25

Sterling hat keine Witze gemacht, dachte Sam sarkastisch, als sie langsam von der Simulatorstation - der ›Büchsenfabrik‹, wie die anderen Mechjockeys sie nannten - zurück in ihr Quartier wanderte. Das sind wirklich lange Tage. Zum erstenmal, seit sie nach Solaris City gekommen war, konnte sie die Sonne sehen, eine riesige rote Scheibe, die fast den Horizont berührte. Sie sah auf die Uhr - das neue Digitalmodell, das Meg Richardson ihr geliehen hatte, als sie mitbekam, daß Sams kostbare Fliegeruhr sich nicht auf den sechsundzwanzigeinhalb Stunden dauernden Tag dieses Planeten einstellen ließ. Der plasmaroten Ziffernanzeige nach hatte sie über zehn Stunden in der ›Büchse‹ verbracht. Sie hatte besonders mörderische Szenarien absolviert, unter den unterschiedlichsten Bedingungen und in den verschiedensten Umgebungen gegen einen, zwei und schließlich vier Gegner gekämpft. Ihre Augen waren so müde, daß sie sich anfühlten wie abgeschmirgelt, und um ihre Stirn schien ein mehrere Nummern zu kleines Stahlband zu liegen. Die Muskeln in ihren Beinen und im Rücken beschwerten sich bei jedem Schritt.

Aber sie hatte überlebt, das war die Hauptsache. In allen drei Simulationen hatte sie es - unter genauer Aufsicht der ›Büchsen‹-Techs - geschafft, ihren 85 Tonnen schweren Sasquatch-BattleMech aus dem simulierten Massaker zu retten. Reichlich schwer verwüstet, das schon, setzte sie in Gedanken hinzu, aber immer noch einsatzfähig. Zugegeben, im letzten Szenario - dem Kampf gegen eine vierfache Übermacht - hatte sie nur durch schieres Glück überlebt. Ihr Sasquatch war schwer angeschlagen gewesen und hatte unmittelbar vor der automatischen Stillegung wegen Überhitzung gestanden, so daß der letzte ihrer Gegner, der noch aufrecht stand - ein übles Teil namens Dunkelfalke -, ihr eigentlich hätte den Garaus machen können, aber seine Raketensalve war vorbeigegangen. Bevor er erneut angreifen konnte, hatte sie ihrem Mech ›die Sporen gegeben‹ und ihn mit einem letzten Befreiungsschlag, der den Dunkelfalken verschrottet hatte, in die automatische Stillegung getrieben. Die Raketen hätten treffen müssen, wunderte sie sich. Hat da etwa einer der SimulatorTechs Mitleid gehabt und ein Byte oder zwei der Software manipuliert?

Aber das war nicht wirklich von Bedeutung, nicht wahr? Selbst wenn der Dunkelfalke ihren Sasquatch abgeschossen hätte, wäre es noch immer eine verflucht anständige Leistung ihrerseits gewesen - das mußte sie sich eingestehen -, alle drei ›Flügelmänner‹ des Dunkelfalken auszuschalten (jedenfalls nannte Sam sie für sich so), bevor es sie selbst erwischte. Plötzlich mußte sie lachen, als sie sich an ihre katastrophalen Anfangssitzungen in der Büchse erinnerte, in denen sie schon ihr ganzes Können hatte aufbieten müssen, um den schwerfälligen BattleMech auf seinen Metallfüßen zu halten. Inzwischen hatte sie die Bewegungsmechanik so verinnerlicht, daß ihr ein, zwei unerwartete Manöver gelungen waren, mit denen sie ihre simulierten Gegner völlig überrascht hatte.

Das ist besser, als es in Edwards je war. Der Gedanke überraschte sie. Sie blieb mitten in der Anlage des Saberstalls stehen und untersuchte dieses Gefühl.

Ich bin Teil von etwas, ich werde akzeptiert. Das ungewohnte Gewicht auf der rechten Hüfte drang wieder in ihr Bewußtsein, und sie sah hinab auf das Kunstlederholster an ihrem Gürtel. Ich bin jetzt eine MechKriegerin, dachte sie, und MechKrieger tragen eine Waffe - zumindest im Saberstall. Silver hatte ihr Pistole und Holster am Morgen vor der ersten Simulatormission überreicht. Natürlich hatte der blonde Mechjockey seine Witze darüber gerissen, aber Sam konnte sehen, daß er die Symbolik dieser Geste sehr ernst nahm. Also hatte sie die Waffe aus seinen Händen entgegengenommen und vor seinen Augen umgeschnallt... Und sich dagegen entschieden, ihm zu sagen, daß sie nicht einmal wußte, wie sie diese ihr unbekannte Pistole entsichern sollte.

