart. Wie hat er die getroffen? Wie hat er sie kennengelernt? Was, zum Teufel, hat Pop-Pop getrieben?

Und ein weiteres Bild erregte ihr Interesse. Es hing ein gutes Stück jenseits des Einsteinfotos. Es war größer als der Rest, in brillanter, lebendiger Farbe. Eine Landschaft, offenbar aus der Luft aufgenommen. Ein Strand aus schwarzem Sand, mit Schlangenlinien von leuchtendem Blaugrün durchzogen, an der Küste eines gewaltigen Ozeans. In einer nicht abschätzbaren Entfernung von der Küste ragten gewaltige zerklüftete Felssäulen aus den Wellen, in einer Reihe wie monolithische Wachtposten. Sam hatte ähnliche Formationen an den Küsten von Oregon und Kalifornien gesehen, aber irgend etwas an diesen Säulen ließ sie sehr viel größer erscheinen. Ja, dachte sie, als sie das Bild studierte. Ich kann die Wellen sehen, die sich am Fuß der Säulen brechen. Wenn das Wellen von durchschnittlicher Höhe sind, dann ... Wieder schüttelte sie den Kopf. Nein, das kann nicht stimmen, entschied sie. Nirgendwo auf der Welt gibt es eine Meile hohe Felsnadeln.

Sie entschied, daß es ein Gemälde sein mußte. Ein äußerst detailliertes fotorealistisches Gemälde, aber ein Gemälde. Das muß es sein. Als sie sich ein paar Jahre zuvor kurz mit Science Fiction beschäftigt hatte, war sie auf einige höchst bemerkenswerte Gemälde gestoßen, die beinahe vertraute Szenen hätten darstellen können, wäre da nicht irgendein phantastisches Element gewesen: zwei Sonnen am Himmel zum Beispiel oder ein gepanzerter Ritter auf einem Dinosaurier. Bemerkenswerte Leistung. Und bemerkenswert beunruhigend... Hastig wandte sie sich von der fremdartigen Landschaft ab.

Was war das?
Sie schreckte hoch wie unter einem Elektroschock. Ein Geräusch von unten. Ein metallisches Klicken.

Wie ein Schlüssel in der Haustür. Der Wachmann ... Sie sah sich wild um, kämpfte plötzlich mit Schuldgefühlen.

Eine Sekunde später hatte sie sich wieder in der Gewalt. Kein Grund zur Panik, meine Güte, dachte sie verärgert. Vielleicht muß er nur mal aufs Klo.

Sie hörte ein weiteres leises Klicken, als die Haustür sich schloß. Er ist sehr leise, wenn ich es recht bedenke. Als ob er keine Aufmerksamkeit erregen will, wer immer es ist.

Plötzlich fühlte Sam sich sehr unsicher. Wenn man das Gesetz strikt auslegt, habe ich wahrscheinlich überhaupt kein Recht, hier zu sein, erinnerte sie sich. Und die Nähe der rätselhaften Bilder und unwahrscheinlichen Souvenirs verstärkte ihr Gefühl des Unbehagens nur noch. Es ist, als ob man an einen Ort zurückkehrt, von dem man glaubt, ihn zu kennen, und dann feststellt, daß eine ganze Menge von dem, was man zu wissen dachte, nicht stimmt.

Lautlos trat sie aus dem Geheimzimmer zurück in Pop-Pops Bibliothek. Sie hielt den Atem an und lauschte. Stille.

Es ist also doch nur der Wachbubi, beruhigte sie sich selbst. Er geht auf die Toilette, und dann wird er wieder nach draußen verschwinden, um im Garten Streife zu gehen - oder was er auch immer hier zu treiben gedenkt.

Dann strafte ein erneutes Geräusch ihre Beruhigungsversuche Lügen. Leise knarrte Holz. Die Treppe, erkannte sie schockiert, jemand kommt die Treppe rauf.

