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Ihr Führer brachte sie zu einem Gebäude, zu dem sie bisher noch nie gerufen worden war, am anderen Ende des Trainingsgeländes der Gladiatoren, so weit entfernt von den Mechhangars, wie es in der Anlage des Saberstalls nur möglich war. Es war nicht das neueste Gebäude der Anlage, nahm Samantha an - diese Ehre gebührte der Durchreisendenkaserne -, aber eindeutig das bestunterhaltene. Und im Gegensatz zu den meisten anderen Bauten hier hatte es Fenster.
Es schien aus demselben Stahlbeton (oder was immer es sonst war) gebaut wie die anderen Häuser der Anlage, und es wirkte auf jeden Fall solide. Aber es erinnerte immer noch mehr an ein Bürohaus als an eine Festung. Die beiden unteren Geschosse hatten kaum Fenster, und die wenigen, die sie besaßen, waren schmal und tief in den Beton eingelassen, wenig mehr als verbreiterte Schießscharten, aber die obersten drei Etagen waren fast völlig verglast.
Sie betraten das Gebäude durch den Haupteingang, eine verstärkte Metalltür - anscheinend gingen die Unterschiede in der Bauweise nicht so weit -, und durchquerten eine spartanisch eingerichtete Empfangshalle. (Statt der dekorativen Sekretärin mit ausladender Haarpracht, die sie halb erwartet hatte, war die Rezeption mit einem hart aussehenden Mann mittleren Alters in einem Uniformoverall desselben Stils bemannt, wie ihn Jared Bloch trug. Er begrüßte Sams Begleiter mit einem kurzen Nicken, schenkte ihr aber keinerlei Beachtung.)
Von der Empfangshalle aus fuhren sie in einem Hochgeschwindigkeitsaufzug in die oberste Etage des Gebäudes. Aus dem Aufzugsbereich kamen sie in eine weitere Empfangshalle, diesmal großzügiger möbliert, mit Hologrammen von BattleMechs und anderen Kampffahrzeugen an den Wänden. Die Rezeptionistin - diesmal war es eine Frau, die allerdings nicht weniger gefährlich wirkte als der Mann im Erdgeschoß - lächelte bei ihrem Anblick.
»Sho-sa«, begrüßte sie Sams Begleiter. »Schülerin Dooley.« Sie zeigte fast ein Lächeln, aber eben nur fast. »Er erwartet Sie. Gehen Sie durch.« Sie griff unter die Schreibtischplatte, wohl, um einen versteckten Knopf zu drücken.
Sams Begleiter - Sho-sa? wunderte sie sich - nickte dankend und ging an dem Empfangstisch vorbei auf eine Tür aus dunkelgemasertem Holz zu. Er klopfte flüchtig und öffnete sie. Dann trat er zur Seite und bedeutete Sam vorzugehen.
Sie zögerte kurz. Plötzlich war sie unruhig. Was, zum Teufel, soll das alles? fragte sie sich zum erstenmal. Dann nahm sie die Schultern zurück, unterdrückte die plötzlichen Angstwallungen und marschierte an dem Sho-sa vorbei in das hinter der Tür liegende Büro. Sie hörte die Tür hinter sich ins Schloß fallen.
Wieder einmal überkam sie ein unglaubliches Gefühl von Déjà-vu. Hier bin ich schon einmal gewesen...
Aber sie wußte, daß das nicht stimmen konnte. Als sie sich auf diesen Eindruck konzentrierte, erkannte sie, woher er rührte. Seit ihrer Ankunft auf Solaris Sieben hatte sie sich ständig in einer Umgebung bewegt, die sich deutlich von der Welt unterschied, die sie zurückgelassen hatte. Die Schrotthaufen, die verslumten Straßen von Rolandsfeld, die seltsame Kombination von High-Tech und Primitivität innerhalb der Stallanlage. Aber das hier...
