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Das kann nicht wahr sein. Sam schüttelte benommen den Kopf.Sie hatte das Gefühl, in einem Traum gefangen
zu sein. Sie wußte, sie war von Amy Langlands Couch aufgestanden,
hatte das Haus der alten Fliegerin verlassen und war in Grendel
abgefahren. Jetzt rollte sie auf der Vermont nach Süden - ziellos,
beinahe blind. Wenn sie auf die Ereignisse der letzten Minuten
zurücksah, fühlte sie sich fast wie eine unbeteiligte Zuschauerin.
Es war, als hätte sie sich dabei zugesehen, wie sie das Haus verlassen hatte - das
Haus einer Frau, die sie zu kennen geglaubt hatte. Ich kenne Amy nicht. Der Gedanke war ernüchternd.
Ich kenne sie nicht wirklich. Und ich habe
Pop-Pop - und Dad
- auch nicht gekannt. Sie fühlte sich einsam, schien zu
taumeln. Das Fundament ihrer Existenz schien weggebrochen zu sein.
Unwillkürlich erinnerte sie sich an das letzte, was Amy Langland zu
ihr gesagt hatte, bevor sie gegangen war. »Ich an deiner Stelle
würde alles wieder vergessen, was ich weiß, Kleines«, sie hatte es
mit kühler, gefühlloser Stimme gesagt. »Es ist schon vorgekommen,
daß die League Leute umbringen mußte, die ihre Ziele
bedrohten.«
Wo bin ich da nur hineingeraten, zur Hölle? fragte sie sich. Ein Geheimbund, eine Verschwörung, groß genug, um ganze Firmen zu übernehmen... mit Komplizenschaft der Regierung! Ein Geheimnis, das wichtig genug ist, um Leute mit ihrem Leben dafür bezahlen zu lassen...
Aber was wollte diese Verschwörung? Was war ihr Ziel, ihr Zweck? Und wie versuchte sie, dieses Ziel zu erreichen?
Das sind die Fragen, die Pop-Pop mir mit seinen Memoiren beantworten wollte, erkannte sie. Darauf hat er in jener Nacht angespielt - all das Gerede über Verständnis und daß ich nicht schlecht von ihm denken soll, all die verschleierten Hinweise auf Geheimnisse. Er wollte, daß ich nach seinem Tod von seiner Rolle in dieser Virtual Geographie League erfahre, was zum Teufel das auch sein mag.
Die geheimen Pläne der VGL lieferten die Erklärung für eine Menge der Rätsel, an denen sie gesessen hatte. Offensichtlich hat Pop-Pop die ›unausgesprochenen Regeln‹ verletzt, indem er mir seine Memoiren überließ, wenn die VGL so streng geheim bleiben soll. Deshalb sollte ich sie an mich nehmen, bevor die Testamentsvollstrecker anrückten - bevor die VGL sie in ihre dunklen Finger bekommen und meinem Zugriff entziehen konnte.
Aber die VGL hatte die Memoiren bekommen, erinnerte sie sich verbittert, so, wie sie dafür gesorgt hatte, daß Sam Pop-Pops Erinnerungsstücke nie bekommen würde, ebensowenig wie das Gelände am Eagle Mountain. Wie schwer kann es gewesen sein, eine lächerlich kleine Anwaltskanzlei zu korrumpieren, wenn die VGL groß genug ist, einen Konzern wie Generro Aerospace zu kontrollieren?
Generro... Eine Flut neuer Gedanken brach über sie herein. Mein Vater - er war auch darin verwikkelt. Was hatte Langland über ihn gesagt? ›Was für ein schwerer Verlust. Er war einer unserer vielversprechendsten Rekruten^
Was für ein schwerer
Verlust? Sag bloß. Erzähl mir doch
nichts von Verlusten.
Also, was genau hatte Jim Dooley, Jr., bei Generro Aerospace
gemacht? Und wie war er tatsächlich umgekommen? War er am Knüppel eines
ThunderflashDüsenjäger-Prototyps abgestürzt, oder war das nur eine
Tarnbehauptung gewesen? Was, zum Teufel, ist
mit meinem Dad geschehen?
Sams Gedanken, ihre Erinnerungen, wirbelten durcheinander wie in
einem Orkan. Sie zog Grendel an den Straßenrand, wobei sie einem
Taxi den Weg abschnitt, und senkte unter dem wütenden Hupen des
Droschkenfahrers den Kopf in beide Hände. Wörter und Sätze tanzten
durch ihren Geist. Virtuelle Welten. Burton
und Bell. Anderswann. Albert Einstein.
