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Samantha fuhr langsam durch die engen Straßen von Venice, Kalifornien. Ihre Augen waren von zwölf Stunden Fahrt wund und trocken, und die Lichtkegel der Straßenlaternen hatten eine Tendenz, vor ihren Augen zu verschwimmen, sobald ihre Konzentration auch nur ein wenig nachließ. Glücklicherweise waren die Straßen verlassen. Selbst Venice klappt irgendwann die Bürgersteige hoch, erinnerte sie sich. Das gedämpfte Grollen von Grendels Motor hallte von den Hauswänden wider, als sie auf die 25th Avenue und von dort in eine Seitengasse bog. Sie hielt hinter dem schäbigen Mietshaus an, schaltete den Motor ab und sicherte das Lenkrad mit der Sperrstange Marke The Club, die sie unter dem Sitz aufbewahrte. Mit einem unterdrückten Gähnen zog sie die schwere Tasche unter dem Rücksitz des Kabrios vor und schloß die Hintertür des Gebäudes auf.

Apartment D lag im ersten Stock nach hinten raus. Sams Beine waren schwer wie Blei, und ein stechender Schmerz bohrte sich in ihr Kreuz, als sie die Treppe hinaufstieg. Sie schloß die Wohnungstür auf, trat ein und schlug sie zu. Die Tasche warf sie im Flur auf den Boden, während sie nach dem Lichtschalter suchte. Dann schleppte sie sich über den Hartholzfußboden und ließ sich in den großen, schwarzbespannten Papasansessel fallen, der eine Ecke des Wohnzimmers beherrschte. Sie streifte die Schuhe ab und streckte genußvoll die Beine aus. Ohne sich umzudrehen, griff sie nach hinten an die Stereoanlage auf dem Regal hinter sich, schaltete den Verstärker ein und drückte PLAY am CD-Spieler. Sie schloß die Augen, als die leichten Jazzklänge von Spyrogyra durch das Zimmer schwangen.

Ich bin geschafft, dachte sie. Ausgebrannt, ausgelaugt, erschöpft, leer - körperlich, geistig und emotional. Es war wieder eine Horrorfahrt gewesen. Diesmal war sie auf der Interstate 5 außerhalb von Sacramento in die Schlußphase der Rush-hour geraten. Mit etwas Überlegung hätte sie die Stadt umgehen können, vielleicht über die Verbindungsstraße runter nach Davis und dann über die trostlosen Highways, bis sie irgendwo bei Thornton wieder auf die 1-5 getroffen wäre. Aber nein, sie hatte sich treiben lassen - Auto und Hirn auf Cruise Control, dachte sie sarkastisch - und hatte erst bemerkt, daß es Probleme gab, als sie keine Möglichkeit mehr hatte, auszuweichen. Es war drückend heiß gewesen, und sie hatte auf einem Highway gestanden, der aussah wie ein einziger großer Parkplatz. Wenn sie die Augen schloß, sah sie noch die Schlange vor sich, die sich vor ihr bis zum Horizont erstreckte und in der Ferne in der Hitze zu tanzen schien wie eine Halluzination.

Sie rieb sich müde das Gesicht und riß die Hand schnell weg, als die Berührung stechende Schmerzen auf der Nase auslöste. Dreck, dachte sie wütend, ich hab mir die Nase verbrannt. Diesmal hatte sie den

Sonnenschutzfaktor 25 noch großzügiger aufgetragen als üblich, aber es war trotzdem zuwenig gewesen. Ich lerne es ja wohl auch nie. Je besser die Sonnenbrille - je mehr UV-Strahlen sie reflektiert - desto mehr Schutz braucht die Nase. Natürlich war es PopPop gewesen, der sie darauf hingewiesen hatte. ›Was glaubst du, wohin das UV-Licht reflektiert wird, Samantha Rose? Das ist, als würdest du deine Nase in einen Backofen stecken. ‹

Sam lachte leise und griff hinter sich, um die Lautstärke aufzudrehen, wenn auch nicht zu weit. Der Altbau zeichnete sich nicht durch die beste Schallisolierung aus, und selbst die MöchtegernLebenskünstler in den anderen Wohnungen wollten wahrscheinlich schlafen. Sie lächelte, als die Band ›Rasul‹ anstimmte. Die leichten, lyrischen Klänge aus Jay Becksteins Saxophon schienen ihren Streß abzusaugen. Sie atmete tief ein, füllte ihre Lunge, so weit es ging, hielt die Luft an - hielt sie an - ließ sie dann mit einem Seufzer entweichen. Schon viel besser. Es würde zwar noch eine ganze Weile dauern, bis sie schlafen konnte, aber wenigstens ging die schmerzhafte Verspannung ihrer Schultern allmählich zurück.