Dies hätte leicht das Büro von Jacques Leclerc bei Generro Aerospace sein können. Alles war vollkommen alltäglich: ein hölzerner Schreibtisch, zwei Sessel, ein Regal (mit den ersten Büchern, die sie seit ihrer Ankunft auf Solaris gesehen hatte, wurde ihr plötzlich klar). Nichts in diesem Raum fiel aus dem Rahmen...für ein Büro auf der Erde, ihrer Erde. Jetzt war diese vertraute Umgebung für sie ein ebenso großer Schock wie alles, was sie an ihrem ersten Tag auf Solaris Sieben gesehen hatte.
Die einzige Erinnerung an die Welt da draußen war die Aussicht aus dem großen Panoramafenster, das hinaus über die Trainingsanlage in Richtung der Mechhangars blickte. Mit Mühe riß sie sich los und konzentrierte ihre Aufmerksamkeit auf den Mann, der sie von seinem Platz hinter dem großen Schreibtisch aus neugierig beobachtete.
Tai-sa Mandelbaum - so hatte der Sho-sa ihn genannt. Er war von mittlerem Alter, in den Fünfzigern vielleicht, aber noch in bester Kondition. Sein militärisch kurz geschnittenes Haar war silbern, sein Gesicht faltig, die Straßenkarte eines Lebens. Aber die Augen, die sie aus diesem schmalen, asketischen Gesicht anblickten, waren so klar und scharf wie die eines dreißig Jahre jüngeren Mannes.
Er trug eine Uniformjacke, die nichts mit dem losen Overall gemein hatte, wie sie ihn trug. Sie war weiß mit roten Litzen, hellbraunen Epauletten und einem hohen, entfernt chinesisch wirkenden Kragen. Ganze fünfzehn Sekunden musterte Mandelbaum sie nachdenklich, als wolle er ihren Wert taxieren. Dann nickte er in Richtung des einzelnen Sessels vor dem Schreibtisch.
»Bitte nehmen Sie Platz, Ms. Dooley.« Seine Stimme war leise, seine Aussprache aber perfekt - wie die eines ausgebildeten Schauspielers, dachte sie. Nein, verbesserte sie sich, wie die eines Offiziers, der so daran gewöhnt ist, daß seine Anweisungen augenblicklich befolgt werden, so daß er es nicht nötig hat, laut zu werden.
»Danke, Sir«, antwortete sie und setzte sich.
»Mr. Bloch äußerte sich sehr positiv in der Einschätzung Ihrer
Leistungen auf dem Übungsgelände«, begann Mandelbaum. »Er hat
tatsächlich die Worte Initiative,
Potential und Durchsetzungsvermögen im selben Satz verwendet. Ich
kann mich nicht entsinnen, daß er diese Begriffe jemals zusammen
benutzt hat, außer vielleicht, um sich selbst zu charakterisieren.«
Er lachte leise, nahm eine Zigarette vom Aschenbecher neben seinem
Ellbogen und hob sie an die Lippen.
»Danke, Sir«, wiederholte sie, dann starrte sie Mandelbaum mit
offenem Mund an, als das letzte Stück des Puzzles an seinen Platz
fiel. Ihr Herz drohte auszusetzen, als sie sich klar wurde, daß er
eine echte Zigarette rauchte,
jedenfalls etwas mit der richtigen Mischung aus Tabak, Nikotin und
Chemikalien, um in ihrem System die entsprechenden Knöpfe zu
drücken. Sie starrte fasziniert auf Mandelbaums Hand, als er die
Zigarette über den Aschenbecher hielt und die Asche
abklopfte.
»Ms. Dooley...?« Mandelbaums Blick folgte ihren gebannt auf seine
Finger starrenden Augen. »Darf ich Ihnen eine Zigarette anbieten,
Ms. Dooley?« fragte er mit schwerer Ironie in der Stimme.
Sam schluckte schwer, als sie sich daran erinnerte, wo sie war.
»Ja, Sir, danke«, krächzte sie mit plötzlich trockener
Kehle.
Er öffnete eine Schublade, zog ein Päckchen heraus Marlboros, lieber Gott! -, schüttelte eine heraus
und reichte sie ihr. Dann schob er das Feuerzeug über den Tisch.
