7

Samantha lenkte den Wagen zurück auf den Highway und fuhr langsam zurück nach Gold Beach. Ihr war kalt, obwohl die Sonne heiß vom Himmel strahlte, und ihre Hände zitterten, sobald sie das Lenkrad nur etwas locker ließ. In ihrer Magengrube schien ein Loch zu klaffen, während ihr Kopf sich wie mit Watte zugepackt anfühlte. Adrenalinkater. Sie kannte das Gefühl. Es waren die Nachwirkungen der Verfolgungsjagd.

Irgend etwas ist gerade geschehen. Ihre Gedanken waren so zäh wie Melasse im Winter. Etwas Wichtiges. Aber was? Was, zum Teufel, kann das bedeuten?

Officer Belmonts Story ergab keinen Sinn. Es war lächerlich - vollkommen, ganz unglaublich - daß er den Kombi nicht hatte vorbeidonnern sehen. Und trotzdem hatte er behauptet, ihn nicht gesehen zu haben. Warum?

Sam erinnerte sich an das Knistern des Polizeifunks. Weil es ihm jemand befohlen hatte? Wer? Und wieder: warum?

Und ebenso unglaublich war, jetzt, da sie darüber nachdachte, daß sie nur eine Verwarnung bekommen hatte. Nur, weil das Radargerät nicht an war? Kaum. Sie war mit 130 Meilen in der Stunde einen zweispurigen Highway hinuntergerast, um Himmels willen - und hatte es zugegeben. Kein Polizist, der diesen Namen verdiente, brauchte ein verdammtes Radargerät, um sie wegen Geschwindigkeitsübertretung, Gefährdung der Öffentlichkeit, Fahrlässigkeit und wahrscheinlich noch einem Dutzend anderer Übertretungen zur Rechenschaft zu ziehen, von denen sie noch nie etwas gehört hatte. Aber Officer Belmont hatte sie weiterfahren lassen. Zum dritten und letzten Mal, warum?

Wer, zur Hölle, waren die Kerle in dem Kombi? Sie brauchte fast zehn Minuten, um die Strecke zurückzufahren, die sie während der Verfolgung in etwa zwei zurückgelegt hatte. Als sie auf die Flußstraße abbog, sah sie die schwarzen Schleuderspuren, die Grendels Pirellis auf dem Asphalt hinterlassen hatten. Sie zogen sich quer über beide Fahrbahnen bis in Griffweite der Leitplanke auf der Klippenseite. Sie schauderte. Himmel, das war zu nah...
Der blonde Wachmann stand in der Auffahrt, als Sam in Pop-Pops Tor einbog. Wo, zum Teufel, warst du, als es darauf ankam, Blondie? wollte sie ihn anschreien. Stattdessen hielt sie ihre Miene neutral, als er ihr ein Zeichen gab, anzuhalten.
Irgendetwas an seiner Haltung hatte sich verändert, stellte Samantha fest, als er an die Fahrertür kam. Größere Selbstsicherheit war es nicht. Er wirkte immer noch wie ein Jüngling, der versuchte, die Arbeit eines Mannes zu erledigen. Das ist es, dachte sie plötzlich. Er strengt sich mehr an - sehr viel mehr. Beinahe, als wüßte er, daß ihn jemand beobachtet. Sie blickte die Auffahrt hinauf zum Haus. Durch die Bäume konnte sie etwas Gelbes sehen - das mußte der Bronco des Sicherheitsdienstes sein - aber jetzt standen noch andere Wagen vor dem Haus. Beigefarbene. Streifenwagen.
Blondie schob die Daumen in den Gürtel und richtete sich zu voller Größe auf. »Ma'am«, sprach er sie schroff an. »Kann ich Ihnen helfen?«
Sam zögerte. Ihr erster Impuls war, mit der Polizei zu reden, den Eindringling zu melden, aber dann überlegte sie es sich anders. Keine gute Idee, Dooley. Erstens würde sie erklären müssen, was sie selbst im Innern des Hauses gemacht hatte, nachdem ein offizieller Wachtposten ihr das Betreten verboten hatte. Und zweitens...
Zweitens, kann ich der Polizei trauen? Das war ein beunruhigender Gedanke. In ihrer Jugend waren Polizisten immer die Guten für sie gewesen - respektiert, zuverlässig, ja, bewunderungswürdig. Aber jetzt ging hier etwas sehr Mysteriöses vor - und zumindest ein Teil der Cops ist zumindest am Rande daran beteiligt, dachte sie mit Blick auf Officer Belmont.
Sie behielt ihre Sorgen für sich und lächelte den Wachmann an. »Ich will nur wenden«, antwortete sie freundlich.

