23

Ihr Führer brachte sie zu einem Gebäude, zu dem sie bisher noch nie gerufen worden war, am anderen Ende des Trainingsgeländes der Gladiatoren, so weit entfernt von den Mechhangars, wie es in der Anlage des Saberstalls nur möglich war. Es war nicht das neueste Gebäude der Anlage, nahm Samantha an - diese Ehre gebührte der Durchreisendenkaserne -, aber eindeutig das bestunterhaltene. Und im Gegensatz zu den meisten anderen Bauten hier hatte es Fenster.

Es schien aus demselben Stahlbeton (oder was immer es sonst war) gebaut wie die anderen Häuser der Anlage, und es wirkte auf jeden Fall solide. Aber es erinnerte immer noch mehr an ein Bürohaus als an eine Festung. Die beiden unteren Geschosse hatten kaum Fenster, und die wenigen, die sie besaßen, waren schmal und tief in den Beton eingelassen, wenig mehr als verbreiterte Schießscharten, aber die obersten drei Etagen waren fast völlig verglast.

Sie betraten das Gebäude durch den Haupteingang, eine verstärkte Metalltür - anscheinend gingen die Unterschiede in der Bauweise nicht so weit -, und durchquerten eine spartanisch eingerichtete Empfangshalle. (Statt der dekorativen Sekretärin mit ausladender Haarpracht, die sie halb erwartet hatte, war die Rezeption mit einem hart aussehenden Mann mittleren Alters in einem Uniformoverall desselben Stils bemannt, wie ihn Jared Bloch trug. Er begrüßte Sams Begleiter mit einem kurzen Nicken, schenkte ihr aber keinerlei Beachtung.)

Von der Empfangshalle aus fuhren sie in einem Hochgeschwindigkeitsaufzug in die oberste Etage des Gebäudes. Aus dem Aufzugsbereich kamen sie in eine weitere Empfangshalle, diesmal großzügiger möbliert, mit Hologrammen von BattleMechs und anderen Kampffahrzeugen an den Wänden. Die Rezeptionistin - diesmal war es eine Frau, die allerdings nicht weniger gefährlich wirkte als der Mann im Erdgeschoß - lächelte bei ihrem Anblick.

»Sho-sa«, begrüßte sie Sams Begleiter. »Schülerin Dooley.« Sie zeigte fast ein Lächeln, aber eben nur fast. »Er erwartet Sie. Gehen Sie durch.« Sie griff unter die Schreibtischplatte, wohl, um einen versteckten Knopf zu drücken.

Sams Begleiter - Sho-sa? wunderte sie sich - nickte dankend und ging an dem Empfangstisch vorbei auf eine Tür aus dunkelgemasertem Holz zu. Er klopfte flüchtig und öffnete sie. Dann trat er zur Seite und bedeutete Sam vorzugehen.

Sie zögerte kurz. Plötzlich war sie unruhig. Was, zum Teufel, soll das alles? fragte sie sich zum erstenmal. Dann nahm sie die Schultern zurück, unterdrückte die plötzlichen Angstwallungen und marschierte an dem Sho-sa vorbei in das hinter der Tür liegende Büro. Sie hörte die Tür hinter sich ins Schloß fallen.

Wieder einmal überkam sie ein unglaubliches Gefühl von Déjà-vu. Hier bin ich schon einmal gewesen...

Aber sie wußte, daß das nicht stimmen konnte. Als sie sich auf diesen Eindruck konzentrierte, erkannte sie, woher er rührte. Seit ihrer Ankunft auf Solaris Sieben hatte sie sich ständig in einer Umgebung bewegt, die sich deutlich von der Welt unterschied, die sie zurückgelassen hatte. Die Schrotthaufen, die verslumten Straßen von Rolandsfeld, die seltsame Kombination von High-Tech und Primitivität innerhalb der Stallanlage. Aber das hier...