Sie hob das Bic auf und konzentrierte sich ganz auf den Vorgang des
Anzündens, um sich einen Augenblick Gelegenheit zu geben, ihre wild
durcheinanderwirbelnden Gedanken zumindest etwas unter Kontrolle zu
bekommen. Sie zog den Rauch tief in die Lunge, schloß für einen
Augenblick die Augen, fühlte, wie das Nikotin seinen tückischen
Zauber wirkte. Sie blies eine Rauchwolke zur Decke und stellte das
Wegwerffeuerzeug wieder ab. »Vielen Dank, Tai-sa«, sagte sie und
hatte Mühe, ihre Stimme im Griff zu behalten.
Er antwortete nicht, sondern sah sie nur wieder eine Weile an -
wahrscheinlich bewertet er neu, was er
sieht, dachte sie. Er nahm das Feuerzeug und steckte es
ein.
»Sie sind auch von der Erde, nicht wahr?« brach es aus Sam heraus,
bevor ihr Verstand die Auswirkungen ihrer Worte voll hätte
verarbeiten können.
Mandelbaum sah sie streng an. »In diesem Universum nennen wir sie
Terra.«
»Erzählen Sie!«
Der Tai-sa zuckte die Schultern und drehte sich zum Fenster, um
hinaus auf die fernen Mechhangars zu blicken. »Es ist eine lange
Geschichte«, erwiderte er keineswegs unfreundlich.
Sie akzeptierte die Ausflucht - vorerst, versicherte sie sich in Gedanken - und
nahm noch einen Zug von der Zigarette, während sie versuchte, ihren
rasenden Puls in die Gewalt zu bekommen. »Dann beantworten Sie mir
wenigstens eine Frage. Wo, zur Hölle, bin ich?«
Er zuckte die Achseln. »Ich könnte sagen, auf Solaris Sieben«,
antwortete er. »Aber das ist natürlich nicht das, was Sie hören
wollen, nicht wahr?« Er machte eine Pause. Dann: »Solaris Sieben
ist ein Planet im Solarissystem. Er liegt an der
MarikSteiner-Grenze der Inneren Sphäre. Damit ist er 120 Lichtjahre
von Terra entfernt - von der Erde.« »Die Zukunft...?«
Mandelbaum schüttelte den Kopf. »Eine
Zukunft«, korrigierte er sie leise. »Eine alternative
Zukunft.«
Sam schüttelte den Kopf. Wieder hatte sie das Gefühl zu schweben -
losgelöst von ihrem Körper, ihrer Umgebung, allem. So, wie sie sich
gefühlt hatte, als sie zum ersten Mal begriffen hatte, daß ihr
UFTCockpit sich in eine riesige Kampfmaschine verwandelt hatte, in
etwas, mit dem Menschen einander umbrachten. Es war, als würde sie
alles aus einer großen Distanz beobachten, weit fort von ihrem
Körper, weit fort von Mandelbaums Büro. »Welches Jahr schreiben
wir?« Es dauerte einen Augenblick, bis sie die erstickte Stimme als
ihre eigene erkannte.
»Es ist 3052.« Mandelbaum hob warnend die Hand.
»Zumindest in dieser Alternativwelt. Das hier ist nicht Ihr
Universum, Ms. Dooley« - er lächelte - »ebensowenig wie meines, was
das betrifft. Die Geschichte dieser Welt zweigt irgendwann in den
späten 1990ern von der unseren ab. Und
das ist nicht der einzige Unterschied. Ich bin kein Physiker,
deshalb kann ich es nur unzureichend erklären, aber ich bin sicher,
daß einige bedeutende Unterschiede in den Naturgesetzen unserer
beiden Universen existieren. Zum Beispiel wären einige der
Technologien, die in BattleMechs Anwendung finden, in unserer Welt
schlichtweg unmöglich. Glauben Sie mir, einige der besten Köpfe der
League haben es versucht, sie umzusetzen, und es hat nichts
gebracht.«
»Macintyre«, murmelte sie.