Immer noch mit geschlossenen Augen zog sie eine Zigarettenschachtel aus der Tasche, holte eine heraus und zündete sie mit einem Bic an, das sie in Red Bluff in einem Gemischtwarenladen gekauft hatte. Sie sog den Rauch in die Lunge und blies ihn in einem dünnen Faden zur Decke.

Was für eine Woche. Einen Großvater verloren, ein Laster wiedergewonnen...
Sie hatte die Ereignisse der letzten Tage auf der Fahrt zurück nach Südkalifornien einige Male Revue passieren lassen: der Einbrecher, die Verfolgungsjagd, Officer Belmonts selektive Blindheit, der nichtexistente grüne Kombi, das Fehlen des Erinnerungsbuchs, die unziemliche Hast des Abtransports seiner Souvenirs ins Museum of Flight. Irgendwas geht hier vor, stellte sie wohl zum hundertsten Mal fest. Irgendwas übersehe ich. Die Frage war natürlich: Was? Sie war überzeugt, daß sich hinter diesen Geschehnissen ein Muster verbarg. Jedes einzelne dieser seltsamen Ereignisse war für sich genommen unbedeutend, beinahe vernachlässigbar, sofern man es als isolierte Anomalität betrachtete, aber korrekt zusammengesetzt ergaben sie die Lösung eines Rätsels. Falls ich nicht so zerschlagen bin, daß mein Verstand mir etwas vorgaukelt.
Sie nahm noch einen Zug von der Zigarette und drückte sie dann in der Erde des Gummibaums neben dem Sessel aus. Wenn ich vorhabe, damit weiterzumachen, sollte ich besser ein paar Aschenbecher anschaffen. Sie unterdrückte ein Gähnen, hebelte sich mühsam aus den bequemen Polstern des Papasansessels und schlurfte ins Bett.
Der Morgen kam viel zu früh. Sam hatte die Vorhänge zugezogen, um das Sonnenlicht abzuhalten, aber gegen den Lärm des Strands und der Promenade in gerade mal einem halben Block Entfernung konnten sie nichts ausrichten: Hundegebell, laute Gespräche und Musik aller Art, von Folk bis Rap, aus zahllosen Kofferradios. Ihre gewöhnliche Morgenroutine bestand aus einem Spaziergang zum Sidewalk Cafe auf einen Kaffee und ein Croissant, aber heute morgen war ihr das bereits zuviel. Selbst um halb acht hätte sie das mit zu vielen Menschen in Kontakt gebracht - von denen einige versuchen würden, ein Gespräch anzufangen, und dem war sie im Augenblick nicht gewachsen. Ich werde noch den ganzen Tag über höflich sein müssen, erinnerte sie sich. Warum jetzt schon damit anfangen ... Sie goß sich eine einzelne Tasse Kaffee auf, zu heiß und zu stark, genau das richtige, um ihren Körper auf Trab zu bringen, und schüttete ihn hinunter. Dreißig Minuten nach dem Aufstehen zog sie Grendel wieder auf die Straße und fuhr nach Norden zum Santa Monica Municipal Airport.