»Das ist einfach lächerlich!« Maggie Braslins ließ sich stirnrunzelnd in den Sessel sinken. »In was für einen Schlamassel hast du dich da reinmanövriert, Kiddo?«

Samantha grinste, aber es lag wenig Humor in ihrer Reaktion. »Das ist die große Frage, nicht wahr?«

»Und die Memoiren, um die es dir ging, hast du nicht gefunden?«
Sam schüttelte den Kopf. »Ich habe sie nicht einmal zu Gesicht bekommen.«
Maggie zog eine Packung Zigaretten aus der Tasche und schüttelte eine heraus. Nach kurzem Zögern hielt sie Sam das Päckchen hin. Die jüngere Frau grinste und zog eine eigene Schachtel hervor. Maggie schüttelte in gespielter Verzweiflung den Kopf. »Ich sehe, das Teufelskraut hat dich wieder in den Fängen.« Sie steckte sich ihre Zigarette an und warf Sam das Zippo zu.
Sie rauchten ein paar Sekunden lang in kameradschaftlichem Schweigen. Sam blies einen Rauchkringel an die Decke. Ich werde besser, stellte sie fest. Er sieht nicht mehr ganz so nach einem Bagel aus.
Mit einem Schnaufen beugte Maggie sich wieder vor. »Und es gibt keine Möglichkeit, daß die Cops den Kombi hätten verpassen können?« fragte sie leise. »Vielleicht hatten sie die Schnauzen in einer Donutschachtel vergraben.«
Sam kicherte und schüttelte den Kopf. »Trotzdem. Teufel, Mags, ein Kombi mit eins dreißig erzeugt eine beachtliche Schockwelle, meinst du nicht? Der Streifenwagen muß durchgeschüttelt worden sein wie bei einem Erdbeben.«
»Gut möglich.« Maggie war eine Weile still. Dann: »Und sie haben das Kennzeichen nicht überprüft?« »Er hat es nicht einmal aufgeschrieben.«
Maggie schnaubte verächtlich. »Dann sind sie entweder völlig unfähig oder gekauft. Oder beides.«
»Was, wenn sie den Kombi wirklich nicht gesehen haben?«
»Butter bei die Fische!« Maggie stieß mit der Zigarette in Sams Richtung. »Cops überprüfen alles. Mann, wenn sie an der Ampel hinter einem Wagen anhalten, kannst du wetten, daß sie das Kennzeichen überprüfen - das ist SP, Standardprozedur, nur für den Fall, daß was vorliegt. Selbst wenn dein Freund Belmont den Kombi nicht gesehen hätte, wäre es SP gewesen, das Kennzeichen zu überprüfen. Wenn es zu einem grünen Kombi gehört, wie du behauptet hast, liefert es ihm einen Grund, dir zu glauben. Wenn nicht, kann er dir versuchte Irreführung der Behörden anhängen, wenn er es darauf anlegt.«
Sie machte eine Pause. »Ich habe einen Freund in Salem«, sagte sie schließlich. »Vielleicht kann ich ihn dazu bewegen, das Kennzeichen inoffiziell zu überprüfen. Schaden kann es nicht, denke ich mir.«
»Schaden kann es nicht«, bestätigte Sam. Irgendetwas sehr Seltsames läuft hier ab.

Samantha lehnte sich an die Fassade der kleinen Anwaltskanzlei. Auf dem Schild stand Ken & Simons, Ltd. Sie lag direkt an der ›Hauptstraße‹ von Gold Beach - das war natürlich der Highway 101 - und gegenüber dem einzigen, kleinen Kino am Ort. Obwohl es erst früher Vormittag war, spürte sie durch das weiße Baumwollhemd die Wärme des von der Sonne aufgeheizten himmelblauen Putzes.