Mandelbaum nickte. »Einer der besten und klügsten«, stimmte er ihr
zu. »Jedenfalls nach allem, was ich so höre. Er war noch ein Kind,
als ich ihn zuletzt gesehen habe. Oder die Erde, was das
betrifft.«
Sam schüttelte wieder den Kopf, versuchte zu verstehen - zu
verstehen, was sie da hörte und was es bedeutete. »Sie sind schon
so lange hier - in diesem Universum? Wie? Warum? Ich meine,
wie?« Dann, noch bevor der weißhaarige
Tai-sa ihr antworten konnte, tat sie es selbst. »Sie sind ein, ein
Forscher, nicht wahr? Sie kamen vor Jahren hierher, in diese
›Virtuelle Welt‹, richtig? Und Sie sind nicht
zurückgegangen.«
»So ist es, Ms. Dooley.«
»Warum nicht?«
Einen Augenblick lang sah der Tai-sa weg. Ihm schien unbehaglich
zumute zu sein. »Ich könnte wahrscheinlich antworten, daß es dort
nichts für mich gab, was eine Rückkehr gelohnt hätte«, erwiderte er
langsam und vermied dabei einen Blickkontakt. »Das habe ich mir
selbst über die Jahre einzureden versucht. Aber es stimmt nicht.
Ich hatte eine Familie, eine Karriere, ein Leben... Aber diese Welt
hatte mir mehr zu bieten, Ms.
Dooley.«
»Samantha«, verbesserte sie jetzt. »Sam.«
Er akzeptierte die Korrektur mit einem leisen, nervösen Lächeln.
»Samantha«, stimmte er zu. Er machte eine Pause, dann sprach er
weiter. »Diese Welt hatte mir mehr zu bieten. Das dachte ich
damals.« Er seufzte. »Ich war ein Krieger, Samantha. In meinem
Innersten. Ich habe Jahre gebraucht, das zu erkennen, aber als ich
in den 1950ern über Korea Düsenjägereinsätze flog, da wußte ich,
daß ich war, wo ich hingehörte.«
Wieder verstummte er. Als er weiterredete, war seine Stimme leise,
als spreche er mit sich selbst - und als belausche sie ihn. »Und
ich war Historiker - Militärhistoriker natürlich. Meine Studien
förderten etwas Wichtiges zu Tage, selbst wenn es nur für mich
persönlich von Bedeutung war. Unsere Kultur, die amerikanische
Gesellschaft, war eine der ersten, die ein Konzept abgeschafft hat,
das mir heute noch so wichtig ist wie damals.« Er fixierte sie mit
scharfen, dunklen Augen. »Können Sie erraten, wovon ich
rede?«
Sie kniff nachdenklich die Augen zusammen. Ich
bin mir ziemlich sicher... Aber sie wartete auf seine
Antwort.
Mandelbaum lächelte wieder, ein trauriges Lächeln. »Das Konzept,
das unsere Gesellschaft abgeschafft hatte, war die Vorstellung
einer Kriegerklasse«, erklärte er ernsthaft. »Einer echten,
besonderen Klasse - abgeteilt und entfernt von den anderen Klassen,
die eine Gesellschaft formen.« Er schüttelte den Kopf. »Nicht
einfach Soldaten, Samantha, das meine ich nicht. Keine zivile
Miliz, nicht irgendwelche Personen, die dienstverpflichtet und
bewaffnet werden, um eine akute Krisensituation zu bestreiten.
Krieger
- Männer und Frauen, die sich bewußt entscheiden, in ihrem Leben...
in ihrem Leben...« - er stockte, dann grinste er verlegen -»...den
Weg des Mars, des Ares, einzuschlagen. Die nicht leben, um zu
kämpfen
- jedenfalls nicht nur zu kämpfen -,
sondern auch, um die Traditionen der Militärkunde zu verstehen und
zu verinnerlichen. Eine gebildete Kriegerklasse, wenn Sie so
wollen, eine Kriegerelite, deren Mitglieder nicht nur wissen, wie
man kämpft, sondern auch, wann und
warum eine Gesellschaft kämpfen
sollte... und wann und warum nicht. Die
Römer hatten sie. Auch die Griechen...«
»Japan«, warf Sam leise ein. »Bushido.«
»Der Weg des Kriegers, natürlich.« Er nickte zustimmend, beifällig.