UFT-Transportercockpit... Was bedeutete das alles? Was war diese
VGL?
Sie zwang sich, tief durchzuatmen, um die Gefühle abzuschütteln,
die sie zu überwältigen drohten. Sie rieb sich die Augen, strich
sich das lange Haar aus dem Gesicht. Nimm dich
zusammen, Dooley. Sie öffnete das Handschuhfach und setzte
die Ray-Ban auf, die sie dort aufbewahrte.
Die Sonnenbrille dämpfte das grelle Licht der Morgensonne und
schien gleichzeitig ihre Konzentration zu unterstützen, ihr zu
gestatten, die Flut von Worten und Begriffen zu sortieren.
Nimm dich zusammen, herrschte sie sich
noch einmal an. Du schaffst das. Du kommst
noch dahinter.
Sie fühlte eine wachsende Überzeugung in ihrem Hinterkopf, daß sie
genug Informationen besaß, um alles zu durchschauen. Es ist wie ein Puzzle, dachte sie. Ich habe alle Stücke, aber ich weiß nicht, wie sie
zusammengehören. Noch nicht.
Drei Stunden später saß sie zusammengesunken in ihrem Papasansessel und starrte auf die Karteikarten auf dem Zettelbrett.
Auf dem Rückweg hatte sie an einer Telefonzelle angehalten und sich bei WestAir krank gemeldet. Ihr Boß hatte sich nicht allzu erfreut angehört. Sie war sich ziemlich sicher, daß er so kurzfristig keinen Ersatz würde auftreiben können und ein paar Flüge absagen mußte, aber er respektierte sie genug, um keine lästigen Fragen zu stellen. Dann war sie zurück nach Venice gefahren und hatte sich an die Arbeit gemacht, das ›Puzzle‹ VGL zu lösen. Als erstes hatte sie alle neuen Fakten, Spekulationen, Fragen und sonstigen Dinge, an die sie sich erinnern konnte, auf weitere Karteikarten geschrieben.
Nachdem sie einmal damit angefangen hatte, erstaunte sie selbst, wieviel ihr einfiel. Es scheint fast, als ob ich nur mit dem Versuch, alles auf die Reihe zu bringen, die Schleusentore aufgestoßen habe, dachte sie sarkastisch. Aber es waren weniger die Erinnerungen selbst, die so faszinierend waren: Es waren die Verbindungen, die sie zwischen diesen Erinnerungen entstehen sah.
Zum Beispiel das rätselhafte Modell in dem privaten Museumsschrein, das ›UFTTransportercockpit‹. Als sie dort gewesen war, hatte sie ihre Interpretation der Abkürzung UFT verworfen; welche Verbindung hätte zwischen diesem bizarren Gerät und einer einheitlichen Feldtheorie bestehen können, hatte sie gedacht. Aber nun... Jetzt, da sie wußte, daß Albert Einstein Mitglied der VGL gewesen war, erschien ihr diese Verbindung keineswegs mehr lächerlich.
Nachdem sie dies einmal als Möglichkeit akzeptiert hatte, lieferte das eine ganz neue Deutung des seltsamen Ausdrucks, den Langland benutzt hatte: ›virtuelle Welten‹, und ebenso für den Namen der Virtual Geographie League selbst. Die einheitliche Feldtheorie befaßt sich mit Quantenmechanik, der Heisenbergschen Unschärferelation, Schrödingers Katze und all dem Mist, oder? Könnte es das sein, was Amy mit ›virtuellen Weiten‹ gemeint hat?
Und was war das Anderswann? Langland schien vorausgesetzt zu haben, daß die beiden Begriffe gleichbedeutend oder zumindest verwandt waren. Okay, das ist eine Frage, auf die ich noch keine Antwort habe.
Sie dachte an die Textfragmente aus Fred Noonans Tagebuch. Worauf hatte sich die Eintragung bezogen?Offensichtlich auf irgendeine Art Testflug. Er sitzt im Cockpit eines Experimentalflugzeugs, und die Flugtechniker schließen das Kanzeldach.
