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Das Firmenhauptquartier und die Hauptforschungsanlage von Generro Aerospace Technologies Incorporated lag in Moreno Valley, etwa 65 Meilen östlich der Innenstadt von Los Angeles, in der Nähe der March Air Force Base. Das muß eine günstige Lage gewesen sein, als sie tatsächlich noch Flugzeuge entwickelt haben, dachte Sam, als sie zwei Düsenjäger - schnelle, tödlich wirkende Pfeile - vor der dünnen Wolkendecke über den Himmel rasen sah, die schnell außer Sicht verschwanden.

Sam hatte keine Probleme gehabt, ein Treffen mit einem Vertreter der Firma zu arrangieren. Ein einzelner Anruf hatte genügt. Sie hatte keinen der plausiblen Vorwände gebraucht, die sie sich mit solcher Hingabe zurechtgelegt hatte. Die Frau in der Zentrale hatte nur ihren Namen und ihre Telefonnummer notiert und erklärt, Mr. Jacques Leclerc könne sie am Donnerstag, dem 6. August, um 11 Uhr empfangen. Donnerstag und Freitag waren Sams freie Tage bei WestAir, so daß es in dieser Hinsicht keine Schwierigkeiten gab. Jacques Leclerc wird natürlich irgend so ein glatter PR-Mensch sein, aber es ist doch schon mal ein Anfang.

Gegen 10 Uhr 40 erreichte Sam das Haupttor der Generro-Anlage. Eher schon des Generro-Lagers, korrigierte sie in Gedanken. Der schwere Sperrzaun mit nach außen abgeknickter und mit Stacheldraht verzierter Krone sowie das schwere Automatiktor auf der Anfahrtstrecke erinnerten sie mehr an ein Zuchthaus oder eine militärische Hochsicherheitsanlage als an eine zivile Forschungseinrichtung. Das Tor selbst befand sich weit abseits der Straße, am Ende einer bestens asphaltierten und von Bäumen gesäumten Privatstraße. Nur ein kleines Schild wies auf die Zufahrt hin, und ein noch kleineres wies den Eingang als das Tor zu Generro Aerospace aus. Interessant, dachte sie. In der Hinsicht ist es hier wie beim Militär: Wenn du nicht weißt, wohin du willst, hast du dort auch nichts verloren.

Sie stoppte Grendel einen Meter vor dem Tor und wartete, während ein Sicherheitsbeamter aus dem Torhäuschen trat und sich dem Wagen näherte. Sie stellte fest, daß er bewaffnet war, mit einer 9-mmAutomatikpistole im Holster, deren Griff sichtbare Spuren von Benutzung aufwies.

Er warf ihr ein oberflächliches Lächeln zu - höflich genug, aber ohne Zweifel nicht freundlich. »Guten Morgen, Ma'am. Kann ich Ihnen helfen?«

Sie antwortete mit einem breiten Grinsen. Er kann schließlich nichts dafür, daß von ihm eiskalte Effizienz erwartet wird, sagte sie sich. »Das hoffe ich doch«, stellte sie fröhlich fest. »Ich habe einen Termin bei einem Jacques Leclerc. Mein Name ist Samantha Dooley.«

»Okay. Einen Augenblick.« Der Posten sah über die Schulter zum Torhaus, und zum erstenmal bemerkte Sam eine zweite Gestalt hinter den leicht grünstichigen Fenstern. {Kugelsicheres Glas? fragte sie sich plötzlich.) Der zweite Posten schien gehört zu haben, was sie gesagt hatte - was auf ein Richtmikrofon hindeutete. Die Sicherheitsvorkehrungen hier waren weit intensiver, als sie erwartet hatte. Er beugte sich vor, wie über ein Klemmbrett oder einen Computerschirm. Nach ein paar Sekunden nickte er.

Der Mann neben Grendel lächelte wieder, diesmal etwas ehrlicher als zuvor. »Willkommen bei Generro Aerospace, Ms. Dooley. Sie sind etwas früh, aber Mr. Leclerc erwartet Sie.« Er griff in die Tasche, zog eine Art Abzeichen etwa von der Größe einer Spielkarte hervor und reichte es ihr. »Bitte legen Sie diesen Ausweis während des Aufenthalts in der Anlage nicht ab. Er identifiziert Sie als Besucherin. Wenn Sie uns wieder verlassen, geben Sie ihn bitte bei mir oder einem meiner Kollegen wieder ab. In Ordnung?«

»Okay.« Sam drehte die Karte in der Hand. Sie war aus Plastik und erinnerte an eine übergroße, ungewöhnlich dicke Kreditkarte. Sie konnte jedoch weder irgendwelche eingeprägten Zahlen noch einen Magnetstreifen finden. Die einzige Markierung auf der hellgrauen Oberfläche war der in großen schwarzen Lettern gehaltene Schriftzug VISITOR. Warum ist sie so dick? überlegte sie. Wahrscheinlich eine ›Smart Card‹, vielleicht mit eingebautem Peilsender. Interessant.