Was, zum Teufel, geht hier vor?
Wieder legten sich Schuldgefühle wie ein stählerner Reifen um ihre Brust. Nein, riß sie sich zusammen. Ich bin hier nicht der Übeltäter. Oder wenigstens bin ich nicht allein unbefugt eingedrungen. Wer immer da auf der Treppe ist, hat hier ebensowenig zu suchen wie ich.
Ein weiteres Knarren und ein Schaben, als etwas über die Wand am ersten Treppenabsatz strich. Sam lief es kalt den Rücken hinab, als sich Adrenalin in ihre Blutbahn ergoß. Plötzlich schienen ihre Sinneswahrnehmungen schärfer zu werden, so, als hätte jemand die ›Lautstärke‹ ihres Nervensystems aufgedreht. Sie fühlte sich bereit, geladen - wie auf der JuJutsu-Matte unmittelbar vor dem Kampf. Ihre Füße schienen den Boden nicht zu berühren, als sie zur offenen Tür der Bibliothek glitt. An der Türöffnung erstarrte sie wieder und setzte ihre erweiterten Sinne ein, so gut sie konnte.
Stille. Absolute Stille. Sie schloß kurz die Augen, konzentrierte sich ganz auf ihre anderen Sinne. In der Vergangenheit hatte sie manchmal, wenn sie bis zum äußersten gespannt war, den Eindruck gehabt, die Anwesenheit anderer Menschen in ihrer Nähe spüren zu können, indem sie auf verschiedene nicht bewußt wahrnehmbare Signale ihrer Sinnesorgane ›lauschte‹. Zumindest erklärte sie sich dieses Phänomen so. Jetzt fühlte sie nichts. Gar nichts.
Sie tat noch einen tiefen, beruhigenden Atemzug und ließ die Luft langsam und lautlos wieder aus. Sie schob sich in die Türöffnung, wagte einen kurzen Blick um die Ecke.
Der Eindringling war keinen Meter vor ihr, am Kopf der Treppe. Ein groß gewachsener Mann, breit und muskulös, in unauffälliger schwarzer Kleidung. Kurze schwarze Haare, ein Gesicht, das in der Menge unterging. Ein metallisches Glitzern in der rechten Hand - ein Schlüsselring. Sam sah ihn überrascht die grauen Augen aufreißen.
Aber das war das einzige Zeichen von Schock. Er reagierte augenblicklich und schlug mit der linken Faust zu.
Ihre eigene Reaktion war instinktiv, als ihr JuJutsu-Training übernahm. Sie ließ sich einen halben Schritt zurückfallen und blockte den Schlag gleichzeitig mit dem linken Unterarm ab. Bevor er sich erholen konnte, packte sie seine Rechte mit der eigenen, stieß den Daumen auf den Handrücken und grub die übrigen vier Finger in die Handfläche. Einen Augenblick später hatte sie auch mit der linken Hand zugepackt und übte im sogenannten Adlergriff Druck aus. Sich auf dem rechten Fußballen drehend, sprang sie auf ihn zu und beugte seinen Ellbogen schmerzhaft nach hinten, während sie das linke Bein hinter das seine brachte. Mit einem angestrengten Grunzen beendete sie das Manöver, indem sie den linken Ellbogen mit ganzer Kraft gegen sein Kinn donnerte. Der Mann schrie vor Schmerz und Schock auf, als er nach hinten wegkippte.
Sam versuchte, den Adlergriff um seine Hand beizubehalten, aber noch bevor er aufschlug, peitschte sein Bein bereits in einem blitzartigen Tritt gegen ihr ungeschütztes linkes Knie durch die Luft. Sie tänzelte außer Reichweite, verlor ihn dabei aber aus dem Griff. Verdammt! Sie kämpfte um ihr Gleichgewicht. Der hat auch irgendeine Ausbildung.
Sie setzte zu einem erneuten Angriff an, bereitete ihrerseits einen Tritt vor, aber bevor sie heran war, sprang ihr Gegner schon wieder wie von einer Feder getrieben auf. Sam sah ihn das Gewicht verlagern, und ihr geschärfter Instinkt ließ sie sich nach hinten werfen.
Gerade noch rechtzeitig. Sein rechter Fuß zuckte blitzschnell zu einem Schwungtritt gegen ihren Hals vor, dessen Wucht ihr bei einem Treffer den Kehlkopf eingedrückt hätte. Jesus Christus! Sie stählte sich für den nächsten Angriff.
Aber der kam nicht. Statt dessen drehte der Mann auf dem Absatz um und spurtete die Treppe hinunter. Sam setzte ihm augenblicklich nach, aber da hatte er schon einen guten Vorsprung aufgebaut. Er riß die Haustür auf, bevor sie auch nur auf dem Treppenabsatz war, und sprang hinaus in die Auffahrt. Ein Motor röhrte auf, und Sam wußte schon, welcher Anblick sie erwartete, als sie hinaus auf die Eingangsstufen kam.
In der Auffahrt stand ein unscheinbarer hellgrüner Chevy-Kombi mit grauen Flecken im Lack. Der Motor lief, die Tür auf der Beifahrerseite war offen. Sams Gegner hechtete durch die offene Seitentür, als der Fahrer aufs Gaspedal stieg. Der Wagen schoß in einer Kiesfontäne davon und raste mit wild ausschlagendem Heck auf die Zufahrt.