Nein, dachte sie. Das kann nicht sein. Er hat Quarzglas erwähnt - sie bemühte sich, sich an die genauen Worte zu erinnern - ›konnte ich durch das Quarzglas ...‹ Was für ein Flugzeug hatte 1937 Quarzglas im Cockpit? Quarzglas kam nur zur Anwendung, wenn Strahlungsgefahr bestand, oder? Und das ergibt überhaupt keinen Sinn. Gute Güte, das war 1937, vor dem Manhattan Project, vor Trinity, vor Hiroshima... Wann war es zur ersten Kernspaltung gekommen? 1939? Wozu dann Quarzglas?
Vielleicht war es kein Flugzeug. Der Gedanke kam aus dem Nichts. Was stand im Rest der Tagebucheintragung? Etwas über ein Gefühl fast wie bei einem Flugzeug, das den Auftrieb verliert und absackt. Noonan hatte irgendeine Erfahrung - ›die Verschiebung‹, so hat er es genannt, erinnerte sie sich plötzlich - mit dem Verhalten eines Flugzeugs verglichen. Hätte er das getan, wenn er über ein Flugzeug geredet hätte? Wozu wäre es gut, eine Erfahrung mit deren eigenen Begriffen zu beschreiben? Das wäre wie der alte Witz über die Eintragung im Mathematikerlexikon: ›Rekursion: siehe Rekursion‹...
Und worum war es im Rest der Eintragung gegangen? Das war noch schwerer zu entschlüsseln. Irgend etwas über einen ›Sturz in eine Richtung, von deren Existenz ich nichts geahnt habe‹ oder so ähnlich...
Das Telefon zwitscherte und riß sie aus den
Gedanken. »Hallo?«
»He, Kiddo.«
Samantha richtete sich im Papasan auf. »Mags. Mann, Mädel, habe ich
dir Sachen zu erzählen.«
»Ich zuerst«, unterbrach ihre Freundin mit kehligem Gelächter. »Ich
hab mir den Arsch aufgerissen, um dir die Informationen zu
besorgen, die du wolltest, und ich werde sie jetzt loswerden,
selbst wenn ich dich dazu erst erwürgen müßte.«
Sam kicherte. »Na, dann mal raus damit.«
»Sid Warner. Habe ich deine Aufmerksamkeit erregt?«
»Hast du.«
»Ich habe immer noch keine Adresse oder Telefonnummer, aber ich
habe es geschafft, einen Hinweis darauf
zu bekommen, wo er zur Zeit arbeitet.«
»Er nimmt immer noch Aufträge an?«
»So ist es«, bestätigte Maggie. »Und zwar unten in deiner Ecke der
Welt. Eine Firma in Moreno Valley namens New Horizons
Industries.«
»O Dreck...«, hauchte Sam.
»Du kennst den Namen?«
Unter anderen Umständen wäre die Überraschung in Maggies Stimme
komisch gewesen. Im Augenblick jedoch war Sam nicht zum Lachen
zumute. »Ich kenne ihn«, stellte sie trocken fest.
»Hrmf«, grunzte Mags. »Dann wird das jetzt wohl nicht die Bombe,
für die ich es gehalten habe. Wahrscheinlich weißt du es
schon.«
»Erzähl es mir trotzdem.«
»Diese New Horizons ist keine unabhängige Gesellschaft, auch wenn
sie sich einige Mühe macht, das vorzugeben.«
Samantha schloß die Augen. Ich habe ein
definitives Gefühl, daß ich weiß, worauf das hinausläuft.
»Und sie gehört?«
»Und sie gehört jemand, von dessen Namen ich weiß, daß du ihn kennst«, erklärte Mags. »Generro
Aerospace.«
Samantha starrte an die Decke. Alle Wege führen zu Generro Aerospace. Langland hatte klar und deutlich erklärt, daß Generro die VGL und die VGL Generro war. Diese Firma war der Angelpunkt, um den sich alles drehte. Simon Warner und Jacques Leclerc - beides VGL-Mitglieder. Der Tod des jungen Jim Dooley. Ihr Instinkt war von Anfang an richtig gewesen, erkannte sie grimmig. Wie lange ist es her, daß ich mir zum erstenmal gesagt habe, die Antworten liegen bei Generro?
Es wurde Zeit, Generro Aerospace einen zweiten
Besuch abzustatten.