An einer Seite der Karte war eine kleine Krokodilklemme angebracht, mit der sie den Ausweis am Kragen ihrer weißen Baumwollbluse befestigte. Sie lächelte zu dem Posten hoch. »So, damit wäre ich wohl offiziell.«

Diesmal war sein Antwortlächeln ehrlich. »Kann man so sagen.« Er deutete durch das Tor, die Asphaltstraße hinab, die zu den nächsten der niedrigen Gebäude im Innern der Anlage führte. »Bleiben Sie auf der Hauptstraße, bis sie zu Ende geht, Ms. Dooley«, wies der Posten sie ein. »Dann biegen Sie rechts ab. Der Besucherparkplatz befindet sich vor dem Empfangsgebäude. Mr. Leclerc wird Sie dort abholen. Okay?«

»Bis zum Ende und dann rechts«, wiederholte sie. »Und wenn ich nach links fahre...?«
Er lachte. »Das ist der Teil meines Jobs, der mir am wenigsten gefällt: die Hinterbliebenen benachrichtigen. Einen schönen Tag noch, Ms. Dooley.« Als er zurücktrat, glitt das Tor lautlos auf Metallschienen beiseite.
Sam fuhr langsam weiter und hielt sich an die neben der Straße angezeigte Geschwindigkeitsbegrenzung von zehn Meilen in der Stunde. Als sie durch das Tor fuhr, bemerkte sie eine Videokamera auf einem der metallenen Torpfosten, die ihrem Wagen in einer sanften Drehbewegung folgte. Sie wandte hastig den Blick ab - nichts macht Sicherheitstechniker nervöser als Leute, die ihren Spielzeugen zuviel Aufmerksamkeit schenken - machte sich aber ihre Gedanken über den Eindruck der Kamera, den sie in ihrem Gedächtnis bewahrt hatte. Ein großes Objektiv. Wahrscheinlich ein leistungsstarker Zoom. Ohne Zweifel würden die Jungs im Torhäuschen es augenblicklich sehen, falls sie tatsächlich versuchte, nach links statt nach rechts abzubiegen.
Die zweispurige Straße führte vom Tor in gerader Linie auf den Gebäudekomplex zu. Die Entfernung betrug schätzungsweise eine Viertelmeile. Zu beiden Seiten der Straße war das Gelände hinter dem flankierenden Grünstreifen staubtrocken und eben. Keine Gebäude, keine Zäune, nichts. Eine Pufferzone, erkannte sie. Ein Schutzgürtel zwischen dem Zaun und der eigentlichen Anlage. Die nehmen ihre Sicherheitsvorkehrungen wirklich ernst. Wahrscheinlich ein Überbleibsel aus den ruhmreichen Tagen der Firma, als sie mit millionenschweren Militäraufträgen bedacht wurde. Aber warum halten sie das aufrecht? fragte sie sich plötzlich. Der Geldaufwand für diese Art von Sicherheit ließe sich doch bestimmt in wichtigere Projekte investieren ...
Jetzt waren die zusammengedrängten Bauten schon viel deutlicher zu erkennen: ausgedehnte, flache Betonblocks, häufig mit eindrucksvollen Ansammlungen von Mikrowellen- und Satellitenantennen auf dem Dach. Nur ein kleiner Teil besaß Fenster, und die wenigen, die es überhaupt gab, bestanden aus stark eingefärbtem Glas: ohne Zweifel hauptsächlich, um das Gebäudeinnere nicht unnötig aufzuheizen; aber gleichzeitig verhinderten sie, daß Sam einen Blick ins Innere werfen konnte. Entlang einzelner Gebäude hatte jemand schmale Blumenbeete angelegt, wohl in einem halbherzigen Versuch, die institutionelle Kälte zu mildern, aber die meisten grenzten an spärlich besetzte Parkplätze. Dieser Ort wirkt erstaunlich vertraut. Sie mußte einen Augenblick überlegen, bevor sie verstand, warum: Generro Aerospace schien ein Mittelding zwischen einem modernen Industriegelände und einer Anlage der Regierung wie dem Zentrum für bemannte Raumfahrt in Houston, das sie als Teenager einmal besucht hatte, zu sein.
Sie erreichte das Ende der Straße und drehte wie angewiesen nach rechts ab, an einem großen Schild vorbei, das alle Besucher anwies, sich im Empfangsgebäude zu melden. Es überraschte sie nicht sonderlich, daß kein Schild irgendeinen Hinweis darauf gab, was in der anderen Richtung lag. Wenn du nicht weißt, wohin du willst, hast du dort auch nichts verloren.
Das Empfangsgebäude war kleiner als die anderen und besonders großzügig mit dunkelgetönten Fenstern ausgestattet. Sam stellte Grendel auf einem der mit VISITOR markierten Plätze ab und stieg die drei flachen Stufen zur doppelten Eingangstür aus Milchglas empor.
Dahinter lag die übliche Empfangshalle einer HiTech-Firma: übermäßig viel Chrom und Glas sowie Licht aus winzigen, sonnenhellen Halogenscheinwerfern auf Laufschienen. Recht hübsch, dachte Sam. Geradewegs aus einer Designzeitschrift. Aber ohne jede Spur von Seele.