WestAir Helicopter Sightseeing war in einem kleinen, umzäunten Bereich am Rande des Flughafens angesiedelt, den Sam das ›Lager‹ nannte. Das Büro der Firma befand sich in einem Campinganhänger, der schon bessere Zeiten gesehen hatte - auf Steine gestellt, die Räder abmontiert, der einzige Zugang ein paar zerbrechlich wirkende Holzstufen, die abblätternde Farbe von der kalifornischen Sonne gebleicht. Der kleine Hangar, in dem die Hubschrauber untergebracht waren, bot einen bemerkenswerten Kontrast, denn er war gut gepflegt und glänzend sauber. Gelegentlich fand Sam es auf eine beunruhigende Art amüsant, daß die Hardware so viel besser behandelt wurde als die ›Wetware‹ - die Menschen, die für WestAir arbeiteten - aber auf eine verquere Art und Weise ergab es einen Sinn. Die Helikopter produzierten Umsatz und Profit. Die Büromannschaft, vom Besitzer bis hinunter zu Becky, der Rezeptionistin, war ein Kostenfaktor.
Sam fuhr durch das offene Tor und parkte Grendel an der üblichen Stelle neben dem Hangar. Als sie aus dem Wagen stieg, sah sie jemand kommen, einen kleinen, stämmigen Mann in ölverschmutztem Overall, hier und da mit Stoffflicken ausgebessert, die kaum weniger fadenscheinig waren als der Rest der Montur. Wie er so über den Asphalt näher kam - selbst so früh am Morgen war es heiß genug, daß die Luft flimmerte - schien er beinahe quadratisch. Sein Gesicht hätte von einem ungeschickten Bildhauer aus einem Felsen gemeißelt sein können, eine Ansammlung sich überschneidender Schrägen und Bruchlinien, die erst noch zum Bild eines menschlichen Gesichts poliert werden mußten. Sein Haar war so kurz geschoren, daß es ihr bis jetzt nicht gelungen war, seine Farbe herauszufinden. Seine Haut war bleich. In all den Jahren, die sie diesen Mann schon kannte, hatte sie ihn noch nie braun werden sehen; andererseits schien er auch immun gegen Sonnenbrand, obwohl er einen Großteil seiner Zeit draußen verbrachte.
»He, Joe!« rief sie ihn an.
Der Mann, dem sie den Spitznamen ›Joe Mountain‹ gegeben hatte, winkte. Sein kantiges Gesicht teilte sich zu einem breiten Grinsen, und die kleinen Augen verschwanden fast in einem Netz tiefer Falten. »He, Sam«, rief er zurück, mit einer Stimme, die überraschend leise für jemanden war, der wirkte, als könne er einen Bulldozer auf die Matte zwingen. »Schön, daß du wieder da bist.« Er nahm ihre ausgestreckte Hand, und sein Griff war so sanft, daß man ihn beinahe hätte zart nennen können. »Gertrude hat dich vermißt.«
›Gertrude‹ war Sams Name für das Prunkstück unter den Hubschraubern der Firma, einen auf Hochglanz polierten Bell Jet Ranger. »Wie geht's dem alten Mädchen? Und wie macht sich mein Ersatz?«
Joes Miene verzerrte sich zu einem Ausdruck, der Sam angst gemacht hätte, wenn sie den muskelbepackten Mechaniker nicht besser gekannt hätte. »Nenn ihn nicht so, Sam. Du weißt, für dich gibt es keinen Ersatz.«
»Probleme?«
Joe stöhnte. »Ach, eigentlich nicht, schätze ich«, murrte er. »Er ist annehmbar, aber er hat deinen Touch nicht. Weiß nicht, wie man eine Lady behandeln muß.« Seine dicken Lippen verzogen sich zu einem Grinsen. »Wenn du mich fragst, glaubt er immer noch, über dem Mekong Gewehrfeuer ausweichen zu müssen, so wie er Gertrude durch die Gegend reißt. Vor zwei Tagen hatte eine kleine alte Japanerin eine Bilgenlosung. Hat mich zwei Stunden gekostet sauberzumachen.«
Sam lachte. ›Bilgenlosung‹ war eine Umschreibung für Erbrechen, die potentielle Kunden nicht gleich abschreckte, wenn sie zufällig ein Gespräch mitbekamen. »Traurig, Joe«, stimmte sie zu. »Aber dafür bekommst du auch das dicke Geld.«
Er lachte einmal kurz und scharf auf. »Das ist wahr.« Er verstummte, und seine Augen funkelten. »Na, gut, dich wieder in God's Country zu haben. Wie war's im Norden?«
Jetzt war es an Sam zu verstummen. Üblicherweise hätte sie Joes Frage mit einem witzigen Kommentar beantwortet, der keinerlei persönliche Informationen preisgab. Aber heute...