Dies hätte leicht das Büro von Jacques Leclerc bei Generro Aerospace sein können. Alles war vollkommen alltäglich: ein hölzerner Schreibtisch, zwei Sessel, ein Regal (mit den ersten Büchern, die sie seit ihrer Ankunft auf Solaris gesehen hatte, wurde ihr plötzlich klar). Nichts in diesem Raum fiel aus dem Rahmen...für ein Büro auf der Erde, ihrer Erde. Jetzt war diese vertraute Umgebung für sie ein ebenso großer Schock wie alles, was sie an ihrem ersten Tag auf Solaris Sieben gesehen hatte.

Die einzige Erinnerung an die Welt da draußen war die Aussicht aus dem großen Panoramafenster, das hinaus über die Trainingsanlage in Richtung der Mechhangars blickte. Mit Mühe riß sie sich los und konzentrierte ihre Aufmerksamkeit auf den Mann, der sie von seinem Platz hinter dem großen Schreibtisch aus neugierig beobachtete.

Tai-sa Mandelbaum - so hatte der Sho-sa ihn genannt. Er war von mittlerem Alter, in den Fünfzigern vielleicht, aber noch in bester Kondition. Sein militärisch kurz geschnittenes Haar war silbern, sein Gesicht faltig, die Straßenkarte eines Lebens. Aber die Augen, die sie aus diesem schmalen, asketischen Gesicht anblickten, waren so klar und scharf wie die eines dreißig Jahre jüngeren Mannes.

Er trug eine Uniformjacke, die nichts mit dem losen Overall gemein hatte, wie sie ihn trug. Sie war weiß mit roten Litzen, hellbraunen Epauletten und einem hohen, entfernt chinesisch wirkenden Kragen. Ganze fünfzehn Sekunden musterte Mandelbaum sie nachdenklich, als wolle er ihren Wert taxieren. Dann nickte er in Richtung des einzelnen Sessels vor dem Schreibtisch.

»Bitte nehmen Sie Platz, Ms. Dooley.« Seine Stimme war leise, seine Aussprache aber perfekt - wie die eines ausgebildeten Schauspielers, dachte sie. Nein, verbesserte sie sich, wie die eines Offiziers, der so daran gewöhnt ist, daß seine Anweisungen augenblicklich befolgt werden, so daß er es nicht nötig hat, laut zu werden.