Wo, zum Teufel, steckt Blondie? Warum ist nie ein Wachmann zu finden, wenn man mal einen braucht? Der gelbe Ford Bronco parkte noch immer vor dem Haus, aber von dem Wachtposten war weit und breit nichts zu sehen. Verdammt! Sam blieb in Bewegung und rannte über den Zufahrtsweg hinter dem Kombi her. Dessen Fahrer hatte offensichtlich keine Verfolgung erwartet und war langsamer geworden, als er auf die Straße nach Gold Beach und zur Küste einbog. Sam war nur ein paar Dutzend Meter hinter ihm, als sie das Tor erreichte. Mit wild pumpenden Beinen warf sie sich in die Kurve. Der Motor des Kombi röhrte wieder auf, und der Wagen wurde schneller. Der Fahrer mußte sie im Rückspiegel bemerkt haben. Aber das war nicht schlimm. Grendel stand keine hundert Meter entfernt.
Zwanzig Sekunden später sprang sie auf den Fahrersitz, rammte den Schlüssel ins Zündschloß und startete den schweren Motor des Mustang. Der grüngraue Kombi war außer Sicht, aber das würde sich bald ändern. Sam kannte die Straße. Bis zur Küste gab es keine Möglichkeit, sie zu verlassen.
Der Motor sprang an. Sam trat das Gaspedal durch und gab die Kupplung frei. Grendel schoß vorwärts wie ein von der Kette gelassenes Raubtier. Die Reifen quietschten, und der scharfe Geruch verbrannten Gummis drang in ihre Nase. Das Heck des schweren Wagens drohte auszubrechen, aber sie hielt ihn auf. Die Nadel des Drehzahlmessers schob sich in den gelben Bereich, als sie hastig erst in den zweiten Gang, dann in den dritten schaltete. Der Wind peitschte ihre Haare. Ihre Gesichtshaut spannte, und sie erkannte, daß sie in wilder Freude grinste. Du gehörst mir, dachte sie. Es war nur eine Frage der Zeit. Der Schrottkombi hatte keine Chance, einem aufgemotzten 5-LiterMustang zu entkommen. Mit jedem Meter Straße mußte sich der Abstand zwischen den beiden Fahrzeugen verringern.
Dann stellte sie fest, daß er sich überhaupt nicht zu verändern schien. Als Samantha unter den Bäumen vorschoß und auf den US-Postbootsteg zuraste, war von dem Kombi noch immer nichts zu sehen. Ha! Da war er, ein limonengrüner Lichtblitz, auf dem Weg zum Highway 101. Sie trat das Gas durch, ließ den Motor frei.
Gefahr! Aus dem Augenwinkel bemerkte sie eine Bewegung - einen Stationwagon, der rechts aus einer Seitenstraße kam. Sie lehnte sich auf die Hupe, riß das Lenkrad nach links und sofort wieder zurück. Der Mustang scherte auf die Gegenfahrbahn und geriet auf einem Kiesstreifen böse ins Schleudern. Einen Sekundenbruchteil später hatte Sam ihn wieder in der Gewalt. Die Hupe des Stationwagon plärrte, vom Dopplereffekt verzerrt, hinter ihr durch die Luft.
Meine Güte, der Kombi ist schnell! In den ein, zwei Sekunden der Ablenkung hatte er fast die Kuppe des Hügels erreicht, auf dem die Küstenstraße auf den Highway 101 traf. Sam rammte den Schalthebel in den vierten Gang und trat wieder aufs Gas. Der Motor heulte auf, und die Tachonadel kletterte von ›verdammt schnell‹ auf ›Wahnsinn‹. Grendel erreichte den Fuß der Steigung zum Küstenhighway mit einem Sam durch Mark und Bein gehenden Knirschen der Stoßdämpfer. Sie stemmte das linke Knie fest gegen die Fahrertür, um nicht durch den Wagen geschleudert zu werden.
Der Kombi schien um nichts langsamer zu werden, als er die Kreuzung an der Hügelkuppe erreichte und nach rechts drehte - nach Norden. Mit einem gequälten Aufquietschen der Reifen schleuderte er auf allen vier Rädern, verfehlte nur knapp ein Stoppschild und einen Betonpfeiler und hinterließ vier schwarze Schleifspuren auf dem Asphalt. Einen Augenblick dachte Sam, diesmal hätte der Fahrer sich übernommen, und sie erwartete, den schweren Wagen jeden Moment durch die Leitplanke brechen und über die Klippen hinab ins Meer stürzen zu sehen. Aber offensichtlich war das Handling des Kombi sehr viel besser, als sie angenommen hatte. Er schleuderte wild hin und her über den Highway, während der Fahrer um die Kontrolle rang, dann heulte der Motor auf, und die Reifen quietschten, als er wieder beschleunigte.
Grendel war fast an der Hügelkuppe. Das Stoppschild und die Betonpfeiler in der Mitte der Kreuzung schienen ihr gesamtes Blickfeld auszufüllen. Shit, Shit... Die Tachonadel zitterte um die 65 Meilen, und Sam mußte jetzt etwas unternehmen. Verzweifelt schaltete sie gleich vom vierten in den zweiten Gang und tanzte auf der Kupplung. Der Drehzahlmesser schoß in den roten Bereich, und der Motor kreischte auf wie eine geschundene Seele unter der Folter. Mit dem rechten Fuß trat sie einmal kurz auf die Bremse. Dann zog sie das Lenkrad bis zum Anschlag nach rechts.