»Weniger komplexe Gesellschaften als die unsere, die in einer Zeit
Krieg führten, als dieser selbst noch weniger komplex war,
verstanden seine Bedeutung. Aber wir haben sie tatsächlich
vergessen.« Er seufzte. »Wir haben vergessen und den Preis dafür
bezahlt. Ich war damals nicht mehr auf der Erde und konnte nicht
Zeuge des Vietnamkriegs und seiner Folgen werden, aber ich hätte
die Kosten für die Gesellschaft vorhersagen können.«
Er beugte sich über den Schreibtisch. »Überlegen Sie, Samantha. Wir
haben Wehrpflichtige eingezogen und Freiwillige angenommen, aber
weder die einen noch die anderen haben die Verantwortung, die sie
übernahmen, wirklich verstanden. Wir haben sie ausgebildet und
indoktriniert, und wir haben sie hinaus in die Schlacht geschickt,
auf das blutigste, am härtesten umkämpfte Schlachtfeld aller
Zeiten. Wir haben sie aus politischen Beweggründen zurückgehalten.
Wir haben sie zurückgeholt... Und dann haben wir sie vergessen.«
Seine leuchtenden Augen verschleierten sich. »Wir haben sie zurück
ins Zivilleben geschickt und erwartet, daß sie zu ihrem alten Leben
zurückkehren, als wäre nichts geschehen. Als hätten sie sich nicht
verändert - als hätten wir sie nicht
verändert. Es ist Wahnsinn gewesen.«
Sam nickte zögernd. Was er sagte, ergab einen Sinn, aber... »Das
ist nicht alles, oder?« fragte sie schließlich.
Mandelbaums Lächeln verzog sich zu einer ironischen Grimasse.
»Natürlich nicht«, gab er zu. »Da war noch mehr. Mein anderes Motiv
- möglicherweise war es mein Hauptmotiv, ich weiß es bis heute
nicht - war...« Er stockte. »Lassen Sie es mich so erklären. Ich
war Pilot, Samantha. Ein Jägerpilot, in einem F-86 Saberjet, dem
ersten wirklich erfolgreichen Düsenjäger. Heute hat sich die Lage
wohl verändert, nach dem, was ich höre, aber in den 1950ern, am
Himmel über Korea, hatten wir die entsprechenden Taktiken noch
nicht perfektioniert - enge Formation, Flügelmänner, gegenseitige
Unterstützung... Auf eine sehr reale Weise war ich da oben allein -
allein am Knüppel der stärksten je entwickelten Kampfmaschine. Wenn
ich MiGCAP flog - Combat Air Patrol - und ein Ziel sah, konnte ich
es aus eigener Initiative verfolgen. Können Sie die Bedeutung,
die... Erregung dieser Freiheit und
Verantwortung begreifen? Mein Erfolg oder Versagen lag
ausschließlich in meiner eigenen Hand. Wenn ich gut war - Erfolg
hatte -, blieb ich am Leben, erzielte Abschüsse. Hätte ich versagt,
wäre es mein Tod gewesen. Es lag alles in diesen beiden Händen.« Er
senkte den Blick, wie um die schlanken Finger zu betrachten, die er
über der Tischplatte spreizte. »Können Sie das verstehen?« Er sah
wieder hoch, fixierte Sam mit ruhigem Blick. Irgend etwas in diesen
Augen schien sich zu verändern, und er flüsterte leise: »Vielleicht
können Sie es tatsächlich
verstehen.«
Samantha sah, wie er umschaltete, in einer fast körperlichen
Veränderung seine Stimmung abschüttelte und das tiefe Gefühl, das
er gezeigt hatte, wieder unter die Oberfläche drückte. Er zuckte
die Schultern, als wäre ihre Unterhaltung nur ein belangloses
Geplauder. »Jedenfalls gewann ich Gefallen an meiner Laufbahn als
›Himmelswolf‹ - so haben wir uns genannt, meine Squadron. In
gewisser Weise närrisch, aber passend.«
»Und dann war es vorbei.«
Mandelbaum nickte scharf. »Natürlich ging es vorbei. Meine Squadron
wurde aufgelöst. Einige meiner alten Kameraden sind nie wieder
geflogen. Andere wurden zivile Flugkapitäne.« Seine Miene ließ
keinen Zweifel daran, was er von dieser Alternative hielt. »Eins
führte zum anderen. Ich schloß mich der Virtual Geographie League
an. Ich war einer der ersten Forscher, die in dieses Universum
versetzt wurden - ins ›BattleTech‹-Universum, wie ich es getauft
habe. Und ich fand eine Welt, in der es eine echte Kriegerklasse
gab - eine deutlich abgegrenzte Klasse, deren Mitglieder geachtet
und geehrt wurden. Ich fand eine
Gesellschaft mit einem soliden Fundament und einem Überbau, der es
Menschen gestattete, ja, sie sogar ermutigte, außerhalb dieser Struktur zu arbeiten.