Ich passe hierher, oder? Ich passe hierher... und es gefällt mir. Die Erkenntnis beunruhigte sie auf einer untergründigen Ebene.

Aber warum sollte mich das beunruhigen? fragte sie sich. Ich bin nun mal hier. Gestrandet, ausgesetzt, wie immer man es nennen will. Warum sollte ich mich nicht anpassen? Und warum sollte ich nicht Gefallen daran finden?

Sie grinste. Auf gewisse Weise ist es alles, was ich mir je erträumt habe. Es ist die Freiheit, von der Mandelbaum geredet hat... die Freiheit, ein einsamer Wolf zu sein, mir selbst etwas aufzubauen, mich der Herausforderung zu stellen, zu überleben...

Das Grinsen verblaßte. Und warum habe ich dann trotzdem das Gefühl, daß mir etwas fehlt? Sie sah hoch zum obersten Stock des Verwaltungsgebäudes. Wie erwartet kam das einzige Licht der gesamten Etage aus dem Fenster, hinter dem sie Tai-sa Mandelbaums Büro vermutete. Sie kniff die Augen zusammen, versuchte, Einzelheiten zu erkennen. War das der Umriß Mandelbaums an seinem Schreibtisch?

»Warum läufst du nicht rauf und kratzt an der Tür, du miese kleine Hündin?«
Überrascht drehte Sam sich um, als sie die harte, verächtliche Stimme in ihrem Rücken hörte.
Es war natürlich Jonas Clay, der Gladiatorenschüler, mit dem sie schon an ihrem ersten Tag im Stall aneinandergeraten war. Er stand vier Meter entfernt, die Fäuste in die Seite gestemmt, und starrte sie mit offenem Abscheu an. Haß? wunderte sich Sam.
»Schlechter Tag, Sammy?« fragte er und legte alles an Verachtung in die Frage, zu dem er fähig war. »Mußt du zu deinem süßen Fremdweltler-Daddy rennen und dich an seiner Schulter ausweinen? O ja, ich bin sicher, du und der Rätselmann, ihr habt viel zu bereden, nicht wahr?«
Einen Augenblick lang starrte Sam ihn nur an - entgeistert, verwirrt. Die Intensität der Feindseligkeit in seiner Stimme, sein ganzes Auftreten - nicht nur ihr gegenüber, sondern auch Mandelbaum, erkannte sie - war... nun, unpassend. Seine Haltung schien allmählich keinerlei Bezug mehr zur Wirklichkeit zu haben. Was, zur Hölle, habe ich dir je getan - hat er dir je getan -, das eine derartige Reaktion verdient hätte? regte sie sich auf.
»Was ist? Hat dir ein Skavel die Zunge abgebissen, Sammy?«
Sam stemmte ebenfalls die Hände in die Seiten, und ihre rechte Hand strich unbeabsichtigt über die Pistole an ihrem Gürtel.
Clays Augen verengten sich, als er zu der Waffe hinunterblickte. »Oh, oh«, rief er in gespieltem Schreck, »oh, wird Sammy mich jetzt erschießen?« Er lachte böse. »Blöde Kuh«, spie er. »Du kommst auch noch dran.« Und damit drehte er sich um und marschierte davon.
Samantha sah ihm nach, bis er in den sich ausbreitenden Schatten verschwunden war. Warum, zum Teufel, hat Jonas Clay es dermaßen auf mich abgesehen - und auf Mandelbaum? wunderte sie sich. Oder ist das einfach seine Art, und er haßt grundsätzlich die ganze Welt? Sie hatte schon Menschen getroffen, auf die das zutraf... Und sich sehr angestrengt, ihnen aus dem Weg zu gehen, als sie erst einmal erkannt hatte, was mit ihnen los war.
»Genießt du den Sonnenuntergang?« Wieder eine Stimme in ihrem Rücken.
Sie drehte sich um - langsamer diesmal - und schenkte Silver ein halbes Lächeln. »Mehr oder weniger«, antwortete sie und entschied sich sofort, ihre Begegnung mit Clay nicht zu erwähnen.
»Du hattest einen guten Tag, hab ich gehört.« Der MechKrieger grinste wie ein Bandit.
»Mehr oder weniger«, wiederholte sie.
Silver schnaubte verächtlich. »Spar dir die falsche Bescheidenheit, okay? Die BüchsenTechs haben mir erzählt, wie die Simulationen gelaufen sind. Ich habe sie noch nie so beeindruckt gesehen. Besonders nach dem letzten Szenario.«
Sam zuckte ein wenig unbehaglich die Schultern. »Ich bin gehörig zerschlagen worden«, stellte sie fest.
Er lachte. »Du kapierst es einfach nicht, was? Du hast verfreckt gewonnen, Dooley. Es war nicht vorgesehen, daß du gewinnst. Dieses Szenario - vier gegen einen? Das ist eine Verlierersituation, okay? Zumindest ist es so gedacht«, korrigierte er hastig. »Die Lektion, die du lernen solltest, war, eine Übermacht zu erkennen und deinen verfreckenkreckten Arsch zu retten, bevor du mit deinem Schlitten zu Schlacke geschossen wirst! Und was machst du?« Er prustete. »Du hast denen den Arsch versohlt, Dooley.« Er röhrte vor Lachen. »Hältst du dich denn nie an die Regeln?«
Unerwartet kehrten ihre Gedanken zur letzten Sitzung im F-16-Simulator in Edwards zurück. Sie zuckte die Achseln und versuchte, ein unbeschwertes Bild zu liefern. »Ich mag Herausforderungen«, stellte sie leichthin fest.
Silver schlug ihr auf die Schulter. »Du hast es drauf, Dooley. Das muß ich sagen.« Er machte eine Pause, und sein Gesichtsausdruck veränderte sich. »Hast du zwei Minuten Zeit?« fragte er. »Ich möchte dir was zeigen.«