»Danke, Sir«, antwortete sie und setzte sich. »Mr. Bloch äußerte sich sehr positiv in der Einschätzung Ihrer Leistungen auf dem Übungsgelände«, begann Mandelbaum. »Er hat tatsächlich die Worte Initiative, Potential und Durchsetzungsvermögen im selben Satz verwendet. Ich kann mich nicht entsinnen, daß er diese Begriffe jemals zusammen benutzt hat, außer vielleicht, um sich selbst zu charakterisieren.« Er lachte leise, nahm eine Zigarette vom Aschenbecher neben seinem Ellbogen und hob sie an die Lippen.
»Danke, Sir«, wiederholte sie, dann starrte sie Mandelbaum mit offenem Mund an, als das letzte Stück des Puzzles an seinen Platz fiel. Ihr Herz drohte auszusetzen, als sie sich klar wurde, daß er eine echte Zigarette rauchte, jedenfalls etwas mit der richtigen Mischung aus Tabak, Nikotin und Chemikalien, um in ihrem System die entsprechenden Knöpfe zu drücken. Sie starrte fasziniert auf Mandelbaums Hand, als er die Zigarette über den Aschenbecher hielt und die Asche abklopfte.
»Ms. Dooley...?« Mandelbaums Blick folgte ihren gebannt auf seine Finger starrenden Augen. »Darf ich Ihnen eine Zigarette anbieten, Ms. Dooley?« fragte er mit schwerer Ironie in der Stimme.
Sam schluckte schwer, als sie sich daran erinnerte, wo sie war. »Ja, Sir, danke«, krächzte sie mit plötzlich trockener Kehle.
Er öffnete eine Schublade, zog ein Päckchen heraus Marlboros, lieber Gott! -, schüttelte eine heraus und reichte sie ihr. Dann schob er das Feuerzeug über den Tisch. Sie hob das Bic auf und konzentrierte sich ganz auf den Vorgang des Anzündens, um sich einen Augenblick Gelegenheit zu geben, ihre wild durcheinanderwirbelnden Gedanken zumindest etwas unter Kontrolle zu bekommen. Sie zog den Rauch tief in die Lunge, schloß für einen Augenblick die Augen, fühlte, wie das Nikotin seinen tückischen Zauber wirkte. Sie blies eine Rauchwolke zur Decke und stellte das Wegwerffeuerzeug wieder ab. »Vielen Dank, Tai-sa«, sagte sie und hatte Mühe, ihre Stimme im Griff zu behalten.
Er antwortete nicht, sondern sah sie nur wieder eine Weile an - wahrscheinlich bewertet er neu, was er sieht, dachte sie. Er nahm das Feuerzeug und steckte es ein.
»Sie sind auch von der Erde, nicht wahr?« brach es aus Sam heraus, bevor ihr Verstand die Auswirkungen ihrer Worte voll hätte verarbeiten können.
Mandelbaum sah sie streng an. »In diesem Universum nennen wir sie Terra.«
»Erzählen Sie!«
Der Tai-sa zuckte die Schultern und drehte sich zum Fenster, um hinaus auf die fernen Mechhangars zu blicken. »Es ist eine lange Geschichte«, erwiderte er keineswegs unfreundlich.
Sie akzeptierte die Ausflucht - vorerst, versicherte sie sich in Gedanken - und nahm noch einen Zug von der Zigarette, während sie versuchte, ihren rasenden Puls in die Gewalt zu bekommen. »Dann beantworten Sie mir wenigstens eine Frage. Wo, zur Hölle, bin ich?«
Er zuckte die Achseln. »Ich könnte sagen, auf Solaris Sieben«, antwortete er. »Aber das ist natürlich nicht das, was Sie hören wollen, nicht wahr?« Er machte eine Pause. Dann: »Solaris Sieben ist ein Planet im Solarissystem. Er liegt an der MarikSteiner-Grenze der Inneren Sphäre. Damit ist er 120 Lichtjahre von Terra entfernt - von der Erde.« »Die Zukunft...?«
Mandelbaum schüttelte den Kopf. »Eine Zukunft«, korrigierte er sie leise. »Eine alternative Zukunft.«
Sam schüttelte den Kopf. Wieder hatte sie das Gefühl zu schweben - losgelöst von ihrem Körper, ihrer Umgebung, allem. So, wie sie sich gefühlt hatte, als sie zum ersten Mal begriffen hatte, daß ihr UFTCockpit sich in eine riesige Kampfmaschine verwandelt hatte, in etwas, mit dem Menschen einander umbrachten. Es war, als würde sie alles aus einer großen Distanz beobachten, weit fort von ihrem Körper, weit fort von Mandelbaums Büro. »Welches Jahr schreiben wir?« Es dauerte einen Augenblick, bis sie die erstickte Stimme als ihre eigene erkannte.