Sie hatte einen Platz für Wölfe, Samantha. Mehr Platz für einen
einsamen Wolf, als es ihn in der Welt, die ich hinter mir gelassen
hatte, jemals geben konnte. Ich bin nie
zurückgekehrt.« Er legte die Fingerkuppen aneinander, hob die Hände
an die Lippen und wartete.
Worauf wartet er? fragte Sam sich.
Darauf, daß ich widerspreche, ein
Streitgespräch beginne? Aber ich widerspreche ihm nicht. Mein Gott, ich kann genau verstehen, was er meint. Hätte ich dieselbe Entscheidung
getroffen wie er? Sie starrte in Mandelbaums dunkle Augen.
Sein Gesichtsausdruck veränderte sich auf geheimnisvolle
Weise.
Er zuckte wieder die Schultern. »Ich war jung«, stellte er
gleichmütig fest. »Heute bin ich alt. Alt und
- ich hoffe es wenigstens - weiser.«
Sam runzelte die Stirn. »Soll das heißen, Sie haben die falsche
Entscheidung getroffen?«
»Richtig, falsch« - er zuckte wieder die Schultern - »das ist jetzt
kaum noch von Bedeutung, oder?«
»Heißt das, Sie denken an eine Rückkehr?«
Er lachte, ein trockenes, verächtliches Kichern. »Ich habe Ihre
Welt in den 1960ern hinter mir gelassen, Samantha«, stellte er
fest. »Das ist fast dreißig Jahre her. Es ist nicht mehr meine
Welt. Und ich bin zu alt, um noch einmal als Fremder in einem
fremden Land neu anzufangen.«
Sie nickte langsam... Dann setzte sie sich plötzlich kerzengerade
auf, als ihr die Bedeutungen dieser Aussage klar wurden.
Dreißig Jahre...? »Aber Sie wissen von
Vietnam«, brach es aus ihr heraus. »Sie wissen von den
Nachwirkungen des Krieges. Und die hier!« Sie hielt ihm ihre halb
niedergebrannte Zigarette vor die Augen.
Mandelbaum lächelte schwach. »Meine letzte Packung«, sagte er. »Ich
habe sechs Wochen keine mehr geraucht. Es war purer Zufall, daß ich
mir heute eine gegönnt habe.«
»Aber wie...«, stammelte Sam.
»Ich habe Kontakt mit der VGL, ja«,
beantwortete er ihre unausgesprochene Frage. »Gelegentlichen
Kontakt... sehr gelegentlich
heutzutage.«
»Wie gelegentlich?«
»Es vergehen Monate zwischen den Besuchen«, stellte er fest.
»Manchmal Jahre.«
»Wann war der letzte Kontakt?« hakte Sam nach.
»Vor sechs Monaten.« In Sams Brust kämpften widersprüchliche
Gefühle. Anscheinend zeigten sie sich auf ihrem Gesicht, denn
Mandelbaum fragte leise: »Möchten Sie, daß ich der League von Ihnen
erzähle, wenn sie das nächste Mal Kontakt aufnehmen, und sie bitte,
Sie zurückzuholen? Überlegen Sie es sich gut, Ms. Dooley. Es
könnte... Folgen haben.«
Sie nickte. Und ob das
Folgen hätte. »Woher wissen Sie?« fragte sie
plötzlich.