Sie rauchte nachdenklich und beobachtete den leichten Verkehr. Es war Mittwoch früh. Das Sonnenlicht funkelte auf dem Chrom und Glas in bunten Glanzspektren, die in der Hitze schillerten. Plötzlich mußte sie lachen. Ihr war klargeworden, daß sie halb unbewußt Ausschau nach einem grüngrauen ChevyKombi hielt. Keine Chance, dachte sie mit einer gewissen Grimmigkeit.

Maggies Freund in der Staatshauptstadt hatte das Kennzeichen überprüft, das Sam gesehen hatte. Mags hatte ihr das Ergebnis mitgeteilt, bevor Sam am Morgen zur Anwaltskanzlei aufgebrochen war. Die ältere Frau hatte etwas gezögert, es ihr zu sagen - nicht ohne Grund, machte Sam sich klar - als ob sie nicht wußte, wie sie die Nachricht einschätzen sollte, die sie brachte.

»Die Computer der Verkehrsbehörde haben nichts gefunden«, hatte Maggie festgestellt.
Sam hatte genickt. »Das macht wohl Sinn, schätze ich. Gestohlener Kombi, gestohlene Nummernschilder...«
»Nein.« Maggie hatte sie entschieden unterbrochen. »Das meine ich nicht. Ich meine, sie haben nichts gefunden. Laut Auskunft der Verkehrsbehörden in Oregon existiert das Nummernschild XBF254 nicht. Es wurde nie ausgegeben.« Sie wartete einen Augenblick. »Bist du sicher, daß es ein Oregon-Kennzeichen war?«
Samantha hatte gezögert und sich verunsichert das Bild des Kombis wieder vor ihr inneres Auge gerufen, wie er aus Pop-Pops Auffahrt verschwunden war. Weißer Hintergrund, blauer ›Himmel‹ entlang der Oberkante, violette ›Berge‹ an der Unterkante, ein einzelner grüner Baum - wahrscheinlich eine Douglastanne. Das ist doch der Staatsbaum von Oregon, oder? - in der Mitte des Nummernschilds. »Ich bin mir sicher«, bestätigte sie.
Maggie hatte die Schultern gezuckt. »Dann hast du etwas gesehen, was es offiziell nicht gibt«, stellte sie tonlos fest. »Wie immer du das auslegen willst.«
Sam seufzte. Wie ich es auslegen will? fragte sie sich. Ich habe keinen Schimmer, wie ich es auslegen soll.
Sie nahm einen weiteren tiefen Zug von ihrer Zigarette, dann starrte sie traurig auf das glimmende Ende. Hat nicht lange gedauert, bis ich wieder voll versklavt war, was? dachte sie säuerlich. Sie sah auf die Uhr: zwei Minuten vor zehn. Sie ließ die halbgerauchte Zigarette auf den Bürgersteig fallen und trat sie aus. Dann drehte sie sich um und ging durch die Tür, während sie mit einer Hand die Ray-BanFliegerbrille in die Hemdtasche steckte.
Die Empfangsdame, eine reichlich spröde wirkende Blondine, schenkte ihr ein Plastiklächeln und deutete auf die offene Bürotür hinter ihr. Sam nickte kurz und ging weiter.
Morton Kerr, Jr., Pop-Pops Anwalt, saß hinter einem überdimensionalen Schreibtisch, dessen beinahe leere Arbeitsfläche spiegelte. Er saß in einem hohen, komfortablen Ledersessel die spitzen Ellbogen auf den Armlehnen, die langen Finger vor der Brust verschränkt. Sein schmales Gesicht war ausdruckslos, aber die grauen Augen - scharfe Augen, dachte Sam, wie die eines Adlers - zuckten durch den Raum, als wollten sie sich nicht das kleinste Detail entgehen lassen. Sam ließ sich in einem der Stühle nieder, die vor dem Schreibtisch standen. Es waren nur drei, registrierte sie, und einer davon war zur Seite gerückt, als spiele er nur eine Nebenrolle in dem Verfahren. Das bedeutete, so nahm sie zumindest an, daß nur eine weitere Person an der Verlesung des Testaments teilnehmen würde. Wer? Sid Warner vielleicht?
Ein Telefon surrte leise. Ohne eine Miene zu verziehen, öffnete Kerr die oberste Schreibtischschublade und holte einen Hörer heraus. »Ja?« Während er zuhörte, verschleierte sich sein Blick für einen Augenblick. Dann nickte er, wie zu sich selbst. »Ich verstehe. Das ist... akzeptabel. Bitte kommen Sie jetzt herein, Arlene.« Er legte das Telefon auf und schloß die Schublade.
Er fixierte Samantha mit seinem Raubtierblick. »Ich fürchte, der zweite... ähem, Teilnehmer ist verhindert«, stellte er mit glatter Stimme fest. »Dr. Macintyre ist unabkömmlich, hat mir aber aufgetragen, ohne ihn fortzufahren.«
Sam blinzelte überrascht. Dr. Macintyre? Konnte das der Ernest Macintyre sein, den sie bei ihrem ersten Krankenbesuch bei Pop-Pop kennengelernt hatte?