Beinahe wäre es das Ende gewesen. Vor Beginn der Verfolgungsjagd hatte sie sich nicht die Zeit genommen, den Sicherheitsgurt anzulegen, und ohne den Halt des Schultergurts hätte die scharfe Drehung sie fast aus dem Sitz geworfen. Sie stemmte die linke Schulter und das Knie gegen die Fahrertür, preßte den linken Fuß auf den Wagenboden und zwang sich zurück in die Lederpolster.
Ich schaffe es nicht. Sie war zu schnell. Der Straßenbelag war zu schmutzig, um den breiten Pirellis die bestmögliche Haftung zu liefern. Das Lenkrad war bis zum Anschlag durchgedreht, und trotzdem schoß Grendel nach wie vor auf die Leitplanke auf der anderen Seite des Highway zu. In einem letzten verzweifelten Versuch, die Herrschaft über den Wagen zurückzugewinnen, trat sie ein einzelnes Mal das Gaspedal durch und nahm den Fuß dann ganz weg.
›Schubbetrieb-Übersteuerung‹ - so hatte es einer der Männer genannt, von denen sie Rennunterricht erhalten hatte. Das war, worauf sie es anlegte. Die Motorkompression verlangsamte die Antriebsräder gerade genug, und die hinteren Pirellis lösten sich von der Straße, während die Vorderräder ihre Haftung behielten. Das Heck des Wagens schlug hart aus und drohte den ganzen Wagen in eine unkontrollierte Drehung zu reißen. Aber Sam steuerte in die Schleuderbewegung. Ihre Knöchel am Lenkrad glänzten weiß vor Anstrengung. Sie trat wieder aufs Gas und lieferte den Hinterrädern Energie. Die Reifen faßten wieder, und Grendel sprang nach vorne. Gedankenschnell drehte Sam das Lenkrad in die entgegengesetzte Richtung, und wieder, und gleich noch einmal, um gegen die Tendenz des Wagens, auszubrechen, anzukämpfen. Der Motor kreischte, als sie das Pedal durchtrat und sofort wieder in den dritten Gang hochschaltete, dann in den vierten. Ihr war kalt - eine erste Nachwirkung des Adrenalins, das durch ihre Adern strömte - und ihre Kaumuskeln schmerzten, so hatte sie die Zähne zusammengebissen. Aber ich hab es geschafft, Gott steh mir bei, stellte sie in Gedanken fest. Ich hab es geschafft! Wo war der Kombi?
Es war kaum zu fassen, aber der Kombi hatte den Abstand zwischen den beiden Wagen wieder vergrößert. Er war mindestens hundert Meter voraus und schien zu beschleunigen. Sam sah entgeistert zu, wie er sich am Otter Point in eine Kurve legte und sie wie auf Schienen absolvierte, nahezu ohne ein Wakkeln. Spezialmotor, Spezialaufhängung, erkannte sie. Was, zum Teufel, geht hier vor? Sie trat das Gaspedal durch, beobachtete die Nadel des Drehzahlmessers, die sich der roten Linie näherte. Wieder stemmte sie sich gegen die Tür und warf Grendel, immer noch beschleunigend, durch die Otter-Point-Kurve.
Der Tacho zeigte fast 100 Meilen in der Stunde an, als sie aus der Kurve schoß. Vor ihr hielt der Kombi seinen Vorsprung, aber wenigstens schien er ihn nicht noch auszubauen. Sam versuchte, sich die Details dieses Highwayabschnitts ins Gedächtnis zu rufen. Nach Otter Point folgte eine ziemlich gerade Strecke aufwärts nach Nesika Beach, dann weiter nach Norden bis Ophir. Sie gestattete sich ein leichtes Lächeln. Auf einer offenen Geraden würde Grendel den Kombi abfrühstücken.
Die Küstenstraße war fast leer - Gott sei Dank! Zwei riesige, ausstaffierte Honda Gold Wings zogen nach Süden, und eine Gruppe nach Norden fahrender Biker hatte auf dem Seitenstreifen angehalten, um sich die wilde Jagd anzusehen. Ansonsten gab es keinen Verkehr. Der Mustang erreichte 120 Meilen, und das Donnern des Winds war lauter als der Motor. Die Luftwirbel peitschten Sams Hinterkopf und schleuderten ihre langen Haare nahezu waagerecht nach vorne. Sie hatte den Wagen noch nie so schnell offen gefahren. Wie werden sich der Wind und die Turbulenzen auf das Handling auswirken, wenn ich ein Notmanöver ausführen muß? überlegte sie mit einem unguten Gefühl in der Magengrube.
Die Tachonadel kroch weiter auf 130, dann 135. Grendel entwickelte eine beunruhigende Vibration, in der die gesamte Karosserie auf der harten Federung rhythmisch erbebte. Das Lenkrad unter Sams Händen zitterte wie ein lebendes Wesen. Hastig nahm sie Gas zurück und ließ die Geschwindigkeit unter 130 Meilen in der Stunde sinken. Das ist schnell genug, entschied sie. Endlich verringerte sich die Distanz zum Kombi - langsam, aber sicher. Und was mache ich, wenn ich ihn eingeholt habe? Sie verwarf den Gedanken so schnell, wie er gekommen war. Eines nach dem anderen.