In seiner Stimme lag ein Hauch echter Belustigung, als er ihr
antwortete. »Daß Sie ein... nun, ich schätze, ›blinder Passagier‹
ist ein akzeptabler Name dafür... sind? Das war reichlich
offensichtlich, nachdem Ihre erste Frage vorhin lautete: ›Wo bin
ich?‹ Die VGL bereitet ihre Piloten vor der Translokation gründlich
vor. Wären Sie ein hier gestrandetes Mitglied, hätten Sie
wenigstens ungefähr gewußt, wo Sie mich finden konnten - und wären
hier erschienen, um meine Hilfe zu erbitten.« Er verzog spöttisch
den Mund. »Wie Sie vielleicht bemerkt haben, ist Solaris Sieben
nicht unbedingt der beste Ort, um zu stranden.«
Sag bloß! dachte sie trocken.
Er beugte sich wieder vor. »Und nun sagen Sie mal, wie sind Sie hierhergekommen, Samantha?«
Sie zögerte nur einen Augenblick, dann erzählte sie ihm mit einem
geistigen Schulterzucken die ganze Geschichte. Von Pop-Pops Tod bis
zu ihrem Einbruch bei Generro Aerospace und dem Kampf mit den Mechs
in der Bergwildnis.
Mandelbaum war ein guter Zuhörer, ganz, wie sie es erwartet hatte.
Er hörte interessiert zu, sein Blick ruhte während der ganzen Zeit
auf ihrem Gesicht, auf ihren Augen. Er unterbrach sie nur selten,
aber wenn, dann stellte er gezielte Fragen, die unmittelbar zum
Kern der Sache vorstießen und unfehlbar die wichtigen Einzelheiten
ans Tageslicht holten, die Sam nur angedeutet hatte.
Als sie ihr Eindringen bei Generro beschrieb und schilderte, wie
sie die Technikerin Andrea überzeugt hatte, sie nach Solaris zu
translozieren, kicherte er. »Das wird ihnen zu denken geben«,
stellte er kopfschüttelnd fest. »Sie sind so stolz auf ihre
Sicherheitsvorkehrungen - jedenfalls manche von ihnen. Sie sind so darauf konzentriert,
ihr Geheimnis zu bewahren, daß sie einen der Kerngrundsätze der
League vergessen haben, die ihre Gründer im neunzehnten Jahrhundert
aufstellten.«
»Burton und Bell«, unterbrach Sam, die sich an ihr Gespräch mit Amy
Langland erinnerte. (Mein Gott, das
scheint Jahre herzusein.)
Mandelbaum nickte beifällig. »Genau. Sir Richard Francis Burton,
Entdecker des Tanganyikasees, Übersetzer der Geschichten aus Tausendundeiner Nacht. Und
Alexander Graham Bell, der Erfinder des Telefons. Als sie die
Gründung einer Gesellschaft zur Erforschung des Anderswann erwogen - der virtuellen Welten, wie wir
sie heute nennen -, verstanden sie, wie wichtig es war, neue
Mitglieder zu rekrutieren, Menschen zu
finden, die ihnen in Geist und Gesinnung ähnelten - Seelenverwandte -, und sie in die League zu holen.«
Er seufzte. »Manchmal fürchte ich, die Sicherheitsvorkehrungen, die
rund um die Aktivitäten der League gewachsen sind, halten gerade
die Menschen fern, die wir brauchen, um
uns ins nächste Jahrhundert zu führen.« Er lächelte. »Ich bin
erleichtert, daß sie Sie nicht
fernhalten konnten, Samantha.«
»Beinahe wäre es so gewesen«, gab sie zu. »Wäre dieser Lieferwagen
nicht gewesen...« Sie zögerte. »Das ist etwas, was ich immer noch
nicht verstehe. Was wollten diese Leute in Pop-Pops Haus? Die
League wußte schon, daß sie seine Memoiren bekommen
würde.«
Mandelbaum zuckte die Schultern. »Diese Frage kann ich natürlich
nicht beantworten. Aber was macht Sie so sicher, daß die Leute in
dem Lieferwagen zur League gehörten?«