»Es ist 3052.« Mandelbaum hob warnend die Hand.
»Zumindest in dieser Alternativwelt. Das hier ist nicht Ihr Universum, Ms. Dooley« - er lächelte - »ebensowenig wie meines, was das betrifft. Die Geschichte dieser Welt zweigt irgendwann in den späten 1990ern von der unseren ab. Und das ist nicht der einzige Unterschied. Ich bin kein Physiker, deshalb kann ich es nur unzureichend erklären, aber ich bin sicher, daß einige bedeutende Unterschiede in den Naturgesetzen unserer beiden Universen existieren. Zum Beispiel wären einige der Technologien, die in BattleMechs Anwendung finden, in unserer Welt schlichtweg unmöglich. Glauben Sie mir, einige der besten Köpfe der League haben es versucht, sie umzusetzen, und es hat nichts gebracht.«
»Macintyre«, murmelte sie.
Mandelbaum nickte. »Einer der besten und klügsten«, stimmte er ihr zu. »Jedenfalls nach allem, was ich so höre. Er war noch ein Kind, als ich ihn zuletzt gesehen habe. Oder die Erde, was das betrifft.«
Sam schüttelte wieder den Kopf, versuchte zu verstehen - zu verstehen, was sie da hörte und was es bedeutete. »Sie sind schon so lange hier - in diesem Universum? Wie? Warum? Ich meine, wie?« Dann, noch bevor der weißhaarige Tai-sa ihr antworten konnte, tat sie es selbst. »Sie sind ein, ein Forscher, nicht wahr? Sie kamen vor Jahren hierher, in diese ›Virtuelle Welt‹, richtig? Und Sie sind nicht zurückgegangen.«
»So ist es, Ms. Dooley.«
»Warum nicht?«
Einen Augenblick lang sah der Tai-sa weg. Ihm schien unbehaglich zumute zu sein. »Ich könnte wahrscheinlich antworten, daß es dort nichts für mich gab, was eine Rückkehr gelohnt hätte«, erwiderte er langsam und vermied dabei einen Blickkontakt. »Das habe ich mir selbst über die Jahre einzureden versucht. Aber es stimmt nicht. Ich hatte eine Familie, eine Karriere, ein Leben... Aber diese Welt hatte mir mehr zu bieten, Ms. Dooley.«
»Samantha«, verbesserte sie jetzt. »Sam.«
Er akzeptierte die Korrektur mit einem leisen, nervösen Lächeln. »Samantha«, stimmte er zu. Er machte eine Pause, dann sprach er weiter. »Diese Welt hatte mir mehr zu bieten. Das dachte ich damals.« Er seufzte. »Ich war ein Krieger, Samantha. In meinem Innersten. Ich habe Jahre gebraucht, das zu erkennen, aber als ich in den 1950ern über Korea Düsenjägereinsätze flog, da wußte ich, daß ich war, wo ich hingehörte.«
Wieder verstummte er. Als er weiterredete, war seine Stimme leise, als spreche er mit sich selbst - und als belausche sie ihn. »Und ich war Historiker - Militärhistoriker natürlich. Meine Studien förderten etwas Wichtiges zu Tage, selbst wenn es nur für mich persönlich von Bedeutung war. Unsere Kultur, die amerikanische Gesellschaft, war eine der ersten, die ein Konzept abgeschafft hat, das mir heute noch so wichtig ist wie damals.« Er fixierte sie mit scharfen, dunklen Augen. »Können Sie erraten, wovon ich rede?«
Sie kniff nachdenklich die Augen zusammen. Ich bin mir ziemlich sicher... Aber sie wartete auf seine Antwort.
Mandelbaum lächelte wieder, ein trauriges Lächeln. »Das Konzept, das unsere Gesellschaft abgeschafft hatte, war die Vorstellung einer Kriegerklasse«, erklärte er ernsthaft. »Einer echten, besonderen Klasse - abgeteilt und entfernt von den anderen Klassen, die eine Gesellschaft formen.« Er schüttelte den Kopf. »Nicht einfach Soldaten, Samantha, das meine ich nicht. Keine zivile Miliz, nicht irgendwelche Personen, die dienstverpflichtet und bewaffnet werden, um eine akute Krisensituation zu bestreiten. Krieger