Wenn man bedenkt, was Pop-Pop über Macintyres Kindheit erzählt hat, ergäbe das einen Sinn. Oder?

Sie erhielt keine Gelegenheit, weiter darüber nachzugrübeln. Die Wasserstoffblondine aus der Rezeption trat ins Büro und schloß die Tür. Sie setzte sich auf den abseits gerückten Stuhl, klappte einen altertümlichen Stenoblock auf und spitzte ihren Bleistift.

Kerr zog eine andere Schublade auf und holte einen dünnen Stapel Papiere hervor, die er vor sich ausbreitete. Er sah sie ein paar Sekunden lang durch, dann hob er den Kopf und fixierte Sam mit scharfem Blick. »Der Zweck dieser Unterredung ist die Verlesung des Letzten Willens und Testaments des Mr. James R. Dooley Senior«, stellte er mit perfekter Artikulation fest, als stünde er auf einer Bühne. »Im Anschluß stehe ich Ihnen für alle Fragen zur Verfügung, die Sie noch haben - im Rahmen meiner Fähigkeiten, versteht sich.« Sein dünnes Lächeln ließ keinen Zweifel daran, für wie unwahrscheinlich er eine Frage hielt, die über seine Fähigkeiten hinausging. »Darf ich fortfahren?«

»Bitte.« Sam rutschte auf dem harten Stuhl umher und suchte nach der am wenigsten unbequemen Position.

Die selbstgefällig klingenden juristischen Phrasen zogen an ihr vorbei, als Morton Kerr mit langsamer, präziser Aussprache vorlas. Als sie sich einmal an den Stil und Rhythmus der Sprache gewöhnt hatte, stellte sie fest, daß sie nicht jedes Wort zu verstehen brauchte. Statt dessen zog sie eine Art Summe aus dem Vortrag - eine Essenz der legalistischen Sprachungetüme, die deren Bedeutung auf ein paar Kernpunkte reduzierte. (Warum schreiben Anwälte nicht von vornherein so? fragte sie sich nach einer Weile. Natürlich könnte es durchaus sein, daß wir irgendwann auf den Gedanken kämen, ihre hochherrschaftliche Rechtspriesterschaft gar nicht zu benötigen, wenn sie das täten.)

Es lief darauf hinaus, daß nahezu alles ihr gehörte
- zumindest war das ihre Interpretation. Ein Treuhandfonds, den Pop-Pop zwanzig Jahre zuvor eingerichtet hatte, ging an einen Dr. Ernest Macintyre aus Ontario, Kalifornien. (Sam fragte sich beiläufig, wie groß die Geldsumme auf dem Konto wohl war, aber sie wußte, daß es keinen Sinn hatte, den Anwalt danach zu fragen. Rechtsanwälte sind zu diskret, um ihre linke Hand wissen zu lassen, was die rechte tut, erinnerte sie sich und unterdrückte ein Grinsen.) Dr. Macintyre erhielt auch Pop-Pops roten Jensen Interceptor III.

Als er diesen Satz vorlas, warf Kerr Sam einen fragenden Blick unter seinen dunklen Augenbrauen zu, fast, als erwarte er einen Einwand. Sie lächelte nur. Pop-Pop wußte, wie ich über den Wagen denke. Er ist für mich nur deshalb von Interesse, weil PopPop ihn so liebte. Vielleicht kommt ja irgendwann mal der Tag, an dem die britischen Sportwagenhersteller herausfinden, wie man eine funktionierende Lichtmaschine baut. Ihr Grinsen bekam einen schelmischen Touch. Ich hoffe, Macintyre hat keine Einwände gegen ein positivgeerdetes System und hat Spaß daran herumzurätseln, was, zum Teufel, ein weiß-violett gestreifter Draht sein soll...