Samantha stand im grellen Licht der Hangarscheinwerfer - in einem Hangar, den sie noch nie vorher betreten hatte - und starrte empor. Über ihr ragte ein BattleMech empor, sein polierter Rumpf funkelte in spiegelglattem Silber statt in den manchmal schreienden Bemalungen der übrigen Stallmechs. Das Zeichen einer neuen Einheit, frisch vom Fließband, erkannte sie. Deshalb steht er wohl auch nicht im selben Hangarkomplex wie die anderen BattleMechs. Sie streckte die Hand nach dem gewaltigen Bein aus - zögerte, bevor sie sich überwinden konnte, das kalte Metall zu berühren.

Sie drehte sich zu Silver um, auf dessen Gesicht ein breites Lächeln stand. »Meiner?«
Er nickte. »Ich hab dir gesagt, Ende der Woche trittst du live an«, erinnerte er sie. Er zuckte die Achseln. »Es ist Ende der Woche.«
Sam schüttelte langsam den Kopf. Das war... einfach zu groß, um es zu fassen. Sie strich mit den Fingerspitzen vorsichtig über die glatte Panzerung. »Was...« Ihre Stimme brach. Sie versuchte es erneut. »Was ist es?«
Der Mechjockey lachte. »Natürlich ein SQS-TH001 Sasquatch. VEBAs neuestes und bestes Modell. Warum sonst hätten wir dich in der Büchse auf dem Sasquatch drillen sollen?«
»Und er gehört mir?« wiederholte sie.
»Er gehört dir«, bestätigte Silver. »Die Techs haben ihn bereits nach den Telemetriedaten aus deinen Simulatorsitzungen konfiguriert.« Er lachte väterlich. Dann warf er ihr etwas zu, das unter den Scheinwerfern funkelte.
Sie schnappte den Gegenstand in einer Reflexbewegung aus der Luft und betrachtete ihn. Eine Metallscheibe, etwa von der Größe einer Kennmarke, an einer Kette. Auf einer Seite waren Seriennummern und andere Daten eingraviert. Auf der anderen glitzerte etwas wie ein eingefaßter Edelstein - wahrscheinlich eine Art optischer Datenchip. »Was ist das?«
»Der Codeschlüssel für deinen Mech. Morgen nehm ich dich mit raus in die Wildnis, und du kannst ihn ausfahren. Okay?«
Ein paar Sekunden konnte Sam nur noch den Kopf schütteln. Dann zog sie die Kette des Codeschlüssels über den Kopf und schüttelte das lange Haar frei. Sie lachte laut auf. »Okay? Sterling, das hier ist ein wenig mehr als nur ›okay‹.« Sie wußte, daß ihre Augen im grellen Scheinwerferlicht tanzen mußten. Noch einmal streichelte sie den Mech - mein Mech! Dann drehte sie sich zu ihrem Trainer und Freund um. »Plötzlich bin ich in der Stimmung, zu feiern«, stellte sie fröhlich fest.
Silvers Grinsen wurde noch breiter. »Ich denke, dazu lasse ich mich überreden«, sagte er großzügig.