Sie zuckte ein wenig unbehaglich die Schultern. »Mein Großvater ist gestorben, Joe«, sagte sie leise. »Ich mußte... mußte tun, was nötig war.«
Er runzelte die Stirn und drückte ihre Hand. »Das ist hart, Sam, echt hart. Es ist immer hart, wenn man jemanden aus der Familie verliert. Ist alles unter Dach und Fach, oder zerren dir die Geier von Rechtsverdrehern noch am Fleisch?«
»Ein paar schon«, gab sie zu. »Ein paar.« Sie trieb ihre Sorgen so weit von sich, wie sie konnte, und klopfte dem Mechaniker auf die Schulter. »Na, komm«, sagte sie. »Gehen wir nachsehen, was für heute auf der Absturzliste steht.« Zusammen schlenderten sie zum Bürowagen.

Es wurde ein langer Tag. Er wäre zur Tortur geworden, hätte Sam es nicht so genossen, wieder hinter Gertrudes Knüppel zu sitzen. Vier Flüge: drei kurze einstündige Ausflüge die Küste hinauf und hinunter, dann ein längerer, dreieinhalb Stunden dauernder ›Spezialflug‹ nach Avalon auf Santa Catalina Island. Als sie ihr Pensum für den Tag absolviert hatte, schienen sich die Bügel ihrer Ray-Ban-Fliegerbrille durch den Schädel geradewegs in ihren Hirnkasten zu bohren.

Die Sonne war ein aufgedunsener roter Feuerball, der langsam im Ozean versank, als sie Grendel hinter dem Haus abstellte. Nach einem langen Tag schlenderte sie häufig noch zum Sidewalk Cafe auf der Strandpromenade und trank zur Entspannung ein Bier, während sie das abendliche Treiben beobachtete. Aber nicht heute abend. Vielleicht war es eine Reaktion auf die Zeit in Gold Beach - die gesamte Bevölkerung des kleinen Orts in Oregon schien aus weniger Menschen zu bestehen, als in der Nähe ihrer Wohnung den Strand besuchten - jedenfalls hatte sie an diesem Abend nicht das Bedürfnis, in die Menge zu tauchen. Anscheinend hatten die vier Touristengrüppchen an Bord von Gertrude ihren gesamten Vorrat an kommunikativen Fähigkeiten aufgebraucht.

Außerdem, erinnerte sie sich, habe ich einiges zu überdenken.
Sie verriegelte die Wohnungstür und ließ sich tief in den Papasansessel sinken. Einen Augenblick lang überlegte sie, ob sie Musik anstellen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Sie steckte sich eine Zigarette an, schloß die Augen und genoß das Gefühl des Rauchs in der Lunge.
Den ganzen Tag über hatte sie sich die verwirrenden Ereignisse der vergangenen Woche durch den Kopf gehen lassen. (Einer der Vorteile, wenn man einen Hubschrauber fliegt, sinnierte sie. Der Motorenlärm ist so laut, daß nur die wenigsten Passagiere versuchen, ein Gespräch anzufangen. Viel Zeit zum Nachdenken.) Der Schlüssel bei der Lösung ihres Rätsels, entschied sie, bestand darin, alle Fragen, Fakten und Annahmen im Auge zu behalten.