Ein ganzer Abschnitt des Testaments war Jim Dooleys Erinnerungsstücken gewidmet, eine äußerst detaillierte und möglicherweise vollständige Liste. Abgesehen von zwei für Samantha vorgesehenen Familienfotos ging der gesamte Rest - Modelle, Auszeichnungen, Souvenirs, Fotografien und ›andere Bilder‹ - an ein sogenanntes Museum of Flight in der kleinen Ortschaft Rogers, Kalifornien. Das ließ Sam skeptisch eine Augenbraue hochziehen, aber sie sagte nichts, auch nicht, als Kerr ihr erneut einen fragenden Blick zuwarf. Sie hätte die Erinnerungsstücke ihres Großvaters gerne selbst behalten - besonders die aus der ›inneren Bibliothek und ganz besonders das Foto von Pop-Pop mit Amelia Earhart - aber ihre Enttäuschung war nicht so groß, daß sie ein Bedürfnis verspürte, Jims Letzten Willen anzufechten. Er mußte gewußt haben, daß Sam eine sentimentale Bindung an seine Souvenirsammlung entwickeln würde; aber er hatte sie ausdrücklich dem Museum hinterlassen. Offensichtlich hatte das RogersFliegermuseum ihm viel bedeutet, auch wenn Sam noch nie etwas davon gehört hatte.

Der Anwalt verstummte für ein paar Sekunden, als wolle er Sam Gelegenheit geben, ihre abschweifenden Gedanken zu sammeln. Dann verlas er die Liste der Objekte, die Pop-Pop ihr vererbt hatte.

An erster Stelle der Liste stand das Haus außerhalb von Gold Beach sowie dessen gesamter Inhalt, soweit er nicht bereits in früheren Teilen des Testaments vergeben worden war. Das Dokument überließ Sam die Entscheidung darüber, wie sie mit dem Besitz verfahren wollte. Sie konnte das Haus als ihr Eigentum übernehmen oder es auf den Markt werfen und verkaufen. Das Dokument bot ihr jedoch noch eine dritte Option: Sie konnte den Verkauf über die Testamentsvollstrecker abwickeln lassen - mit anderen Worten durch die Kanzlei Kerr & Simons, Ltd. (Sie nahm an, daß dies die übliche Vorgehensweise war, aber es war typisch für Pop-Pop, sie ausdrücklich wissen zu lassen, daß sie sich die möglicherweise unangenehme Aufgabe vom Hals schaffen konnte, wenn sie sich ihr nicht gewachsen fühlte.) Sam lächelte traurig. Ich werde seinen ›Ausweg‹ wohl annehmen, überlegte sie. Es würde mich zerreißen, Pop-Pops Haus verkaufen zu müssen.

Jim Dooleys extrem umgebautes Glasair-Flugzeug
- seine geliebte Yellow Bird - fiel natürlich an Sam, ebenso wie die (nicht weiter erläuterten) Erträge zweier separater Treuhandfonds und die Erträge der Lebensversicherungen nach Begleichung der Begräbniskosten, Erbschaftsteuer und so weiter. Das dürfte mich zu einer wohlhabenden jungen Dame machen, wurde Sam sich mit einem gelinden Schock klar. Trotzdem, ich wäre lieber arm, wenn ich PopPop dadurch zurückbringen könnte.

Und das war alles. Kerr beendete die Verlesung des Testaments und legte es beiseite, bevor er sich wieder in seinem Sessel zurücklehnte. Samantha blinzelte überrascht. »Was ist mit Pop-Pops Memoiren?« stieß sie aus.