Sam wälzte sich herum und starrte in plötzlicher Verwirrung in das verwaschene Licht an der Zimmerdecke. Wo, zum Teufel, bin ich...? Dann fühlte sie die Wärme des Körpers neben sich. Die Erinnerung flutete zurück, und sie lächelte. Ach ja, dachte sie behaglich. Die ›Feier‹ ist etwas weiter gegangen, als ich erwartet hatte.

Oder habe ich es von Anfang an darauf angelegt...? Sie seufzte zufrieden. Was machte das schon aus. Zum erstenmal seit langer Zeit fühlte sie sich wirklich gut - im Frieden mit sich und der Welt.

Sterling Silvers Quartier war größer als das ihre nicht anders zu erwarten, nahm sie an, wenn man bedachte, daß er der dienstälteste Mechpilot des Stalls war -, aber Sam fand den zusätzlichen Platz nicht annähernd so attraktiv wie die Tatsache, daß dieses Zimmer ein Fenster besaß. Zugegeben, die Aussicht hätte besser sein können - größtenteils nur auf die kahle Wand eines Mechhangars -, aber wenigstens konnte sie den Himmel sehen. Sie drehte den Kopf und blickte vom Bett aus hinaus. Die Lichter von Solaris City wurden von der ungebrochenen Wolkendecke in einem seltsam rötlichen Schein zurückgeworfen.

Silver hatte nicht nur ein Fenster, es ließ sich sogar öffnen. Was ich für etwas frische Luft in meinem Quartier geben würde, dachte Sam.

Natürlich war es ein zweifelhafter Segen. Im Augenblick war das Acrylglasfenster halb offen und ließ für Sams Geschmack viel zuviel kalte Nachtluft herein. Sie überlegte ein paar Sekunden, dann glitt sie - vorsichtig, um Sterling nicht aufzuwecken - unter der Decke des Betts hervor. Sie tapste nackt durch das Zimmer und schloß leise das Fenster.

Auf dem Weg zurück zum Bett schwang der Mechcodeschlüssel an seiner Kette zwischen ihren Brüsten. Sie blieb stehen und berührte das kleine Stück Metall mit der Fingerspitze. Alles in allem gar kein so schlechter Tag, dachte sie lächelnd. Sie rutschte wieder unter die Decke und preßte ihren Körper an Silvers warme Haut. Der MechKrieger murmelte etwas im Schlaf, streckte blind den Arm aus und legte ihn um Sams Schultern. Zärtlich strich sie ihm eine blonde Strähne aus dem Gesicht. Sie senkte den Kopf auf das Kissen und schloß die Augen.

* * *

Es schien nur Sekunden später, als der Lärm sie aufschreckte, das dumpfe Donnern einer Explosion außerhalb des Gebäudes. Unmittelbar danach ließ eine nähere Detonation das Fenster im Rahmen beben. Sam richtete sich kerzengerade im Bett auf. »Was, zum Teufel, war das?«

Silver brauchte ein paar Sekunden länger. Aber als er reagierte, wälzte er sich augenblicklich aus dem Bett und griff blindlings nach den auf dem Boden verstreuten Kleidern. »Wir werden angegriffen«, krächzte er und zog den Overall über.