Nach ein paar Minuten löste sie sich aus dem Kokon des Sessels und ging zu ihrem kleinen Schreibtisch in einer Ecke des Zimmers. Sie stöberte in den Schubladen, bis sie einen Stapel Karteikarten und einen Stift gefunden hatte. Zurück im Papasan, lutschte sie am Griffende des Stifts, während sie ihre Gedanken ordnete. Dann begann sie. Jedes seltsame Geschehen, alles Ungewöhnliche, jede Frage, im Grunde jeder Gedanke, der ihr im Zusammenhang mit den Ereignissen um Pop-Pops letzte Tage in den Sinn kam, erhielt eine eigene Karte. Auf halbem Weg fragte sie sich plötzlich, ob es sinnvoller gewesen wäre, verschiedenfarbige Karten zu benutzen, um zwischen Fakten - wie dem Einbrecher - und Fragen und Vermutungen zu unterscheiden - wie zum Beispiel dem Verschwinden von Pop-Pops Memoiren. Sie schüttelte enttäuscht den Kopf. Wozu die Mühe? fragte sie sich sarkastisch. So eine Masse von Fakten habe ich nun auch nicht...
Als sie fertig war, kehrte sie zurück an den Schreibtisch. Ein Teil der Wand dahinter war von einem Korkbrett bedeckt, dem Ergebnis eines alten, halbherzigen Versuchs, die ›Verwaltungsaspekte‹ ihres Lebens, Rechnungen und dergleichen, in Ordnung zu bringen. Sie hatte ihre grandiosen Pläne, ihr Leben effizienter zu gestalten, jedoch nie wirklich durchgezogen. Gelegentlich pinnte sie eine Telefonrechnung oder einen Strafzettel an das Brett, als Zahlungserinnerung, aber ganz gleich, ob die Rechnung in voller Sicht an der Wand hing oder irgendwo in den Schubladen versteckt war, an der Wahrscheinlichkeit, daß Sam sie vergaß, änderte sich nichts. (Manche von uns haben einfach von Natur aus Bedarf für eine Sekretärin, dachte sie grinsend.)
Jetzt leerte sie die Pinnwand - eine längst überholte Erinnerung, die KFZ-Versicherung zu erneuern, und zwei Bilder, die sie aus Reisezeitschriften ausgeschnitten hatte - und brachte die frisch beschrifteten Karteikarten an. Sie unternahm keinerlei Versuch, sie zu sortieren, sondern pinnte sie einfach nur an die Wand, um sie alle im Blick zu haben. Dann trat sie einen Schritt zurück und betrachtete das Ergebnis ihrer Arbeit.
Okay, dachte sie. Sehen wir mal, was wir da haben. Sie trat wieder an das Brett und steckte die Karten um. Der Einbrecher und die Weigerung des Polizisten zuzugeben, daß er den Fluchtwagen gesehen hatte - da muß es eine Verbindung geben. So. Was ist mit dem verschwundenen Buch?
Nein, entschied sie, da war keine direkte Verbindung zu erkennen. Sie hatte den Einbrecher aufgeschreckt, bevor er die Gelegenheit gehabt haben konnte, die Memoiren zu finden und mit ihnen zu fliehen. Es sei denn, das Buch befand sich gar nicht im Obergeschoß, fügte sie hinzu, und er hatte es bereits eingepackt, bevor er hochgekommen war.
Oder vielleicht war dies ja auch nicht sein erster Besuch im Haus ihres Großvaters gewesen. In dem Fall stellte sich allerdings die Frage, was, zum Teufel, er ein zweites Mal am Ort seines Verbrechens wollte. Worauf hätte er es noch abgesehen haben können? Vielleicht auf Pop-Pops Erinnerungsstücke? Oder nur auf einen Teil davon? Das seltsame fotorealistische Bild der unirdischen Landschaft drängte sich unaufgefordert vor ihr inneres Auge. Wieso denke ich daran gerade jetzt? fragte sie sich. Könnte das irgendeine Bedeutung haben, die mir noch entgeht?
Sie schrieb eine neue Karte, plazierte sie aber zunächst abseits von den anderen. Darüber weiß ich einfach noch zu wenig.