Der Anwalt betrachtete sie über die verschränkten Finger hinweg. (Das perfekte Pokerface, dachte Sam verärgert.) Er schwieg einen Augenblick, als überlege er eine Antwort - oder er wartet darauf, daß ich meine in seinen Augen dumme Frage zurückziehe. Schließlich schürzte er die Lippen und erklärte: »Persönlich würde ich Memoiren unter den Oberbegriff ›Erinnerungsstücke‹ fassen, hmm?«

Was bedeutet, sie gehen an das Museum of Flight in Rogers. Das ist unannehmbar. Sam bemühte sich, ihre Stimme ruhig und vernünftig zu halten. »Ihr Klient hat ausdrücklich festgelegt, daß diese Memoiren an mich als seine einzige lebende Verwandte fallen sollen.«

Kerr war ungerührt. »Falls dies der Fall wäre«, erwiderte er, »sollte man annehmen, daß er diese Bestimmung in seinem Testament aufgeführt hätte.«

Sam biß die Zähne so hart zusammen, daß es schmerzte. Sie wußte, daß ihre Reaktion durch den Gefühlsaufruhr des Augenblicks weit überzogen war, aber... plötzlich haßte sie Morton Kerr, Jr., - seine einstudierten, überpräzisen Gespreiztheiten, seine pedantische Redeweise, sogar die Art, wie aus seinen Augen ein trockenes Amüsement zu leuchten schien, dessen Ursprung er mit jemand, der nicht in die Großen Mysterien des Rechts eingeführt war, nicht teilen konnte oder wollte. Sie stellte sich vor, wie sie über den Schreibtisch hechtete, seine Haare packte und das hochtrabende Gesicht auf die spiegelblanke Tischplatte schlug... und die Vorstellung gefiel ihr. Es kostete sie einiges an Willenskraft, ihre Stimme und ihr Gesicht unter Kontrolle zu halten.

»Das könnte man annehmen«, erwiderte sie mit einer beinahe ebenso kalten und deutlichen Artikulation wie ihr Gegenüber, »falls man nicht die Ansicht vertritt, daß seine persönlichen Wünsche, direkt und persönlich vorgebracht, Vorrang vor einem simplen Dokument haben sollten. Hm?«

Falls er bemerkt hatte, daß sie ihn parodierte, ließ er sich zumindest nichts anmerken. Statt dessen legte er nur den Kopf ein wenig auf die Seite - wie ein Greifvogel, der sich überlegt, ob er noch eine Feldmaus schlagen soll, dachte sie plötzlich - und ließ ein leises, skeptisches Räuspern hören. »Möglicherweise«, gab er schließlich zu, »aber das wäre unklug.« Er öffnete eine weitere Schublade und zog ein zweites dünnes Papierbündel hervor. Er fuhr schnell mit der Fingerspitze über das Deckblatt. Dann legte er die Papiere verdeckt vor sich ab. Sein scharfer Blick senkte sich wieder auf ihr Gesicht. »Wie sich zeigt«, fuhr er gelassen fort, »ist dies nicht der Fall.«

»Was ist das?« Sie deutete auf die Papiere. »Unter anderem eine Liste der für das Museum of

Flight bestimmten Gegenstände.«
»Die Erinnerungsstücke.«
Sein Nicken vollzog sich im Millimeterbereich. »Lassen Sie sehen.« Sie streckte die Hand aus,

aber er zog die Papiere mit einer geschmeidigen Bewegung vom Tisch, legte sie zurück in die Lade und schloß diese lautlos.

»Arlene kann Ihnen natürlich eine Kopie der Liste anfertigen«, stellte er in noch reservierterem Tonfall als zuvor fest. »Ich gebe Ihnen aber mein Wort, daß sie keinen Eintrag bezüglich eines Tagebuchs oder irgendwelcher Memoiren enthält.«

»Wer hat die Liste angefertigt?«

Auf diese Frage hin wölbten sich seine Augenbrauen ein wenig. »Sie wurde von Partnern unserer Kanzlei erstellt. Ich versichere Ihnen, daß sie höchst effizient arbeiten.«