»Aber wer sonst...?« Sie verstummte mitten im Satz. »Vielleicht die
Regierung?«
Der weißhaarige Tai-sa neigte den Kopf. »Das wäre zumindest meine
Vermutung«, stimmte er zu. »Natürlich kann ich es nicht mit
Sicherheit sagen, aber... Die Beziehung der League zur US-Regierung
war schon immer ein wenig heikel.« Er lächelte ironisch. »Es dürfte
etwas mit den extremen Bemühungen beider Seiten zu tun haben, ja
nichts von ihren Geheimnissen preiszugeben. Es würde mich
jedenfalls keineswegs überraschen, wenn die Personen in jenem
Lieferwagen Agenten der Regierung gewesen wären, die versuchten,
sich die Journale Ihres Großvaters anzueignen, bevor die League sie
unter Verschluß nehmen konnte.«
Sam nickte nachdenklich. Das ergab einen Sinn. Sie lehnte sich im
Sessel zurück und schloß für eine Weile die Augen, verschaffte sich
einen kurzen Augenblick der Ruhe vor der Welt. Schließlich fragte
sie leise: »Was nun?«
»Das liegt an Ihnen, würde ich meinen.«
»Was ist mit einer Rettungsmission?« Sie sah Mandelbaum in die
Augen, konzentrierte sich auf Hinweise, die er ihr geben konnte.
»Würden sie eine aussenden? Oder mich einfach
abschreiben?«
Mandelbaum hob die leeren Hände. »Woher soll ich das wissen?«
fragte er gelassen. »Wenn er Grund zu der Annahme hätte, daß Sie
noch leben, würde Macintyre alles in seiner Macht Stehende tun, um
Sie zurückzuholen. Aber Macintyre leitet die Operation
nicht...«
»Und er könnte keinen Grund haben, es
anzunehmen«, beendete Sam mürrisch den Satz ihres Gegenübers. »Ich
verstehe. Also...«
»Also bleibt die Frage: Was nun?« Mandelbaum drehte sich wieder zum
Fenster. Sam sagte nichts, betrachtete nur stumm sein Profil.
Schließlich drehte er sich zu ihr um. »Wenn Sie wollen, ist hier
Platz für Sie«, erklärte er einfach.
»Das hat Jared Bloch bereits deutlich gemacht«, stellte sie
trockenen Tons fest.
»Da bin ich mir sicher«, lachte Mandelbaum. »Bloch erkennt einen
guten Fang, wenn er ihn sieht. Aber ich hatte an etwas anderes
gedacht. Hätten Sie Interesse daran, zu lernen, wie man einen
BattleMech steuert? Ich meine einen echten Mech, nicht den blassen
Abklatsch, den ein UFT-Cockpit liefern kann.«
»Damit ich bei den Spielen antreten kann?«
Mandelbaum mußte den Sarkasmus in ihrer Stimme gehört haben, aber
er ging nicht darauf ein. »Irgendwann sicher. Immerhin habe ich den
Saberstall dazu aufgebaut. Und darauf
basiert die Wirtschaft von Solaris
Sieben. Es ist ein guter Lebensunterhalt«, führte er vorsichtig
aus. »Es gibt Risiken, sicher... Aber
sobald Sie morgens aus dem Bett steigen, gehen Sie ein Risiko ein.
MechKrieger ist ein ehrbarer Beruf - auf Solaris Sieben und in
diesem ganzen Universum.« Er grinste. Es war beinahe eine
raubtierhafte Geste, schockierend deplaziert in seinem Habitus des
›Elder Statesman‹. »Und es ist einer der besten Berufe für einen
einsamen Wolf... oder jemanden, der einer werden möchte. Was meinen
Sie, Samantha Dooley?«
Sam zögerte. Wenn das hier meine neue
Heimat werden soll, macht es dann
keinen Sinn, mir eine passende Nische zu suchen? Sie fühlte,
wie ihre Lippen die Zähne in einem Spiegelbild seines Grinsens
freilegten. »Wo muß ich unterschreiben, Tai-sa Mandelbaum?« fragte
sie.