Sie trat an die Rezeption, die wie eine Mischung aus NASA-Missionskontrollkonsole und Geschützbunker wirkte, und gab der Empfangsdame ihren Namen. Die Frau, deren Namensschild sie als Mrs. Parks auswies, trug einen Telefonkopfhörer, der teilweise von ihrer roten Lockenpracht verdeckt wurde, so daß es schien, als entspränge das flache Bügelmikrofon geradewegs ihrem Schädel. Ihr Blick wanderte von Sams Besucherausweis zu einem kleinen, in den Schreibtisch eingelassenen Computermonitor. »Willkommen bei Generro Aerospace, Ms. Dooley«, sagte sie und klang dabei zwar nicht völlig gleichgültig, aber auch nicht wirklich ehrlich. Sie deutete auf eine Couch aus schwarzem Leder und Edelstahl. »Wenn Sie sich einen Augenblick setzen möchten, Mr. Leclerc kommt sofort.«

Sam hatte kaum auf der kalten eckigen Couch Platz genommen, als schon ein Mann aus der Tür hinter der Rezeption trat und mit ausgestreckter Hand auf sie zukam. »Ms. Dooley? Ich bin Jacques Leclerc.«

Samantha sprang auf und musterte ihren Gastgeber, während sie seine Hand schüttelte. Sie mußte zugeben, daß er einen bemerkenswerten Eindruck hinterließ. Der französische Name hatte sie einen schmalbrüstigen, europäisch wirkenden Herrn mit Adlernase erwarten lassen. Tatsächlich ähnelte Leclerc jedoch mehr Muhammad Ali zu seinen besten Zeiten: groß und breitschultrig, ein schwarzer Adonis, der sich mit der Grazie eines professionellen Athleten bewegte. Sein leichter grauer Anzug war von exquisiter Verarbeitung, wirkte an ihm aber völlig natürlich, weder affektiert noch zu formell. Das einzig entfernt Französische an ihm - abgesehen von seinem Namen - war ein kaum wahrnehmbarer europäischer Akzent in seiner mitternachtsdunklen Samtstimme.

»Mr. Leclerc«, begrüßte sie ihn und erwiderte seinen Handschlag mit gleicher Stärke. »Vielen Dank, daß Sie sich Zeit für mich nehmen.«

»Kein Problem, kein Problem.« Er lächelte und zeigte zwei Reihen unwahrscheinlich weißer Zähne. »Willkommen bei Generro Aerospace.« Er deutete zur Tür. »Wenn Sie mir bitte folgen...?«

Leclerc führte sie in sein Büro im vorderen Teil des Gebäudes, mit Blick durch die dunkelgefärbten Fenster auf den Parkplatz. Als er die nicht gekennzeichnete Bürotür öffnete, bemerkte Sam eine kleine Wandplatte neben dem Türrahmen. Als Leclerc hindurchtrat, blinkte ein grünes Lämpchen auf, und bei ihrer Annäherung blinkte es erneut. Leclerc deutete auf eine bequem wirkende Sitzgruppe abseits des großen Schreibtischs und setzte sich in einen der Sessel, nachdem Sam Platz genommen hatte. Erst jetzt sah Sam, daß auch Leclerc einen ähnlichen ›Smart Card‹Ausweis wie sie trug, allerdings mit seinem Foto. Anscheinend hatte das Gerät an der Tür auf die Präsenz ihrer Ausweise reagiert, die beiden den Zutritt zu diesem Raum gestatteten, und - wahrscheinlich - ihren Aufenthaltsort in einem Zentralcomputer gespeichert.