- Männer und Frauen, die sich bewußt entscheiden, in ihrem Leben... in ihrem Leben...« - er stockte, dann grinste er verlegen -»...den Weg des Mars, des Ares, einzuschlagen. Die nicht leben, um zu kämpfen
- jedenfalls nicht nur zu kämpfen -, sondern auch, um die Traditionen der Militärkunde zu verstehen und zu verinnerlichen. Eine gebildete Kriegerklasse, wenn Sie so wollen, eine Kriegerelite, deren Mitglieder nicht nur wissen, wie man kämpft, sondern auch, wann und warum eine Gesellschaft kämpfen sollte... und wann und warum nicht. Die Römer hatten sie. Auch die Griechen...«
»Japan«, warf Sam leise ein. »Bushido.«
»Der Weg des Kriegers, natürlich.« Er nickte zustimmend, beifällig. »Weniger komplexe Gesellschaften als die unsere, die in einer Zeit Krieg führten, als dieser selbst noch weniger komplex war, verstanden seine Bedeutung. Aber wir haben sie tatsächlich vergessen.« Er seufzte. »Wir haben vergessen und den Preis dafür bezahlt. Ich war damals nicht mehr auf der Erde und konnte nicht Zeuge des Vietnamkriegs und seiner Folgen werden, aber ich hätte die Kosten für die Gesellschaft vorhersagen können.«
Er beugte sich über den Schreibtisch. »Überlegen Sie, Samantha. Wir haben Wehrpflichtige eingezogen und Freiwillige angenommen, aber weder die einen noch die anderen haben die Verantwortung, die sie übernahmen, wirklich verstanden. Wir haben sie ausgebildet und indoktriniert, und wir haben sie hinaus in die Schlacht geschickt, auf das blutigste, am härtesten umkämpfte Schlachtfeld aller Zeiten. Wir haben sie aus politischen Beweggründen zurückgehalten. Wir haben sie zurückgeholt... Und dann haben wir sie vergessen.« Seine leuchtenden Augen verschleierten sich. »Wir haben sie zurück ins Zivilleben geschickt und erwartet, daß sie zu ihrem alten Leben zurückkehren, als wäre nichts geschehen. Als hätten sie sich nicht verändert - als hätten wir sie nicht verändert. Es ist Wahnsinn gewesen.«
Sam nickte zögernd. Was er sagte, ergab einen Sinn, aber... »Das ist nicht alles, oder?« fragte sie schließlich.
Mandelbaums Lächeln verzog sich zu einer ironischen Grimasse. »Natürlich nicht«, gab er zu. »Da war noch mehr. Mein anderes Motiv - möglicherweise war es mein Hauptmotiv, ich weiß es bis heute nicht - war...« Er stockte. »Lassen Sie es mich so erklären. Ich war Pilot, Samantha. Ein Jägerpilot, in einem F-86 Saberjet, dem ersten wirklich erfolgreichen Düsenjäger. Heute hat sich die Lage wohl verändert, nach dem, was ich höre, aber in den 1950ern, am Himmel über Korea, hatten wir die entsprechenden Taktiken noch nicht perfektioniert - enge Formation, Flügelmänner, gegenseitige Unterstützung... Auf eine sehr reale Weise war ich da oben allein - allein am Knüppel der stärksten je entwickelten Kampfmaschine. Wenn ich MiGCAP flog - Combat Air Patrol - und ein Ziel sah, konnte ich es aus eigener Initiative verfolgen. Können Sie die Bedeutung, die... Erregung dieser Freiheit und Verantwortung begreifen? Mein Erfolg oder Versagen lag ausschließlich in meiner eigenen Hand. Wenn ich gut war - Erfolg hatte -, blieb ich am Leben, erzielte Abschüsse. Hätte ich versagt, wäre es mein Tod gewesen. Es lag alles in diesen beiden Händen.« Er senkte den Blick, wie um die schlanken Finger zu betrachten, die er über der Tischplatte spreizte. »Können Sie das verstehen?« Er sah wieder hoch, fixierte Sam mit ruhigem Blick. Irgend etwas in diesen Augen schien sich zu verändern, und er flüsterte leise: »Vielleicht können Sie es tatsächlich verstehen.«