Gab es irgendeine Verbindung zwischen den seltsamen Ereignissen und dem scheinbar endlosen Strom von Besuchern bei Pop-Pop in dessen letzten Tagen? Sie hatte schon früher den Gedanken gehabt, einer von ihnen hätte die Memoiren entwendet haben können. Aber warum? Das größte Rätsel hier war das Motiv.
Ach, zum Teufel damit. Sie seufzte. Es war schön und gut, das Rätsel alleine lösen zu wollen, aber im Grunde drehten sich ihre Räder hier doch im Leerlauf. Sie brauchte jemanden, mit dem sie diskutieren konnte - jemanden, der Jim Dooley, Sr., ebenso gut kannte wie sie, wenn nicht besser. Sie zog die Brieftasche vor und holte das Stück Papier heraus, das Simon Warner ihr im Wartezimmer des Bestatters gegeben hatte. Die Tinte war etwas verschmiert, die Telefonnummer aber noch lesbar. Vorwahl 303 - das ist Denver, oder? Sie setzte sich wieder in den Papasan, griff sich das Telefon vom Beistelltisch und wählte.
Ein paar Sekunden lang lauschte sie den leisen Geisterstimmen in der Leitung, dann klingelte es. Sie hörte ein scharfes Knacken, dann die verhaßteste aller Botschaften: »Die von Ihnen gewählte Nummer ist außer Betrieb. Bitte überprüfen Sie die Nummer, und wählen Sie noch einmal. Dies ist eine Botschaft von Telefonzentrale 3-0.«
Leise fluchend hängte sie auf und wählte die Nummer sorgfältig noch einmal. Sie lauschte auf das elektronische Schnarren des Signaltons, dann: »Die von Ihnen gewählte Nummer...«
»Damn!« Sie sah sich den Zettel genau an. Verschmiert oder nicht, Warners Schreibweise war präzise und eindeutig: ohne mögliche Fehlerquellen wie einer Eins, die auch eine Sieben sein konnte, oder einer Vier, die auch als Neun auslegbar war. Sie wählte die Nummer ein drittes Mal und vergewisserte sich bei jeder Ziffer, daß sie keinen Fehler gemacht hatte. »Die von Ihnen gewählte Nummer ist außer Betrieb. Bitte überprüfen...«
Vielleicht war Warner umgezogen. Sie starrte einen Augenblick lang in die Ferne, dann wählte sie eine andere Nummer.
»Auskunft. Welche Stadt, bitte?«
»Denver, schätze ich.«
»In Ordnung.«
»Ich hätte gerne die neue Nummer von Warner, Simon Warner.«
»Sorry«, meinte die Auskunft nach einer kurzen Pause. »Ich habe keinen neuen Eintrag für diesen Namen.«
Sam starrte stirnrunzelnd auf den Fetzen Papier. »Dann geben Sie mir die jetzige Nummer.«
»Sorry, ich habe überhaupt keinen Eintrag unter Simon Warner.«
»Dann versuchen Sie ›Sid‹.«
»Sorry, kein Eintrag unter Sid Warner.«
»Vielleicht nur der Anfangsbuchstabe?«
»Ich habe zwölf Nummern für ›S. Warner‹. Haben Sie eine Adresse?«
»Nein.« Sam knirschte mit den Zähnen. »Okay, danke.« Sie hängte auf.
Damn! dachte sie und sackte zurück in den Sessel. Irgendwas stimmt hier nicht. Kein Eintrag für Sid Warner, und die Nummer, die er ihr gegeben hatte, war außer Betrieb. Es war denkbar, daß er eine Geheimnummer besaß und sie falsch aufgeschrieben hatte. Oder vielleicht hat er die Telefonrechnung nicht bezahlt, dachte sie sarkastisch. Aber wäre das nicht ein etwas zu großer Zufall gewesen, nach allem, was in letzter Zeit passiert war? Wenn man diese Möglichkeit demnach ausschloß, blieb nur noch eine Erklärung...

Er hat mir eine falsche Nummer gegeben, um mich loszuwerden.
Dreck!

Nach einer Weile griff sie wieder nach dem Telefon. Sie wählte eine Nummer in Oregon.
Maggie Braslins meldete sich nach dem zweiten Klingeln.