Leclerc bemerkte ihren Blick und erkannte sofort dessen Bedeutung, denn er lächelte und berührte etwas verlegen seine Ausweiskarte. »Ein gewisser... technologischer Overkill, nicht wahr?« Er gluckste. »Finde ich auch, aber« - er zuckte auf äußerst französische Weise die Schultern - »manchmal ist es notwendig, die scheinbar unvermeidlichen Ängste... äh... bestimmter Auftraggeber zu berücksichtigen, um eine enge Zusammenarbeit zu ermöglichen.«

Sam hatte nicht erwartet, so schnell auf den Punkt zu kommen, aber sie zögerte nicht, die Chance zu ergreifen. »Und was macht Generro Aerospace heutzutage? Ich dachte, Sie hätten vor einiger Zeit alle Flugoperationen eingestellt.«

»Das stimmt, das haben wir getan. Natürlich war das vor meiner Zeit.« Er zuckte wieder die Achseln. »Die mit der Entwicklung kompletter neuer Flugzeugtypen verbundenen Kosten wurden immer höher, während die... die institutionellen Hürden, die man bewältigen muß... gleichzeitig auch immer größer wurden. Der Aufsichtsrat entschied, das Operationsfeld der Firma einzuschränken.«

Sam nickte verstehend. »Also entwickeln Sie Subsysteme statt ganzer Flugzeuge.«
Leclerc strahlte sie an, wie ein Lehrer, der stolz auf eine brillante Schülerin ist. »Ganz genau. Wie Sie es sagen, Subsysteme. Technologie in reinster Form, die wir dann zur Integration an andere lizenzieren.«
»Technologie welcher Art?« Sie bemerkte die leichte Veränderung in Leclercs Lächeln und nahm ihm die Antwort ab. »Ich weiß, ich weiß. Sie könnten es mir sagen, aber dann müßten Sie mich anschließend umbringen. Richtig?«
Er hob in einer Geste der Hilflosigkeit die leeren Hände. »Regierungsamtliche Verpflichtungen und Beschränkungen. Das müssen Sie verstehen.«
»Ich verstehe.« Sie machte eine Pause. »Vielleicht können Sie mir einen Hinweis geben? Es handelt sich nicht um Aerodynamik, nehme ich an.«
»Stimmt.«
»Also hauptsächlich Avionik und Ortungstechnik?«
Leclercs Lächeln wurde breiter. Er hat Spaß daran, erkannte Sam mit einer Mischung aus Heiterkeit und Ärger. »Ich kann sagen, daß unsere Arbeit einen gewissen Bezug zu Avionik und Ortungstechnik hat, ja«, erwiderte er vorsichtig.
»Und Ihr ›Auftraggeber‹, wie Sie ihn nennen: Die Air Force? Die Army?«
Wieder die Geste der Hilflosigkeit. »Tut mir leid, Ms. Dooley.«
»Schon gut«, stellte sie leichthin und entwaffnend fest. »Reine Neugierde.«
»Ich verstehe«, erklärte er großzügig. »Interesse an einer Firma, für die der eigene Vater mal gearbeitet hat, ist nur natürlich.« Sams Miene mußte ihre Überraschung verraten haben, denn ihr Gegenüber gluckste leise. »Meinen Sie nicht, es wäre ein wenig nachlässig von uns gewesen, jemanden, der uns einen Besuch abstatten will, nicht wenigstens oberflächlich zu durchleuchten?«
»Sie meinen, ich könnte ja auch eine Spionin sein?«
Ein weiteres Schulterzucken, und das war Antwort genug.
Sam atmete tief ein und begann, die Lügengeschichte vor Leclerc auszubreiten, die sie sich vor Beginn der Fahrt zurechtgelegt hatte, um den wahren Grund für ihr Interesse zu verschleiern. »Tatsächlich hat meine Anwesenheit hier mit meinem Vater zu tun. Wenn Sie meinen Hintergrund durchleuchtet haben, wissen Sie auch, daß er starb, als ich fünf war. In Verbindung mit der Tatsache, daß mein Familienleben nicht gerade erfüllt war« - er nickte verständnisvoll - »werden Sie verstehen, daß ich keine echte Chance hatte, ihn kennenzulernen. Ich weiß, es hat eine Weile gedauert, bis ich darauf gekommen bin, aber ich mache mir Gedanken über die Leute, mit denen er hier bei Generro geflogen ist, damals, 1967. Ich schätze, sie müßten ihn besser kennen als irgend jemand anderes und sie könnten mir etwas über ihn erzählen.« Sie zuckte die Achseln. »Es ist natürlich nicht dasselbe, wie ihn selbst kennenzulernen, aber immer noch besser als nichts.«