Aber wie? Diese Frage hatte sie qualvolle zwölf Stunden lang
beschäftigt, bevor sie eine Antwort fand. Jetzt, während sie in
Grendels Fahrersitz auf dem Seitenstreifen des Highway 60 knapp
westlich von Rubidoux saß, mußte sie kichern. Ich wollte zu subtil vorgehen, das war das Problem.
Manchmal zahlt sich Direktheit aus.
Es war eine Wiederkehr ihres Traums gewesen - die endlosen Korridore bei Generro und anschließend der Jones-Cartage-Lastzug -, die sie auf die richtige Spur gebracht hatte. Mit Hilfe von Maggie Braslins hatte sie Erkundigungen über Jones Cartage, Inc., eingezogen. Da Langland ihr gesagt hatte, daß auch die Transportfirma Teil der Virtual Geographie League war, ging sie grundsätzlich davon aus, daß Generro Aerospace Jones Cartage für alle anfallenden Transportaufgaben einsetzte. Warum das Geld nicht ›in der Familie‹ halten?
Sam wußte nicht - wollte auch nicht wissen -, wie Maggie an die Information gekommen war, aber sie hatte sie beschafft und ihr mitgeteilt, daß Jones Cartage alle zwei Tage Nahrungsmittel und sonstige Vorräte in die Generro-Anlage lieferte.
Von diesem Ansatzpunkt aus hatte Sam sich etwas eingehender über die Lieferpläne und Verfahren bei Jones Cartage umgehört. Es hatte nicht lange gedauert, bis sie wußte, daß die Generro-Lieferung Teil einer genau festgelegten Route war. An jedem der Liefertage fuhr der Laster in derselben Reihenfolge und ungefähr zur selben Zeit dieselben Ziele an. Zum Beispiel tankte er an jedem dieser Morgen auf dem Weg von Los Angeles zur Generro-Anlage an einer Kundenkartentankstelle auf dem Highway 60 zwischen Rubidoux und Riverside ...
Ganz so einfach war es natürlich nicht, mußte Samantha zugeben. Je länger sie darüber nachgedacht hatte, was Langland ihr über die Ausmaße und die damit verbundene Macht der VGL erzählt hatte, von ihrer Drohung ganz zu schweigen, desto größer war ihre Angst geworden. Ich kann nicht glauben, daß sie die Tochter eines ihrer Mitglieder umbringen würden, um sie am Reden zu hindern, hatte sie sich zu beruhigen versucht. Aber mir fallen auch eine Menge Alternativen ein, die nicht zum Tode führen, mir aber deswegen auch nicht besser gefallen. Außerdem ist es nie gut, ein unnötiges Risiko einzugehen.
Also hatte sie ihre Wohnung verlassen. Sie hatte kein Gepäck mitgenommen, nur den ›Notgroschen‹, den sie im Eisschrank versteckt hatte. Falls die VGL hier auftaucht, darf nicht zu erkennen sein, daß ich vorerst nicht zurückkomme. Sie hatte bei WestAir angerufen und aus ›persönlichen Gründen‹ um noch ein paar freie Tage gebeten. (Diesmal war sie sich keineswegs sicher, daß ihr Boß ihr glaubte, und sie hegte ernste Zweifel, daß ihr Job noch auf sie warten würde, wenn all das vorbei war - falls es je vorbei sein wird -, aber sie sah keine andere Möglichkeit.) Dann war sie unter falschem Namen in ein billiges Motel in Riverside gezogen, in dem sie ihre Rechnung im voraus bar bezahlt hatte. Alle Gespräche mit Maggie hatte sie über Münzfernsprecher geführt, und sie hatte ihrer Freundin gegenüber nicht einmal angedeutet, wo sie war. Nicht, daß ich Mags nicht trauen würde, aber es kann nicht schaden, auf Nummer Sicher zu gehen. Außerdem möchte ich nicht, daß sie meinetwegen in die Bredouille gerät.
Und jetzt zahlten sich ihre Planung und ihre Mühen aus. Im Außenspiegel sah sie den weißen Truck herankommen. Sie warf ihre Zigarette auf die Straße herankommen. Sie warf ihre Zigarette auf die Straße Motor des Mustang sprang sofort an. Grendel bebte, als der Lastzug vorbeidonnerte, eine gewaltige weiße Bergwand, die über dem Kabrio aufragte, verziert mit den roten und blauen verschränkten Buchstaben des Jones-Cartage-Logos. Sam ließ die Kupplung kommen, zog den Wagen vom Seitenstreifen auf den Highway und machte sich in zweihundert Yards Entfernung an die Verfolgung. Um diese Zeit, gegen 10 Uhr, war nur leichter Verkehr, und es bestand keine Gefahr, daß sie ihr Gegenüber verlor. Schließlich wußte sie genau, wohin es wollte.