Alle dreißig Sekunden zuckte eine weitere Meile Straße unter Grendels Rädern vorbei. Sie war keine fünfzig Meter mehr hinter dem Kombi. Gleich sind wir in Nesika Beach, erkannte sie. Wenn wir durch den Ort fahren, muß der Kombi langsamer werden, oder?
Sie hatte den beigelackierten Polizeiwagen passiert, noch bevor sie ihn überhaupt wahrgenommen hatte. Der Streifenwagen stand im Leerlauf auf dem Seitenstreifen, als Grendel vorbeischoß. Im Rückspiegel sah Sam die blauen und roten Blinklichter aufflammen, als der Polizeiwagen in einer Kiesfontäne auf die Fahrbahn schleuderte. Toll, jetzt hänge ich echt in Delta Sierra. Was, zum Teufel, mach ich jetzt?
Noch während sie sich die Frage stellte, hatte ihr Unterbewußtsein sie bereits beantwortet. Sie nahm den Fuß vom Gas und bremste leicht, während sie über den dritten in den zweiten Gang schaltete und die Geschwindigkeit des Mustang drosselte. Der grüngraue Kombi bremste nicht einmal andeutungsweise und verschwand hinter einer bewaldeten Kurve. Verdammt!
Als sie auf eine einigermaßen vertretbare Geschwindigkeit herabgebremst hatte, fuhr sie an die Seite. Grendels rechte Reifen knirschten über den Kies des Seitenstreifens. Sie sah den Polizeiwagen herankommen. Halb erwartete sie, daß er einen Bogen um sie machte und dem Kombi nachsetzte - es war doch wohl offensichtlich, daß der Fahrer des Kombi die Verantwortung für die Verfolgungsjagd trug - aber statt dessen zog er hinter Grendel. Mit einem wilden Fluch stoppte sie den Wagen, hielt die Handbremse an und schaltete den Motor aus. Sie beobachtete im Seitenspiegel, wie der Streifenwagen etwa dreißig Zentimeter hinter der Heckstoßstange anhielt.
Durch die dunkle Windschutzscheibe des Wagens, auf der sich grell die Mittagssonne spiegelte, konnte sie die beiden Insassen nur als dunkle Silhouetten ausmachen. Keiner der beiden schien es sonderlich eilig zu haben auszusteigen. Über dem metallischen Knacken des abkühlenden Automotors vernahm sie ein leises elektronisches Knistern. Sie sprechen über Funk, erkannte sie. Vielleicht fordern sie eine Straßensperre für den Kombi an.
Schließlich öffneten sich beide Vordertüren des Polizeiwagens, und die beiden Beamten stiegen aus. Der Beifahrer blieb in der Deckung der offenen Autotür stehen. Sam konnte sich vorstellen, wie seine Hand auf dem Griff der Dienstpistole lag, bereit, einzugreifen, wenn es Schwierigkeiten gab. Der Fahrer, ein gutaussehender Schwarzer, kam langsam näher. Seine Miene war steinern, die Augen hinter einer verspiegelten Sonnenbrille versteckt. Sam hielt beide Hände auf dem Lenkrad, wo sie gut sichtbar waren. Der Polizist blieb neben dem Wagen stehen, kurz hinter ihrer linken Schulter - damit ich ihm nicht die Tür gegen die Beine schlagen kann, erkannte sie. Er geht kein Risiko ein. Sie sah mit nüchternem Gesichtsausdruck zu ihm hoch.
»Guten Morgen, Ma'am. Ist Ihnen klar, wie schnell...?«
»Etwa eins dreißig«, unterbrach Sam ihn. »Hören Sie, Officer...« Sie schaute auf das Namensschild an seinem Uniformhemd. »...Officer Belmont, ich verfolge einen Einbrecher, jemanden, der in das Haus meines Großvaters eingedrungen ist und mich angegriffen hat.«
Belmont drehte sich langsam um und blickte den Highway hinauf. »Ich sehe niemanden.«
Es kostete Sam ihre ganze Kraft, nicht auszurasten. »Natürlich sehen Sie niemand«, stellte sie langsam und deutlich fest. »Er fuhr ebenfalls eins dreißig. Auf die Weise kommt man schnell voran. Er ist wahrscheinlich schon hinter Nesika Beach.«
»Wer ist wahrscheinlich schon hinter Nesika Beach?«
»Der Einbrecher«, preßte Sam durch die zusammengebissenen Zähne. »Der Mann, der mich zusammengeschlagen hat. Der grüne Kombi, den ich verfolgt habe.«
Der Polizist war einen Augenblick still. Dann stellte er fest: »Ich habe keinen grünen Kombi gesehen.«
»Was?« Samantha starrte ihn verständnislos an. »Himmel, Mann, er war nur fünfzig Yards vor mir und ist gefahren wie ein Teufel. Sie müssen ihn gesehen haben.«
»Sorry.« Belmont verlagerte das Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Er ist nervös, stellte Sam fest. Warum?
»Sie haben den Kombi nicht gesehen.«
»Sorry«, wiederholte der Cop.
»Was, zum Teufel, haben Sie dann über Funk durchgegeben?« fragte sie wütend.
Belmonts Kiefer arbeiteten. Dann antwortete er: »Wir haben Ihr Kennzeichen überprüft.« Seine Stimme war tonlos, ohne Emotion. »Es liegen keine Anzeigen vor.«
Das Kennzeichen. Welches Kennzeichen hatte der