»Was?« Sam starrte ihn verständnislos an. »Aber...«
Er hob Sams Overall auf und warf ihn ihr zu. »Anziehen. Mach schon, Dooley!« Eine weitere Explosion unterstrich seine Worte, ein greller, blendender Lichtblitz, einen Sekundenbruchteil später gefolgt von einer Druckwelle, die drohte, das Acrylglasfenster bersten zu lassen.
Ihre Reflexe übernahmen die Führung. Sam sprang aus dem Bett und zog den kalten Stoff des Overalls über die bettwarme Haut. »Wer?« fragte sie, während sie sich anzog.
»Freckenkreck, was weiß denn ich? Ich hab keine Zeit, eine Liste zu machen.« Während er antwortete, schnallte er den Waffengurt um, zog die schwere Pistole aus dem Holster und überprüfte die Munition. »Beeilung!«
»Wart nicht auf mich. Wir sehen uns draußen.«
Silver warf ihr ein Piratengrinsen zu. »Zu den Mechs«, sagte er. Dann rannte er aus dem Zimmer.
Sie brauchte nur zwei Sekunden, um den Overall zu schließen und die Stiefel anzuziehen. Einen Augenblick überlegte sie, ob sie den Gürtel umschnallen sollte. Dann zog sie die Pistole aus dem Holster und schob sie tief in eine der Overalltaschen. Sie stürmte ebenfalls auf den Flur. Die Treppe führte hinunter zum Haupteingang des Gebäudes. Sie war eine schnellere Sprinterin als Sterling und holte den MechKrieger unmittelbar hinter der Tür ein.
In der Anlage herrschte pures Chaos. Die Scheinwerfer, die das Gelände hätten erhellen sollen, waren tot. Harte, grelle Notlichter warfen tiefe, scharfkantige Schatten. Dunkle Gestalten rannten durch das Lager. Sie konnte nicht einmal erkennen, ob es Freunde oder Feinde waren... oder auch nur, ob überhaupt Feinde auf dem Gelände waren. Sie zuckte instinktiv zusammen, als eine erneute Explosion durch die Nacht krachte. Aus der Richtung des GladiatorenTrainingsfelds stieg ein Feuerball in den Himmel. Hinter ihr drängten sich andere MechKrieger aus der Kaserne wie Hornissen aus einem angegriffenen Nest.
Einen Schritt vor ihr packte Silver jemanden, der gerade vorbeilief: »Was, beim Ei, geht hier vor?« schrie der Mechjockey.
Die Gestalt drehte sich um, und Sam erkannte den Sensei, Jared Bloch. »Ein Angriff«, bellte der Hüne.
»Freck, das seh ich selbst! Wer? Nein, wie?«
Blochs Knurren wirkte im harten Licht wie eine erschreckende Grimasse. »Sabotage«, spie er. »Fünf Netze ausgefallen, Sicherheit stillgelegt. Wir liegen hier auf dem Präsentierteller.«
»Mechs?«
»Drei mittelschwere im Anmarsch«, bellte der Sensei. »Nur optische Sichtung.«
Silver nickte und klopfte dem großgewachsenen Soldaten auf die Schulter. Dann drehte er sich um. »Los«, brüllte er über die Schulter den anderen MechKriegern zu. »Saber, aufgesattelt.« Die Mechpiloten rannten zu den BattleMechhangars. Sam zögerte, dann folgte sie ihnen.
Das ergibt keinen Sinn. Der Gedanke ließ sie nicht los. Nicht nur der Angriff - der ergab zwar für sie keinen Sinn, aber offenbar für jemand anderen -, nein, das Ganze. Wie viele einsatzbereite BattleMechs hatte der Saberstall? Mindestens sieben in den Standardhangars, zu denen alle rannten. Und wie viele Mechs griffen sie an? Drei? Was hat Bloch gesagt...?
Sie blieb plötzlich stehen. »Nein!« schrie sie hinter den zu ihren Maschinen stürmenden MechKriegern her. »Nein! Die Mechs müssen auch sabotiert worden sein!«
Nur Silver schien sie zu hören. Er blieb stehen und drehte sich zu ihr um. Im harten Licht der Notscheinwerfer sah sie, wie seine Augen sich weiteten, als er verstand, was sie meinte. »Halt!« rief er den anderen Piloten zu. »Nicht...«
Es war zu spät. Luke Trent war an der Spitze der Truppe, erreichte den nächstgelegenen Mechhangar als erster. Die riesigen Schiebetore waren verschlossen, wie immer während der Nacht. Luke packte die Klinke der kleinen Zugangstür neben dem Tor. Eine Explosion riß ihn von den Füßen und schleuderte seinen zerfetzten Körper wie eine Stoffpuppe davon. Die anderen Mech-Krieger, die nur ein, zwei Schritte hinter ihm gewesen waren, schrien auf, als die Schrapnellsplitter sie trafen.
»O Freck!« schrie Silver. Er rannte wieder los, zwischen den Piloten vorbei. In der Explosion, die Luke getötet hatte, war die Tür aus den Angeln gerissen worden. Silver hastete durch die Türöffnung. Sam folgte ihm ein, zwei Schritte später in das Dunkel des Hangarinneren.
Nur war es nicht dunkel im Hangar, wie es hätte sein sollen. Ein flackernder roter Lichtschein warf tanzende Schatten über Boden und Wände. Sie schlug fast gegen Silver, der jäh wieder stehengeblieben war. »Nein...«, keuchte er.
Sam folgte seinem Blick. Drei riesige Mechs ragten über ihr auf. Ihr gepanzerter Rumpf war unberührt... aber in ihren offenen Cockpits tobte und loderte ein Flammenmeer. Jemand hatte die Cockpits geöffnet und Brandbomben oder das hiesige Gegenstück hineingeworfen.
Silver schien gelähmt. Natürlich, erkannte Sam plötzlich. Natürlich ist er gelähmt. Er ist geschockt. Er wird angegriffen ... und er ist kein MechKrieger mehr! Sie packte ihren Liebhaber an der Schulter. »Die anderen Mechs werden auch sabotiert sein.«
Er drehte sich zu ihr um. Sein Gesicht war selbst im roten Feuerschein bleich. »Ich weiß.« Dann schien sein Blick wieder klar zu werden, und er schob das Kinn vor. »Beim Namen Blakes«, knurrte er. »Sie werden uns nicht ohne einen eibrechenden Kampf bekommen.« Seine Augen fixierten sie. »Hast du deine Waffe?«
Sie nickte stumm. Auch wenn ich nicht weiß, wie ich sie benutzen muß.