»He, Mags.«
»Sam?« Sam grinste, als sie Maggies kehliges Lachen hörte. »Kriegst nicht genug von mir, was? Wie war die Rückkehr in das, was sich lächerlicherweise das ›wahre Leben‹ nennt?«
»Nicht schlimmer als erwartet.« Sam zögerte. »Mags, ich brauche deine Hilfe.«
»Klar«, meinte ihre Freundin sofort. »Raus damit.«
»Was weißt du über Sid Warner?«
»Der Typ bei Jims Beerdigung?« Maggie dachte einen Augenblick nach. »Den Namen kenne ich. Gehört zur alten Testpilotenbruderschaft, oder?« Sie zögerte wieder. »Aber das weißt du wahrscheinlich schon?«
»Ich bin auf der Suche nach etwas weitergehenden Informationen«, gab Sam zu.
»Hmmm.« Sam konnte sich vorstellen, wie ihre Freundin grinste. »Hintergrund, ja? Worauf genau hast du es abgesehen?«
Sam zuckte die Schultern, auch wenn Maggie das nicht sehen konnte. »Erst einmal, wo er wohnt. Was er so treibt. Ich weiß nicht, alles, was von Interesse sein könnte.«
»Ich verstehe.« Maggie verstummte. »Du möchtest, daß ich Simon Warner durchleuchte, ist es das?«
»Das trifft es so ziemlich, Mags.«
»Ich verstehe«, antwortete Maggie wieder. »Könntest du mir sagen, wozu? Worum sich das Ganze dreht?« Ihr Tonfall verlagerte sich etwas. »Glaubst du, Warner hat was mit der Cop-Sache zu tun?«
»Ich weiß nicht, Mags. Kann sein, aber... Ich weiß es einfach nicht.«
»Hmm«, brummte Maggie nachdenklich. Aber dann: »Okay, Sam, weil du es bist. Ich mach's. Noch was?«
Jetzt war es an Sam, zu zögern. »Ja«, erklärte sie schließlich. »Da wären noch ein paar Leute, über deren Hintergrund ich auch gerne etwas wüßte.«
»Die gleiche Art Informationen? Derzeitiger Aufenthaltsort, Aktivitäten, Auffälligkeiten?«
»Ganz genau, Mags«, bestätigte Samantha. »Hast du einen Stift?« Sam ging im Geiste die Liste der Personen durch, die Jim Dooley in der letzten Woche seines Lebens besucht hatten.
Als sie fertig war, dauerte es eine Weile, bis Mags wieder etwas sagte. »Ein paar der Namen kenne ich«, stellte sie schließlich fest, »aber wahrscheinlich aus demselben Grund wie du. Ich kenne keinen davon persönlich.« Sie lachte. »Aber was soll's, ich wollte schon immer mal Privatdetektiv spielen. Soll ich mich umhören, was die 99er wissen?«
»So hatte ich es mir vorgestellt. Aber ich wüßte es zu schätzen, wenn...«
»Wenn ich das Ganze bedeckt halten könnte«, vervollständigte Maggie. »Keine Bange. Niemand wird erfahren, wer das alles wissen will.«
»Wo wirst du anfangen?«
Maggie überlegte. »Ich rede wahrscheinlich erst mal mit Amy Langland«, sagte sie nachdenklich. »Amy kennt alle und jeden.«
»Wo steckt Amy gerade?« unterbrach Sam. »Immer noch in Milwaukee?«
»Nh-nh, sie ist vor einer Weile zu dir runter gezogen. Irgendwo nach Glendale, glaube ich.« Maggie machte eine Pause. »Soll ich anrufen, wenn ich was habe? Oder hast du Fax? Das wäre wahrscheinlich am leichtesten - und effizientesten.«
»Seit wann bist du denn so effizient, Mags?« Sie überlegte einen Augenblick. »Warum faxt du es nicht zu WestAir?« Sie holte ihre Geschäftskarte aus der Brieftasche und gab ihrer Freundin die Nummer durch. »Bist du sicher, daß ich dir nicht zuviel Umstände mache?«
»Wenn doch, lasse ich es dich wissen«, versicherte Maggie. »Unter Garantie.«
Nachdem sie aufgehängt hatte, holte Sam den Stapel Fotokopien hervor, den Arlene, Kerrs Sekretärin, für sie angefertigt hatte. Bestimmt zum dutzendsten Mal ging sie die Inventarliste der Erinnerungsstücke und persönlichen Besitztümer durch, die dem Museum of Flight in Rogers zugesprochen worden waren. Sie glaubte nicht, daß sie irgend etwas Offensichtliches wie Pop-Pops Tagebuch übersehen hatte, aber vielleicht stand ja etwas auf der Liste, das ihr eine Idee lieferte. Nach ein paar Minuten warf sie die Liste enttäuscht beiseite und blätterte die Verkaufsunterlagen von Pop-Pops Eagle-Mountain-Grundstück durch.