Samantha sah, wie er umschaltete, in einer fast körperlichen Veränderung seine Stimmung abschüttelte und das tiefe Gefühl, das er gezeigt hatte, wieder unter die Oberfläche drückte. Er zuckte die Schultern, als wäre ihre Unterhaltung nur ein belangloses Geplauder. »Jedenfalls gewann ich Gefallen an meiner Laufbahn als ›Himmelswolf‹ - so haben wir uns genannt, meine Squadron. In gewisser Weise närrisch, aber passend.«
»Und dann war es vorbei.«
Mandelbaum nickte scharf. »Natürlich ging es vorbei. Meine Squadron wurde aufgelöst. Einige meiner alten Kameraden sind nie wieder geflogen. Andere wurden zivile Flugkapitäne.« Seine Miene ließ keinen Zweifel daran, was er von dieser Alternative hielt. »Eins führte zum anderen. Ich schloß mich der Virtual Geographie League an. Ich war einer der ersten Forscher, die in dieses Universum versetzt wurden - ins ›BattleTech‹-Universum, wie ich es getauft habe. Und ich fand eine Welt, in der es eine echte Kriegerklasse gab - eine deutlich abgegrenzte Klasse, deren Mitglieder geachtet und geehrt wurden. Ich fand eine Gesellschaft mit einem soliden Fundament und einem Überbau, der es Menschen gestattete, ja, sie sogar ermutigte, außerhalb dieser Struktur zu arbeiten. Sie hatte einen Platz für Wölfe, Samantha. Mehr Platz für einen einsamen Wolf, als es ihn in der Welt, die ich hinter mir gelassen hatte, jemals geben konnte. Ich bin nie zurückgekehrt.« Er legte die Fingerkuppen aneinander, hob die Hände an die Lippen und wartete.
Worauf wartet er? fragte Sam sich. Darauf, daß ich widerspreche, ein Streitgespräch beginne? Aber ich widerspreche ihm nicht. Mein Gott, ich kann genau verstehen, was er meint. Hätte ich dieselbe Entscheidung getroffen wie er? Sie starrte in Mandelbaums dunkle Augen. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich auf geheimnisvolle Weise.
Er zuckte wieder die Schultern. »Ich war jung«, stellte er gleichmütig fest. »Heute bin ich alt. Alt und
- ich hoffe es wenigstens - weiser.«
Sam runzelte die Stirn. »Soll das heißen, Sie haben die falsche Entscheidung getroffen?«
»Richtig, falsch« - er zuckte wieder die Schultern - »das ist jetzt kaum noch von Bedeutung, oder?«
»Heißt das, Sie denken an eine Rückkehr?«
Er lachte, ein trockenes, verächtliches Kichern. »Ich habe Ihre Welt in den 1960ern hinter mir gelassen, Samantha«, stellte er fest. »Das ist fast dreißig Jahre her. Es ist nicht mehr meine Welt. Und ich bin zu alt, um noch einmal als Fremder in einem fremden Land neu anzufangen.«
Sie nickte langsam... Dann setzte sie sich plötzlich kerzengerade auf, als ihr die Bedeutungen dieser Aussage klar wurden. Dreißig Jahre...? »Aber Sie wissen von Vietnam«, brach es aus ihr heraus. »Sie wissen von den Nachwirkungen des Krieges. Und die hier!« Sie hielt ihm ihre halb niedergebrannte Zigarette vor die Augen.
Mandelbaum lächelte schwach. »Meine letzte Packung«, sagte er. »Ich habe sechs Wochen keine mehr geraucht. Es war purer Zufall, daß ich mir heute eine gegönnt habe.«
»Aber wie...«, stammelte Sam.
»Ich habe Kontakt mit der VGL, ja«, beantwortete er ihre unausgesprochene Frage. »Gelegentlichen Kontakt... sehr gelegentlich heutzutage.«
»Wie gelegentlich?«
»Es vergehen Monate zwischen den Besuchen«, stellte er fest. »Manchmal Jahre.«
»Wann war der letzte Kontakt?« hakte Sam nach.
»Vor sechs Monaten.« In Sams Brust kämpften widersprüchliche Gefühle. Anscheinend zeigten sie sich auf ihrem Gesicht, denn Mandelbaum fragte leise: »Möchten Sie, daß ich der League von Ihnen erzähle, wenn sie das nächste Mal Kontakt aufnehmen, und sie bitte, Sie zurückzuholen? Überlegen Sie es sich gut, Ms. Dooley. Es könnte... Folgen haben.«