Benommen folgte sie Silver ins Freie. »Zur Waffenkammer«, brüllte er die MechKrieger unter seinem Befehl an. »Wir müssen als Schlammstampfer kämpfen.«

Ein gewaltiger Lichtblitz nahm Samantha für einen Augenblick jede Sicht. Dann schleuderte eine Druckwelle sie zu Boden. Geschockt, mit klingelnden Ohren, zwang sie sich zurück auf die Knie.

Mein Gott...! Die Kaserne der MechKrieger war weg, in einer einzigen Explosion in ein Trümmerfeld verwandelt. Während sie noch auf dem Boden kniete, zuckte etwas von links durch ihr Gesichtsfeld - ein Komet auf einem Feuerschweif, der in die Trümmer des Gebäudes schlug und explodierte. Raketen. Sie drehte sich um.

Über einem der flachen Wartungsschuppen der Anlage ragte etwas auf: ein riesiger, kantiger Kopf über metallenen Schultern, eine deutliche Silhouette vor den von der Stadt erhellten Wolken. Das mußte der erste der angreifenden BattleMechs sein. Während sie mit stummem Entsetzen hochsah, zuckten weitere Raketen aus den Lafetten auf den Schultern des Mechs und schlugen klaffende Löcher in die Wände des Hangars rechts von ihr.

Aus der Dunkelheit der Anlage zuckte Mündungsfeuer - das kurze Aufblitzen von Einzelschüssen, die haltbareren Feuerblumen von Automatikwaffen. Kugeln prallten jaulend von der Panzerung des näher kommenden BattleMechs ab - ohne etwas auszurichten.

Der feindliche Mech bahnte sich einen Weg durch das Wartungsgebäude und zertrümmerte es mit seiner schieren Masse wie ein Kind, das eine Sandburg zertrampelt. In der Bewegung hob er den rechten Arm in Richtung der Mündungsfeuer. Flammen schlugen aus der Mündung in Höhe des Handgelenks, eine lange, krachende, hochkalibrige Autokanonensalve peitschte durch die Saber-Verteidiger. Mündungsfeuer antwortete aus der Dunkelheit, aber es hatte deutlich abgenommen.

Und jetzt strömten Gestalten aus der Finsternis heran, im Schatten des BattleMechs. Bodentruppen, erkannte sie, wie motorisierte Infanterie zur Unterstützung der schweren Panzerwaffen in Form der angreifenden Mechs. Verzweifelte, chaotische Feuergefechte brachen überall im Lager aus, als die Verteidiger versuchten, dieser neuen Bedrohung zu begegnen.

Mein Gott, ich stehe hier einfach nur rum! Der Gedanke traf Sam fast wie ein Schlag ins Gesicht. Instinktiv zog sie die Pistole, hielt sie ungeschickt empor. Sie konnte die moderne Waffe zwar nicht benutzen, aber das bloße Gewicht in ihrer Hand stärkte ihre Selbstsicherheit.