Er nickte langsam, und seine Miene drückte Verständnis und Mitgefühl aus. »Ganz sicher, Ms. Dooley. Eine ausgezeichnete Idee. An wen speziell hatten Sie gedacht?«
Sam täuschte Verlegenheit vor. »Ja, sehen Sie, genau da liegt das Problem, Mr. Leclerc. Falls mein Dad je seine Kollegen hier bei Generro erwähnt hat, war ich zu jung, um mich an ihre Namen zu erinnern. Ich hatte gehofft, Sie könnten mir da weiterhelfen.«
Leclerc schürzte nachdenklich die Lippen. »Sie verstehen sicher, Ms. Dooley«, antwortete er zögernd, »daß es seit jenen Tagen zu einem... Austausch von Personal gekommen ist. Keiner unserer gegenwärtigen Mitarbeiter hat noch irgendeine Verbindung zu unserem Personalbestand von damals.« Er strahlte sie an. »Ich selbst habe erst vor vier Jahren hier angefangen.«
»Ich verstehe«, sagte Sam. »Aber Sie müssen doch noch Unterlagen aus jener Zeit haben. Sie wußten von meinem Vater...«
»Natürlich«, erwiderte Leclerc glatt. »Ja, solche Unterlagen existieren, aber unsere Firma hat eine strenge Vertraulichkeitspolitik. Das ist übrigens keine Idee aus der Verwaltung. Im Gegenteil, unser Personalbüro hat immer wieder Probleme damit. Aber die Angestellten haben es selbst verlangt.«
»Ich weiß, daß derartige Unterlagen vertraulich sind«, gestand Sam ein. »Aber in diesem Fall, da ich doch beinahe zur Generro-›Familie‹ gehöre...«
»Mir blutet das Herz, Ms. Dooley«, entgegnete Leclerc, und sein Gesichtsausdruck paßte zu seinen Worten. »Aber es würde mich die Stellung kosten, Ihrem Wunsch nachzugeben. Vielleicht, wenn Sie einen Namen wüßten...« Er zuckte die Schultern.
Innerlich knirschte Samantha mit den Zähnen. Mauern war Mauern, egal, ob höflich verbrämt oder nicht, aus gutem Grund oder nicht. »An einen kann ich mich erinnern«, sagte sie langsam. »Soundso Warner: Sam? Sal?«
Leclercs Miene hellte sich auf. »Simon«, korrigierte er. »Simon Warner. Ja, er hat als Testflugingenieur hier gearbeitet, von 1971 bis 1978, glaube ich.« Er wirkte erleichtert, wieder auf sicherem Boden zu stehen. Er zog einen ledergebundenen Planer aus der Innentasche der Jacke und klappte ihn auf. »Wenn Sie mir Ihre Telefonnummer geben würden und die Nachricht, die Sie Mr. Warner zukommen lassen möchten...« Er zückte einen Mont Blanc und wartete.
»Können Sie mir nicht einfach sagen, wie ich mich selbst mit ihm in Verbindung setzen kann?« fragte Sam. »Telefonnummer, privat und am Arbeitsplatz...?«
»Ich bin tief betrübt, aber, nein, das kann ich nicht. Vertraulich, Sie wissen schon. Und Sie haben keine Botschaft für ihn?«
Sam seufzte und schüttelte den Kopf. »Nichts, was ohne entsprechende Hintergrundinformationen für Mr. Warner einen Sinn ergeben würde«, log sie.
Leclerc steckte Füllfeder und Planer ein. »Es tut mir wirklich leid, Ms. Dooley«, erklärte er, und wieder klang es durchaus ehrlich gemeint, als müsse sein Unvermögen, einer Jungfer in Bedrängnis zu Hilfe zu eilen, ihm nächtelang den Schlaf rauben. »Ich wünschte, ich könnte Ihnen behilflich sein. Gibt es irgend etwas anderes, was ich für Sie tun kann?« »Kaum«, erwiderte Sam nach kurzem Nachdenken.
Leclerc stand augenblicklich auf. »Darf ich Ihnen die Firma zeigen?« fragte er hoffnungsfroh.
Samantha lächelte und erhob sich ebenfalls. »Was könnten Sie mir denn da zeigen, Mr. Leclerc?« In ihrer Stimme lag ein Hauch von Ironie. »Die Kantine? Die Parkplätze? Ich möchte wetten, selbst der Kopierer ist geheim, oder etwa nicht?«
»Wo Sie recht haben...«, nickte Leclerc traurig. Dann heiterte sein Gesicht sich ein wenig auf. »Vielleicht möchten Sie uns ja noch einmal besuchen, Ms. Dooley, falls Sie weitere Fragen haben?«
Sam zuckte die Schultern. »Kann man nie wissen, Mr. Leclerc«, stellte sie schüchtern fest. »Das kann man nie wissen.«