Sie nickte. Und ob das Folgen hätte. »Woher wissen Sie?« fragte sie plötzlich.
In seiner Stimme lag ein Hauch echter Belustigung, als er ihr antwortete. »Daß Sie ein... nun, ich schätze, ›blinder Passagier‹ ist ein akzeptabler Name dafür... sind? Das war reichlich offensichtlich, nachdem Ihre erste Frage vorhin lautete: ›Wo bin ich?‹ Die VGL bereitet ihre Piloten vor der Translokation gründlich vor. Wären Sie ein hier gestrandetes Mitglied, hätten Sie wenigstens ungefähr gewußt, wo Sie mich finden konnten - und wären hier erschienen, um meine Hilfe zu erbitten.« Er verzog spöttisch den Mund. »Wie Sie vielleicht bemerkt haben, ist Solaris Sieben nicht unbedingt der beste Ort, um zu stranden.«
Sag bloß! dachte sie trocken.
Er beugte sich wieder vor. »Und nun sagen Sie mal, wie sind Sie hierhergekommen, Samantha?«
Sie zögerte nur einen Augenblick, dann erzählte sie ihm mit einem geistigen Schulterzucken die ganze Geschichte. Von Pop-Pops Tod bis zu ihrem Einbruch bei Generro Aerospace und dem Kampf mit den Mechs in der Bergwildnis.
Mandelbaum war ein guter Zuhörer, ganz, wie sie es erwartet hatte. Er hörte interessiert zu, sein Blick ruhte während der ganzen Zeit auf ihrem Gesicht, auf ihren Augen. Er unterbrach sie nur selten, aber wenn, dann stellte er gezielte Fragen, die unmittelbar zum Kern der Sache vorstießen und unfehlbar die wichtigen Einzelheiten ans Tageslicht holten, die Sam nur angedeutet hatte.
Als sie ihr Eindringen bei Generro beschrieb und schilderte, wie sie die Technikerin Andrea überzeugt hatte, sie nach Solaris zu translozieren, kicherte er. »Das wird ihnen zu denken geben«, stellte er kopfschüttelnd fest. »Sie sind so stolz auf ihre Sicherheitsvorkehrungen - jedenfalls manche von ihnen. Sie sind so darauf konzentriert, ihr Geheimnis zu bewahren, daß sie einen der Kerngrundsätze der League vergessen haben, die ihre Gründer im neunzehnten Jahrhundert aufstellten.«
»Burton und Bell«, unterbrach Sam, die sich an ihr Gespräch mit Amy Langland erinnerte. (Mein Gott, das scheint Jahre herzusein.)
Mandelbaum nickte beifällig. »Genau. Sir Richard Francis Burton, Entdecker des Tanganyikasees, Übersetzer der Geschichten aus Tausendundeiner Nacht. Und Alexander Graham Bell, der Erfinder des Telefons. Als sie die Gründung einer Gesellschaft zur Erforschung des Anderswann erwogen - der virtuellen Welten, wie wir sie heute nennen -, verstanden sie, wie wichtig es war, neue Mitglieder zu rekrutieren, Menschen zu finden, die ihnen in Geist und Gesinnung ähnelten - Seelenverwandte -, und sie in die League zu holen.« Er seufzte. »Manchmal fürchte ich, die Sicherheitsvorkehrungen, die rund um die Aktivitäten der League gewachsen sind, halten gerade die Menschen fern, die wir brauchen, um uns ins nächste Jahrhundert zu führen.« Er lächelte. »Ich bin erleichtert, daß sie Sie nicht fernhalten konnten, Samantha.«
»Beinahe wäre es so gewesen«, gab sie zu. »Wäre dieser Lieferwagen nicht gewesen...« Sie zögerte. »Das ist etwas, was ich immer noch nicht verstehe. Was wollten diese Leute in Pop-Pops Haus? Die League wußte schon, daß sie seine Memoiren bekommen würde.«
Mandelbaum zuckte die Schultern. »Diese Frage kann ich natürlich nicht beantworten. Aber was macht Sie so sicher, daß die Leute in dem Lieferwagen zur League gehörten?«