Effizient genug, um mit Pop-Pops Memoiren zu verschwinden, bevor sie auf die Liste gelangen konnten? Sie schüttelte den Kopf. Nein, das machte wenig Sinn. Sie hatte Jim Dooleys Memoiren nicht gefunden. Zugegeben, ihre Suche war unterbrochen worden, aber hätte Pop-Pop sich solche Mühe gemacht, sie zu verstecken? Wenn sie sich nicht auf den Serpentinenpfad des Verfolgungswahns begeben und annehmen wollte, daß die Testamentsvollstrecker und die Polizei - und überhaupt der ganze Rest der Menschheit - sich mit... irgend jemand verschworen hatten, um ihr... irgend etwas anzutun..., machte es sehr viel mehr Sinn, Kerr zu glauben. Die Memoiren waren nicht im Testament aufgeführt, weil Pop-Pop erwartet hatte, sie würde sie mitnehmen, bevor es vollstreckt wurde. Und sie standen nicht auf Kerrs Liste von Erinnerungsstücken, weil sie nicht im Haus gewesen waren, als sie angefertigt wurde. Betrachten wir es doch mal ganz nüchtern, erinnerte sie sich. Eine Menge Leute hatten Zutritt zu dem Haus - Leute, die von Pop-Pops Memoiren gewußt haben können.

Aber welchen Grund sollten diese Personen gehabt haben, sie mitzunehmen?
Plötzlich fiel ihr etwas anderes ein, dessen Abwesenheit im Testament bemerkenswert war. »Mr. Dooley besaß etwas Land«, stellte sie fest.
Er nickte sofort. »Ja, das Eagle-Mountain-Grundstück.«
»Genau.« Sie zögerte. »Ich hatte Grund zu der Annahme...« Sie zögerte wieder, suchte nach den passenden Worten.
Kerr nahm ihr die Mühe ab. »Daß dieses Grundstück Ihnen zufallen würde?« Ein kühles Lächeln spielte einen Augenblick lang um seine Mundwinkel. »Unwahrscheinlich, fürchte ich, Ms. Dooley, da die Unterlagen zeigen, daß Mr. Dooley diesen Besitz vor sieben Jahren abgestoßen hat.«
»Hat er nicht«, rief Sam. »Das hätte er mir gesagt.« Der Ausdruck auf dem Gesicht des Anwalts machte ihr deutlich, was er von dieser Argumentation hielt. Sie zügelte ihre Gefühle und versuchte es anders. »Ich bin sicher, daß er diesen Besitz nicht verkauft haben kann. Zwei Tage vor seinem Tod hat er mir noch gesagt...«
Ihre Stimme erstarb. Was genau hat er mir gesagt? fragte sie sich plötzlich. Daß er das Grundstück noch besaß? Sie versuchte sich zu erinnern, sich die genauen Worte ins Gedächtnis zurückzurufen. Pop-Pop hat davon gesprochen, was ich mit seiner Asche machen soll. Ich habe ihn gefragt, ob ich sie nach Eagle Mountain bringen sollte, und er hat gewitzelt, er habe Besseres mit der Ewigkeit vor, als mir Haare und Nase zu verstauben...
Es war keine direkte Bestätigung, daß er das Gelände noch besaß und sie es erben würde, aber doch eine reichlich deutliche Anspielung.
Der Anwalt hatte darauf gewartet, daß sie ihren Satz beendete. Jetzt zuckte er die Schultern. »Vielleicht«, entgegnete er kühl, »sollten Sie besser den gesetzlichen Dokumenten vertrauen als der Erinnerung an einen möglicherweise senilen Sterbenden.«
Wut flammte in Sams Eingeweiden auf, und wieder sah sie den Kopf des Anwalts vor sich, der auf den blankpolierten Schreibtisch schlug. Kein kluger Schachzug, Dooley. Sie atmete tief ein, hielt den Atem einen Augenblick lang an, ließ ihn dann mit einem Seufzer entweichen und zumindest einen Teil ihrer Wut und Frustration mitnehmen. »Wann hat er das Grundstück verkauft?« Sie hatte den Eindruck, daß ihre Stimme spröde wie Marienglas klang, aber zumindest wirkte sie nicht aggressiv. »Haben Sie die Papiere ausgefertigt?«
Er schüttelte den Kopf und beantwortete ihre zweite Frage zuerst. »Ich bin erst vor vier Jahren in die Firma eingetreten. Den Unterlagen zufolge hat mein Vater den Eagle-Mountain-Verkauf betreut.«
»Kann ich die Angelegenheit mit ihm besprechen?«
Kerr antwortete nicht sofort, und seine Miene wurde noch frostiger, soweit das überhaupt möglich war. »Das dürfte reichlich schwierig werden«, sagte er schließlich.
Ach ja? Ihr kam ein böser Gedanke. Sam verzog ihre Miene zu einem Ausdruck von Mitgefühl. »Es tut mir leid«, gab sie entschuldigend zurück. »Ich wußte nicht davon. Seinen Vater zu verlieren ist ein schwerer Schlag. Wie lange ist es her, daß er... daß Sie ihn verloren haben?«
»Etwas mehr als ein Jahr.«
Sam nickte. Es war von vornherein ein paranoider Einfall, schalt sie sich - aber trotzdem fühlte sie eine gewisse Erleichterung, daß etwa sechs Jahre zwischen dem angeblichen Verkauf von Eagle Mountain und dem Tod von Morton Kerr, Sr., lagen.
Der Anwalt zögerte, dann stellte er in leicht defensivem Ton fest: »Ich habe die Verträge jedoch im Verlauf meiner Tätigkeit durchgesehen. Sollten Sie irgendwelche Zweifel an der Rechtmäßigkeit hegen, kann ich Ihnen versichern...«
»Der Gedanke ist mir nicht gekommen«, log sie. Dann: »Kann ich bitte Kopien der Verkaufsunterlagen bekommen?«
Kerr zögerte, dann zuckte er kaum wahrnehmbar die Achseln. »Arlene kann Ihnen Kopien anfertigen.« Mit einer plötzlichen Geste richtete er die Schreibunterlage an der Tischkante aus. »Haben Sie noch weitere Fragen?«
Sam schenkte ihm ein Lächeln, das zwar ihre Lippen bewegte, aber ihre Augen nicht erreichte. »Sollte mir noch etwas einfallen, hören Sie von mir«, versicherte sie ihm kalt.