Auf dem Weg zurück zum Haupttor fuhr Sam noch langsamer als zuvor. Im gewölbten Seitenspiegel auf der Beifahrerseite beobachtete sie den hinter ihr kleiner werdenden Gebäudekomplex und suchte nach irgendwelchen Besonderheiten, nach allem, was einen Hinweis darauf geben konnte, was dort vorging.

Viel war nicht zu sehen. Die Gebäude hatten keinerlei Markierungen und schienen aus einem Guß. Zugegeben, auf manchen Dächern standen mehr Antennen als auf anderen, aber Sam kannte sich nicht gut genug mit Telekommunikation aus, um ihren Sinn und Zweck zu ergründen. Nach allem, was ich erkennen kann, könnten sie ebensogut am heißesten Satellitenfernsehsystem diesseits von CNN basteln, dachte sie sarkastisch. Zwei Bauten im Hintergrund, jenseits des Empfangsgebäudes, erinnerten von der Bauweise an Hangars, aber sie war sich ziemlich sicher, daß sie inzwischen anders genutzt wurden. Wenn Generro noch Flugbetrieb unterhielt, würde Leclerc das nicht abstreiten. Es ist ziemlich schwierig, einen Jägerprototyp beim Testflug zu verstecken.

Moment: Es gab eine Besonderheit. Zum einen konnte sie ein relativ kleines Gebäude entdecken - kantig, gedrungen und vollständig aus Beton gegossen - das in einem Abstand von fast hundert Yards vom Rest der Anlage isoliert war. Die eleganten, in der Sonne glänzenden Bögen mehrerer Hochspannungsleitungen verbanden es mit der Metallbaukastenstruktur eines Umspannwerks. Von dort aus führten andere Leitungen zu einigen der größeren Gebäude. Sie verbrauchen eine Menge Strom, erkannte Sam leicht schockiert. Eine verteufelte Menge Strom sogar. Wozu? Auf den ersten Blick schien es, als sei der quadratische Betonblock die Quelle des Stroms, der zum Umspannwerk geleitet und von dort auf die anderen Bauten verteilt wurde. Aber das macht keinen Sinn. Das Umspannwerk mußte der Hauptverteiler sein. Was bedeutete, der Betonbau - was immer er verbarg - hatte den größten Strombedarf in der ganzen Anlage. Was konnte eine so enorme Energiemenge verschlingen?

Laser? Hochenergielaser? Die Regierung gibt immer noch eine Unmenge Geld für SDI-Forschung aus. Krieg der Sterne. Vielleicht fließt ein Teil davon zu Generro. Sie schüttelte den Kopf. Spekulieren konnte sie, soviel sie wollte. Was sie brauchte, waren harte Fakten, keine Vermutungen.

Wie angewiesen gab sie ihren Besucherpaß am Eingangstor wieder ab. Wie sich herausstellte, hätte es sich der Posten bei ihrer Ankunft sparen können, diesen Punkt zu betonen: Das Tor bewegte sich keinen Millimeter, bis sie den Ausweis abgegeben hatte. Sie bog nach rechts auf den Highway zurück nach Los Angeles ein. Im Rückspiegel sah sie einen weißen Lastzug aus der Gegenrichtung kommen und in Generros Privatstraße abbiegen. Dann verschwanden Laster, Tor und Anlage hinter einer Kurve.