Kombi, zur Hölle? Sam schloß für einen Moment die Augen und versuchte, sich das Bild vor Augen zu rufen. Während der Verfolgungsjagd war sie nicht nahe genug an den Kombi herangekommen, um das Nummernschild zu erkennen. Aber als er noch auf Pop-Pops Auffahrt stand, hatte sie einen kurzen Blick darauf erhaschen können. Wenn sie das, was sie dort gesehen hatte, jetzt nur noch einmal zurückholen konnte... hab es!

Sie öffnete die Augen und starrte zu Officer Belmont hoch. »Wenn Sie unbedingt ein Kennzeichen überprüfen wollen, versuchen Sie doch mal XBF254. Registriert in Oregon. Ein grüner ChevyKombi, fünf oder sechs Jahre alt.«

Belmont sah sie nur wortlos an. Sam versuchte, seine Augen zu erkennen, um abzuschätzen, was er dachte, aber sie sah nur verzerrte Spiegelbilder ihres eigenen Gesichts in seiner Sonnenbrille. Schließlich sagte er: »Ich habe keinen grünen Kombi gesehen.«

Ich fasse es nicht! Sam kämpfte gegen die plötzliche Wut an, die in ihren Eingeweiden tobte. »Sie werden das Kennzeichen also nicht überprüfen, ist es das, was Sie mir sagen wollen?« Selbst in ihren eigenen Ohren klang ihre Stimme kalt und spröde.