Als sie bis auf eine Meile an die Tankstelle heran war, bremste sie ab und ließ die Distanz zu dem Lastzug wachsen. Als sie auf die Tankstelle fuhr, stand der Jones-Truck bereits an einer der Säulen, und der Fahrer füllte den Tank.
Sam war auf ihren Fahrten schon häufig an Kundenkarten-Dieseltankstellen vorbeigekommen, hatte sie aber nie weiter beachtet. Erst bei den Vorbereitungen für den heutigen Plan hatte sie sich mit ihnen beschäftigt.
Das System war effizient und auf seine Weise fast elegant, mußte sie zugeben. Trucks, und ganz besonders Langstrecken-Lastzüge, schluckten Unmengen von Treibstoff und benötigten Tag und Nacht eine Möglichkeit, aufzutanken. Statt Tankwarte dafür zu bezahlen, rund um die Uhr einen Truck Stop zu bemannen, hatten die Ölgesellschaften deshalb das Kundenkartensystem entwickelt. (Inzwischen gab es sogar erste Versuche, es in den Privatfahrzeugbereich auszudehnen.) Kundenkartentankstellen benötigten kein Personal. Die Trucker fuhren die Säulen an und benutzten ihre Kundenkarten dazu, die Verriegelung der Pumpen zu lösen. Während der Fahrer den Tank füllte, wurde automatisch die gezapfte Menge festgehalten und der entsprechende Preis seinem Konto oder dem seiner Firma in Rechnung gestellt. Manche Kundenkartenanlagen waren reine Zapfstellen: zwei Säuleninseln und die entsprechenden Kartenlesegeräte. Andere waren etwas größer, mit Waschräumen, Umkleideräumen, sogar Duschen. Die Anlage am Highway 60 bei Rubidoux gehörte zur letzteren Kategorie. Ein kleines Betongebäude in sicherer Entfernung von den Pumpanlagen beherbergte, was an Annehmlichkeiten angeboten wurde. Eine ganze Außenwand war von Automaten mit Limonade, Kaffee, Schokoriegeln und ähnlichem bedeckt.
Sam parkte Grendel hart am Rand der Auffahrt, kurz hinter dem Highway, entfaltete eine Karte und tat so, als studiere sie intensiv, während sie aus dem Augenwinkel den Lastwagenfahrer beobachtete. Alles in allem lieferte sie das Bild einer verirrten Touristin. Es war verlorene Liebesmüh: Der Trucker schenkte ihr nicht einmal einen flüchtigen Blick.
Jetzt hatte er das Auftanken beendet und steckte den Zapfstutzen zurück in die Säule. Er machte sich auf den Weg um den Laster, wahrscheinlich zu einer Routineüberprüfung der Reifen, Blinker und sonstigen möglichen Problemstellen. Sobald er außer Sicht war, griff sich Sam die Club-Sperrstange unter dem Sitz, stieg aus und marschierte strammen Schritts auf den Laster zu.
Von nun an mußte sie improvisieren. Sie wußte nur, was sie sich vom Fahrer erhoffte, und darauf hatte sie sich vorbereitet. Aber sie konnte nicht vorhersagen, ob der Mann sich an ihre Erwartungen halten würde. Wenn er auf unvorhergesehene Weise reagierte, mußte sie aus dem Stegreif eine Antwort finden oder die Sache aufgeben und später einen neuen Versuch starten. Als sie den Lastwagen erreicht hatte, ging sie in die Hocke und blickte zwischen den Rädern hindurch. Sie konnte die Beine des Fahrers sehen. Er ging zum Heck des Wagens. Ihr Brustkorb war wie eingeschnürt, der Puls donnerte in ihren Ohren. Was mache ich, wenn er hier herumkommt und wieder in die Kabine steigt? Sie wog den Club prüfend in ihrer Hand.
Nein, sah sie dann mit deutlicher Erleichterung, er kam noch nicht auf die Fahrerseite des Trucks. Nach Beendingung der Sichtinspektion wanderte er in Richtung der Waschräume. Von ihrem Versteck aus beobachtete Sam, wie er auf der Herrentoilette verschwand.