Was, zum Teufel, soll ich bloß machen? Hier bin ich schlimmer als nutzlos.
Ich muß etwas tun...
Ihr Mech. Was war mit dem glänzenden neuen Sasquatch, frisch vom Band? Die Angreifer - wer immer sie waren - hatten die Mechs des Stalls sabotiert...
Zumindest die, von denen sie wußten. Aber wie gut waren ihre Informationen? Das war die entscheidende Frage. Wußten sie von dem Sasquatch in seinem Überschußhangar auf der anderen Seite der Anlage? Sam hatte keine Ahnung von seiner Existenz gehabt, bis Silver ihn ihr ›zugeteilt‹ hatte. Aber was hieß das schon? Schließlich war sie die Neue, die Fremdweltlerin.
Wenn ich mich irre, bin ich so tot wie Luke, das Opfer einer versteckten Sprengladung. Sie zuckte zusammen, als ein Feuerstoß hinter ihr in die Metallwand des Hangars schlug. Aber wenn ich nichts tue, bin ich auf jeden Fall tot, nicht wahr? Ob in die Luft geflogen oder erschossen - tot ist tot, oder? Wieder flogen Raketen durch die Nacht. Diesmal schlugen sie in die Betonmauern des Verwaltungsgebäudes ein.
Und sie rannte los, bevor sie Gelegenheit hatte, es sich wieder auszureden. Über das offene Anlagengelände, vorbei an der Trainingsstrecke, auf der. Jared Bloch sie in den ersten Tagen geschunden hatte. Sie hörte Schüsse von allen Seiten, Schreie, Kreischen, das Knattern von Flammen, das Donnern von Explosionen. Eine Kugel peitschte dicht an ihrem Kopf vorbei, dicht genug, um sie den Windstoß fühlen zu lassen, aber sie rannte weiter.
Da war der Überschußhangar. Das riesige Schiebetor war geschlossen. Der Bau schien unbeschädigt. Keine Rakete hatte seine Wände zertrümmert. Sie bremste, kam rutschend an der Seitentür zum Stehen. Sie griff nach der Türklinke, zögerte - was hat Luke gefühlt? Der Gedanke flüsterte durch ihren Hinterkopf. Hat er gewußt, daß er stirbt? Sie packte zu, drückte sie nach unten.
Nichts, keine Explosion, kein tödlicher Schmerz, gefolgt vom Vergessen. Das Schloß öffnete sich. Sam stieß zischend die Luft zwischen den Zähnen aus, den Atem, den sie angehalten hatte, ohne sich dessen bewußt zu werden. Sie riß die Tür auf und hetzte in den dunklen Hangar.
Da stand der Sasquatch - ihr Sasquatch - eine kantige Form aus schwarzen Umrissen vor einem kaum weniger schwarzen Hintergrund. Keine Flammen loderten aus dem offenen Cockpit. Vielleicht, dachte sie. Vielleicht tatsächlich.
Sie rannte die Treppe zu dem Gerüst hoch, das den Mech teilweise einschloß. Ihre Stiefel knallten auf den Metallstufen. Das Geräusch hallte erschreckend laut durch den Hangar.
Ihre Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit. Aus verschwommenen Formen schälten sich erste Details. Auf dem Gerüstgeländer rechts von sich sah sie die Kontrolltafel für das Hallentor. Ohne anzuhalten, hämmerte sie die Faust auf den AUFSchalter. Das schrille Singen eines Elektromotors füllte die riesige Halle.
Das Kanzeldach des Sasquatch stand auf, ein klaffendes Loch im kantigen Kopf des BattleMechs. Der schmale Laufsteg des Gerüsts schob sich durch das komplexe Muster von Antennen und Sensoren hindurch, die aus dem metallenen Schädel des Metallkolosses ragten. Ohne zu zögern, sprintete Samantha den Steg hinauf und sprang ins wartende Cockpit. Als sie den Sitz erreichte, hob sie den Arm und schlug auf den ElNZIEHEN-Knopf an der Unterseite des Laufstegs.
Sensoren in der Pilotenkanzel bemerkten ihre Anwesenheit, und Hinweislichter tanzten über die komplexen Konsolen. In ihrem Schein sah sie den Schlitz für den Codeschlüssel, den Silver ihr gegeben hatte. Sie öffnete den Reißverschluß des Overalls und zog das kleine Stück Metall zwischen ihren Brüsten hervor, hob die Kette über den Köpf.