Der Beamte zuckte leicht die Schultern. »Was für ein Kennzeichen?«
»Ich verstehe.« Sam nickte langsam. Obwohl ich eigentlich gar nichts verstehe. »Was werden Sie dann tun, Officer Belmont?« fragte sie süßlich. »Mir einen Strafzettel ausstellen?«
Belmont wirkte äußerst unbehaglich. »Das Radargerät war nicht an«, murmelte er.
»Radar? Ich hätte gedacht, der Überschallknall wäre verräterisch genug gewesen.« Hier geht irgend etwas höchst Merkwürdiges vor. »Was dann?«
Der Cop rückte die Brille zurecht und bekam sein Gesicht wieder unter Kontrolle. »Diesmal kommen Sie mit einer Verwarnung davon«, knurrte er. »Aber keine Geschwindigkeitsrekorde mehr, okay?« Damit drehte er auf dem Absatz um und marschierte zurück zu seinem Wagen - und er schien es eilig zu haben, dachte Sam. Im Rückspiegel beobachtete sie, wie die beiden Polizisten ein paar Sekunden redeten. Dann schaltete Belmont das Blau-Rot-Licht ab und lenkte den Wagen zurück auf den Highway. Als er den Mustang passierte, blickten beide Cops geradeaus und nahmen Sam nicht einmal zur Kenntnis.