Jetzt rannte sie los, sprintete auf die Tür zu, die der Trucker gerade hinter sich geschlossen hatte. Genau darauf hatte sie gehofft - ein Boxenstopp, um eine lange Tour erträglicher zu machen, dachte sie mit beinahe manischem Vergnügen - und sich vorbereitet. Sie schob das U-förmige Ende des Club über den Schaft des Türknaufs. Dann preßte sie das andere Ende der Stange gegen die Wand, zog die hakenförmige Klammer des Geräts aus und legte sie um ein Regenrohr neben dem Türrahmen. Ihre Hände zitterten so stark, daß sie fast den Schlüssel hätte fallen lassen, als sie die Stange abschloß. Das rote Griffende des Club klemmte fest an der Mauer. Der Fahrer hatte keine Chance, die Tür aufzuziehen, solange die Sperrstange an ihrem Platz war.
Er mußte das Klicken des Stangenschlosses gehört haben. Etwas schlug schwer von innen gegen die Tür. »He, was, zum Teufel...!« schrie der Trucker.
Aber Sam wartete nicht darauf, was er noch zu sagen hatte. Sie rannte zurück zur Fahrerkabine des Lasters, zog die Fahrertür auf, sprang hinein und griff zur Zündung.
»Wer, zum Teufel, bist denn du?«Vor Schreck sprang Sam in die Höhe und schlug
fast mit dem Kopf an die Kabinendecke.
Sie war nicht allein. Der Ersatzfahrer - Lehrling? - war auf dem Beifahrersitz
zusammengesunken und zog sich erst jetzt die Dodgers-Baseballkappe
aus dem Gesicht, unter der er gedöst hatte. Ich bin überhaupt nicht auf den Gedanken gekommen, daß sie
zu zweit sein könnten...
Der zweite Fahrer wurde schnell lebendiger. Sams erster Eindruck
war der einer kleinwüchsigen, hageren Gestalt mit dem Gesicht eines
unterernährten Wiesels. Aber als er sich am Armaturenbrett hochzog,
traten stahlkabeldicke Sehnen auf seinen sonnengebräunten
Unterarmen hervor. Er fixierte sie aus zusammengekniffenen Augen,
und plötzlich roch Sam den bitteren Duft unmittelbar bevorstehender
Gewalt. »Was, zum Teufel, machst du da?«
Einem Instinkt zufolge stieß Sam die Fahrertür auf und wollte
hinausspringen. Aber bevor sie ihr Gewicht weit genug verlagern
konnte, zuckte der linke Arm des Wiesels vor, und er packte sie am
rechten Handgelenk.
Sam schrie auf, als seine Finger sich tief in den Arm gruben.
»Nicht so hastig, Mädchen«, bellte der Trucker.
Wieder reagierte Dooley instinktiv, aber diesmal speiste sich der
Instinkt aus einer anderen Quelle. Das Training auf der
Ju-Jutsu-Matte übernahm die Führung, und ihre Muskeln reagierten,
bevor der Verstand mitbekommen hatte, was geschah. Sam packte in
der Drehung auf dem Fahrersitz mit der Linken den Daumen des
Wiesels und riß ihn mit ganzer Kraft nach hinten. Der Mann keuchte
vor Schmerzen und gab Sams Handgelenk frei. Augenblicklich
verlagerte sie den Griff um seine Hand und übte mit beiden Händen
im Adlergriff Druck aus. Sie verlagerte ihr Körpergewicht in seine
Richtung, hakte den rechten Ellbogen über seine Armbeuge. Ihr
Gegner schrie auf, als sie ihm in einer gnadenlosen Hebelaktion
Ellbogen- und Handgelenk verdrehte.
Ein cleverer Mann hätte aufgegeben, bevor sein Arm unter dem Druck
brach. Das Wiesel war nicht so clever. Noch während er vor
Schmerzen jaulte, warf er sich auf Sam und schleuderte einen wilden
rechten Boxhieb in ihr Gesicht. Sie ließ sich zurückfallen und wich
dem Schlag aus, während sie gleichzeitig den Druck auf Ellbogen und
Handgelenk erhöhte.