Ein weißer, mittelgroßer Umzugslaster stand in der Auffahrt von Pop-Pops Haus, als sie zehn Minuten später dort eintraf. Das rotblaue Logo auf seiner Seite lautete: ›Jones Cartage‹. Als sie neben dem Laster anhielt, tauchte ein Mann in einem blauen Overall in der offenen Haustür auf. Er trug einen großen Karton. Tränen traten in Sams Augen, als sie einige der Objekte erkannte, die aus dem offenen Karton ragten. Gerahmte Fotografien, farbig und schwarzweiß, ein eingerahmtes Diplom oder eine Auszeichnung. PopPops Erinnerungsstücke.

Der blonde Wachmann - in Begleitung eines älteren Mannes in ähnlicher Uniform: Blondies Vorgesetzter, erkannte Sam sofort - kam von der rechten Hausseite näher. Bevor die beiden Grendel erreicht hatten, fuhr sie das Fenster herunter und rief den Umzugsarbeiter an: »He!« Als er herübersah, winkte sie ihn zu sich.

Er kam nicht an den Wagen, blieb aber wenigstens stehen und stützte den Karton für einen Augenblick auf der Hüfte ab. »Yeah?« fragte er mißtrauisch.

»Jones Cartage?« Er nickte. »Wer hat Sie beauftragt, die Sachen abzutransportieren?«

Der Arbeiter zögerte. »Vielleicht reden Sie besser mit meinem Vorarbeiter«, sagte er langsam.
Sam sah nach rechts. Blondie und sein Boß waren fast schon da. »Ein Museum?«
Die Miene des Arbeiters hellte sich auf. »Yeah«, bestätigte er. Offensichtlich machte es ihm weniger aus, Sams Feststellung zu bestätigen, als diese Information selbst zu liefern. »Irgendein Fliegermuseum in Kalifornien.«
»Rogers?«
»Genau.« Er nickte freundlich.
»Danke schön.« Blondies Boß hatte den Wagen fast erreicht und setzte an, etwas zu sagen - wahrscheinlich, daß sie noch warten solle. Sam schaltete Grendel in den Rückwärtsgang und trat aufs Gas. Kies prasselte gegen die Unterseite des Wagens, als sie rückwärts die Auffahrt hinunterfuhr, und die beiden Wachmänner zuckten zurück.
Verdammt, dachte sie. Auf die Einfache geht es anscheinend nicht. Ich werde mir was einfallen lassen müssen.