Dann zögerte sie, als ihr klarwurde, was sie vorhatte. Mein Gott, das ist real. Ein echter Mech, scharfe Waffen. Jetzt wird sich zeigen, ob ich wirklich so gut bin, wie mir alle sagen.
Sie rammte den Codeschlüssel in den Schlitz und sah neue Lämpchen auf den Konsolen aufleuchten. Unter den Füßen und der Pilotencouch fühlte sie ein kräftiges Vibrieren - etwas, das die Simulatorkonstrukteure sich nicht die Mühe gemacht hatten nachzubilden, stellte sie fest -, als der Fusionsreaktor des BattleMechs hochfuhr. Sie hob den Neurohelm auf, der auf einer der Konsolen lag - sie stellte fest, daß es derselbe Helm war, den sie im Simulator getragen hatte -, und zog ihn über den Kopf. Sie fühlte das kalte Metall der Induktanzelektroden auf der rasierten Kopfhaut ihrer Schläfen. Mit Leichtigkeit absolvierte sie die Sicherheitsabfragen, wie sie es von den SimulatorTechs gelernt hatte. Sie fühlte mehr, wie die Systeme des Mechs um sie herum zum Leben erwachten, als daß sie es hörte. Ihre Blicke überflogen die Datenanzeigen in geübtem Muster: verfügbare Energie 100 Prozent, Wärmetauschereffizienz nominal, Gyroskopgeschwindigkeit okay, Akkumulatoren in den Mechlasern und dem wuchtigen Gaussgeschütz, das den rechten Arm der Maschine einnahm, wurden aufgeladen.
Das riesige Schiebetor vor ihr war jetzt fast offen. Sie fühlte den BattleMech beinahe ungeduldig erzittern, als ihr Gehirn erste vorläufige Gleichgewichtsdaten an den Kreiselstabilisator im Herzen der Kampfmaschine sandte.
Was ist das...? Eine dunkle Gestalt huschte durch das offene Tor in den Hangar. Reflexartig schaltete sie den Sichtschirm des Sasquatch auf Infrarot, und ein computerbearbeitetes Bild der Umgebung erschien auf der Sichtprojektion.
Ja, es war eine Gestalt... ein schweres Gewehr feuerbereit in den Händen. Der Mann sah zu ihr auf, ein hartes Grinsen auf dem Gesicht.
Jonas Clay, erkannte sie. Ein eiskalter Windzug schien ihren Nacken herabzuwehen. Bloch hat gesagt, die Sicherheitsvorkehrungen wurden sabotiert, erinnerte sie sich. Das heißt, es muß jemand hier im Lager gewesen sein. Und hat Clay mir nicht gedroht, daß ich ›auch noch drankomme‹...? Hat er das gemeint, diesen Angriff?
Clay war zur Seite getreten, weg vom Tor... fort aus dem durch das Gerüst eingeengten IR-Sichtfeld des Sasquatch. Sam kniff die Augen zusammen und stierte durch die offene Seite des Cockpits zu ihm hinab.
O mein Gott, offene Seite... Sie hatte das Kanzeldach des Mechs nicht geschlossen, hatte das Cockpit noch nicht versiegelt. Falls Clay hinter dem Angriff steckte - falls er die einzige einsatzfähige MechKriegerin ausschalten wollte, die der Stall noch besaß -, genügte ein einziger Schuß seines Gewehrs. Sie umklammerte panisch die Kontrollen ihres Mechs, bereit, die im Torso montierten Maschinengewehre des Sasquatch zu wenden und ihn niederzumähen. Aber sie wußte dabei nur zu gut, daß der Gladiatorenschüler mehr als genug Zeit haben würde, sein Gewehr hochzureißen und zu feuern, bevor ihre Waffen ihn erfaßt hatten. Ihre Glieder spannten sich - als ob das eine Kugel oder einen Laserstrahl stoppen könnte, dachte sie.
Aber Clay hob das Gewehr nicht an die Schulter. Statt dessen wurde sein wildes Grinsen noch breiter. »Los, Sammy«, schrie er zu ihr hoch. »Tritt ihnen in den verfreckten Arsch!« Dann drehte er um und rannte, aus der Hüfte feuernd, zurück hinaus in die Anlage.