Auf der Ju-Jutsu-Matte hätte sie die Bewegung leicht in einen
Hüftwurf umwandeln können, und genau das versuchte sie
unwillkürlich auch jetzt. Sie hatte das Gewicht schon verlagert und
war schon mitten in der Bewegung, als ihr Verstand die Warnglocken
klingen ließ. Zu spät. Sie schrie erschreckt auf, als sie erkannte,
was geschah. Ich bin nicht auf der Matte. Ich
sitze in der Kabine eines Trucks...
Sie verlor das Gleichgewicht und fiel aus der offenen Tür. Sie sah
den Asphalt auf sich zuschießen, während ihr Körper ungerührt die
eintrainierte Bewegungsfolge abspulte. Die Gesetze der Mechanik,
Hebelwirkung und Massenträgheit funktionierten im Flug ebenso
gnadenlos wie am Boden. Die Schwungwirkung ihres stürzenden Körpers
verstärkte die Hebelwirkung noch. Während sie aus der Kabine fiel,
zog sie das Wiesel mit. Sein eingeklemmter Arm diente als Hebel,
der es um Sams Schwerpunkt drehte. Mit einem schockierten Aufschrei
wurde der Trucker von seinem Sitz und mit ins Freie gerissen. Die
Baseballkappe flog davon, und ihr Besitzer drehte sich im Fallen um
seine Gegnerin.
Sam schlug hart auf, aber das Wiesel lag unter ihr, als sie auf den
Boden trafen. Sein Rücken fiel flach auf den Asphalt. Einen
Sekundenbruchteil später rammten Sams Knie in seinen Brustkorb und
Bauch. Die Luft schoß aus seinem Körper, und Sam wurde von einem
Spuckeregen getroffen. Durch ihren Schwung rollte sie beiseite. Der
grobe Belag des Parkplatzes schürfte ihre Haut an Wange und rechtem
Arm ab. Ihr Verstand war durch den Aufprall benommen - die
Fahrerkabine eines Trucks hängt ein beachtliches Stück über dem
Boden -, aber ihre Reflexe waren aufs höchste angespannt, und sie
war augenblicklich wieder auf den Beinen, keuchend vor Anstrengung
und durch den Adrenalinrausch.
Das Wiesel zog die Knie an die Brust und rang mit schwerem,
asthmatischem Keuchen nach Luft. Seine Lippen hatten einen
Blaustich, seine Wangen waren gerötet. Seine Augen waren vor
Schmerz zugekniffen. Er rollte zur Seite und erbrach sich. Sam wich
zurück, bevor der Geruch sie erreichte.
Sie stand nur da und verlagerte unsicher das Gewicht von einem Fuß
auf den anderen. Ich sollte ihm helfen. Ich
sollte etwas tun ...
Aber dann übernahm ihr Verstand die Führung. Er kommt drüber weg. Er ist nur angeschlagen. Sie
zuckte zusammen, als sie sich an die Schmerzen erinnerte, die sie
hatte aushalten müssen, als ein übereifriger Ju-Jutsu-Partner ihr
einmal das Knie in den Solarplexus gerammt hatte. Von so einem Bauchtreffer stirbt man nicht. Man wünscht es
sich nur.
Mit einem letzten Blick auf den sich am Boden krümmenden Beifahrer kletterte sie zurück in die Fahrerkabine und startete den Motor. Sie schüttelte erstaunt den Kopf. Was für ein Morgen, Dooley. Freiheitsberaubung, gefolgt von ein wenig Körperverletzung - und das alles nach dem Einbruch in das Museum, gar nicht zu reden davon, was du bei Generro vorhast. Wie viele Jahre Zuchthaus kommen da wohl zusammen? Nicht zum erstenmal seit dem Tod ihres Großvaters fragte Samantha sich, woher sie ihre scheinbare Begabung hatte, das Gesetz zu brechen. Und sie verzog schmerzhaft das Gesicht, als sie sich vorstellte, ihr Handeln vor Pop-Pop rechtfertigen zu müssen. Aber wenn diese VGL-Sache sich so entwickelte, wie sie es erwartete... Möglicherweise hätte Pop-Pop es dann verstanden.
Was immer. Was geschehen ist, ist geschehen, sagte sie sich und zwang ihre moralischen Bedenken in den Hintergrund. Und nachdem ich mir diese Gelegenheit verschafft habe, sollte ich sie auch nutzen.
Das Getriebe knirschte, als sie den Gang einlegte und den schweren Lastzug in Bewegung setzte.