»Aber wer sonst...?« Sie verstummte mitten im Satz. »Vielleicht die Regierung?«
Der weißhaarige Tai-sa neigte den Kopf. »Das wäre zumindest meine Vermutung«, stimmte er zu. »Natürlich kann ich es nicht mit Sicherheit sagen, aber... Die Beziehung der League zur US-Regierung war schon immer ein wenig heikel.« Er lächelte ironisch. »Es dürfte etwas mit den extremen Bemühungen beider Seiten zu tun haben, ja nichts von ihren Geheimnissen preiszugeben. Es würde mich jedenfalls keineswegs überraschen, wenn die Personen in jenem Lieferwagen Agenten der Regierung gewesen wären, die versuchten, sich die Journale Ihres Großvaters anzueignen, bevor die League sie unter Verschluß nehmen konnte.«
Sam nickte nachdenklich. Das ergab einen Sinn. Sie lehnte sich im Sessel zurück und schloß für eine Weile die Augen, verschaffte sich einen kurzen Augenblick der Ruhe vor der Welt. Schließlich fragte sie leise: »Was nun?«
»Das liegt an Ihnen, würde ich meinen.«
»Was ist mit einer Rettungsmission?« Sie sah Mandelbaum in die Augen, konzentrierte sich auf Hinweise, die er ihr geben konnte. »Würden sie eine aussenden? Oder mich einfach abschreiben?«
Mandelbaum hob die leeren Hände. »Woher soll ich das wissen?« fragte er gelassen. »Wenn er Grund zu der Annahme hätte, daß Sie noch leben, würde Macintyre alles in seiner Macht Stehende tun, um Sie zurückzuholen. Aber Macintyre leitet die Operation nicht...«
»Und er könnte keinen Grund haben, es anzunehmen«, beendete Sam mürrisch den Satz ihres Gegenübers. »Ich verstehe. Also...«
»Also bleibt die Frage: Was nun?« Mandelbaum drehte sich wieder zum Fenster. Sam sagte nichts, betrachtete nur stumm sein Profil. Schließlich drehte er sich zu ihr um. »Wenn Sie wollen, ist hier Platz für Sie«, erklärte er einfach.
»Das hat Jared Bloch bereits deutlich gemacht«, stellte sie trockenen Tons fest.
»Da bin ich mir sicher«, lachte Mandelbaum. »Bloch erkennt einen guten Fang, wenn er ihn sieht. Aber ich hatte an etwas anderes gedacht. Hätten Sie Interesse daran, zu lernen, wie man einen BattleMech steuert? Ich meine einen echten Mech, nicht den blassen Abklatsch, den ein UFT-Cockpit liefern kann.«
»Damit ich bei den Spielen antreten kann?«
Mandelbaum mußte den Sarkasmus in ihrer Stimme gehört haben, aber er ging nicht darauf ein. »Irgendwann sicher. Immerhin habe ich den Saberstall dazu aufgebaut. Und darauf basiert die Wirtschaft von Solaris Sieben. Es ist ein guter Lebensunterhalt«, führte er vorsichtig aus. »Es gibt Risiken, sicher... Aber sobald Sie morgens aus dem Bett steigen, gehen Sie ein Risiko ein. MechKrieger ist ein ehrbarer Beruf - auf Solaris Sieben und in diesem ganzen Universum.« Er grinste. Es war beinahe eine raubtierhafte Geste, schockierend deplaziert in seinem Habitus des ›Elder Statesman‹. »Und es ist einer der besten Berufe für einen einsamen Wolf... oder jemanden, der einer werden möchte. Was meinen Sie, Samantha Dooley?«
Sam zögerte. Wenn das hier meine neue Heimat werden soll, macht es dann keinen Sinn, mir eine passende Nische zu suchen? Sie fühlte, wie ihre Lippen die Zähne in einem Spiegelbild seines Grinsens freilegten. »Wo muß ich unterschreiben, Tai-sa Mandelbaum?« fragte sie.