Soweit sie das beurteilen konnte, schien alles in Ordnung zu sein. Das Land war den offiziellen Unterlagen zufolge Anfang 1980 von einer Gesellschaft namens New Horizons Industries gekauft worden. (Sie schnaubte. Typisch kalifornischer New-AgeName, dachte sie. Züchten wahrscheinlich Tofu oder bauen Deprivationstanks oder irgend so 'n Scheiß.) Sam besaß natürlich weder den Hintergrund noch die nötigen Kenntnisse, um den Rechtsjargon nach Fehlern durchzusehen - die ›parties of the first and second part‹, ›henceforths‹ und ›heretofores‹ erschienen ihr als groteske Parodie der englischen Sprache - aber auf den ersten Blick schien alles einen Sinn zu ergeben. Die Zahlungsmodalitäten, ›gegen einen Dollar Baranzahlung, zuzüglich weiterer wertgemäßer Vergütungen‹ erregten zunächst ihre Aufmerksamkeit, aber dann erinnerte sie sich, daß einer ihrer früheren Freunde einmal einen Wagen zu ähnlichen Bedingungen gekauft hatte, um die Steuer zu umgehen. Ein paar Minuten lang spielte sie mit dem Gedanken, sich an einen Anwalt zu wenden und den Vertrag überprüfen zu lassen. Aber dann entschied sie sich dagegen. Morton Ken, Jr., hat ihn schon durchgesehen, erinnerte sie sich, und er hat keinen Fehler gefunden. Er schien kompetent genug... hochnäsig, aber kompetent.

Sie warf den Vertrag in dieselbe Richtung wie zuvor die Inventarliste, grob in Richtung des Schreibtischs, und starrte wieder auf die Korkwand. Reagiere ich vielleicht übertrieben? fragte sie sich mit einer gewissen Grimmigkeit. Vielleicht hatte Morton Ken recht - vielleicht sollte ich mich mehr auf juristische Dokumente verlassen als auf die Erinnerung eines möglicherweise senilen Sterbenden ... selbst wenn er mein Großvater ist. Und vielleicht hat Officer Belmont den Kombi wirklich nicht gesehen. Und vielleicht war der Einbrecher einfach nur ein Dieb, der Todesanzeigen durchsieht und Häuser besucht, deren Besitzer verstorben sind. Und vielleicht... Sie lachte bitter. So gesehen war es lächerlich. Jeder einzelne dieser Punkte ließ sich für sich genommen leicht erklären. Aber ihre Häufung erforderte eine lächerlich unwahrscheinliche Kette von ›Zufällen‹. Denk an Ockhams Klinge, ermahnte sie sich. Die einfachste Erklärung, die alle Fakten berücksichtigt, ist im allgemeinen die beste. Und hier ist die einfachste Erklärung die, daß irgend etwas vorgeht. Ein Komplott des Schweigens oder wie immer man es sonst nennen will. Jedenfalls läuft hier mehr als nur simple Paranoia ab.

Sie griff nach einer Zigarette und stellte fest, daß die Packung leer war. Mit einem Fluch zerknüllte sie die leere Schachtel und warf sie gegen die Pinnwand.