Das Telefon zwitscherte und riß Sam aus jenem warmen, schwerelosen Dämmerzustand kurz vor dem Einschlafen. »Dreck!« Sie wälzte sich herum und sah auf die Uhr. Fast eins. Typisch, meckerte sie in Gedanken. Wenn ich mal einen Abend früh ins Bett gehe...

Sie nahm den Hörer ab. »Yeah?« Ihre Stimme klang wie zehn Meilen Kiesweg.
»Guten Abend. Habe ich deinen Schönheitsschlaf gestört?«
Der Mittelwestakzent war unverkennbar. Sam wischte sich das Haar aus den Augen, setzte sich auf und schaltete die Nachttischlampe an. »Hi, Amy.«
»Ich habe nachgedacht«, erklärte die alternde 99erin. »Ich hab dich wohl ziemlich abfahren lassen, was Generro Aerospace angeht, und jetzt habe ich Schuldgefühle deswegen.«
»Generro?« Sam versuchte, die geistigen Spinnweben aus ihren Gedanken zu vertreiben. »Ich war heute da.«
»Du warst da? Hmpf. Vielleicht hätte ich mir die ganze Mühe gar nicht machen brauchen. Das wird mich lehren, Verantwortungsbewußtsein zu zeigen.«
»Nein, Amy, es ist schon okay«, versicherte Sam ihrer Bekannten. »Ich habe nicht viel rausbekommen. Was ist dir eingefallen?«
»Nicht mir, anderen Leuten«, verbesserte Langland. »Ich habe mich umgehört. Irgendwie bin ich neugierig geworden, was Generro so macht, wenn sie nicht gerade Thunderflashs in die Wüste schleudern.«
»Was hast du herausgefunden?«
»Nicht viel, alles in allem. Und das hat mir eine Menge gesagt.«
»Häh?« Sam wischte sich noch eine widerspenstige Haarsträhne aus dem Gesicht. »Sorry, Amy. Ich bin noch nicht richtig wach, glaube ich.«
»Es ist, als sähe man einen Schatten«, erklärte Langland mit ungeduldiger Stimme. »Ein Schatten ist nichts Greifbares, richtig? Aber irgend etwas muß den Schatten werfen. Und als ich nach Generro gefragt habe, habe ich eben nur genau das gefunden: Schatten.«
Sam blinzelte, als ein Funken der Erkenntnis aufflammte. »Du meinst streng geheime Projekte?«
»Mehr als nur streng geheim. Hast du schon mal von ›schwarzen‹ Projekten gehört? Streng geheime Projekte werden abgeschirmt, schwarze Projekte existieren überhaupt nicht. Das SDI-Projekt ist streng geheim. Die Nachfolgermaschine für das SR-71 BlackbirdSpionageflugzeug, die Aurora, ist schwarz.«
»Und damit hat Generro zu tun?«
»Mit etwas dieser Art«, bestätigte Langland. »Jedenfalls ist das der Schluß, zu dem ich gekommen bin. Was immer das wert ist.«
»Und was könnte das mit Pop-Pop zu tun haben?« Die Worte waren heraus, bevor Sam sich klarwerden konnte, daß sie Amy Langland nie gesagt hatte, warum sie an Generro interessiert war. »Ich meine...«, setzte sie hastig an.
Langland schnaubte und unterbrach. »Dein Großvater, ich weiß. Ich bin kein Volltrottel, Kleines.« Sie lachte. »Mußt du wirklich fragen, ob Jim irgendwas mit ›schwarzen‹ Projekten zu tun gehabt hätte? Mister ›Der Steuerzahler hat ein Recht zu wissen, was mit seinem Geld geschieht?‹ Warum beantwortest du mir diese Frage nicht?«
Sam mußte laut lachen. Aus ihrer vom Schlaf rauhen Kehle klang es wie das Knarren eines rostigen Tors. »Nein. Nein, du dürftest recht haben.«
»Natürlich hab ich recht.« Langland schien geradezu beleidigt. »Und es erklärt auch, wieso es einer scheinbar winzigen Firma wie Generro gelingt, TopLeute anzuziehen, was? Teufel, Mädchen, ich hätte getötet, um bei Aurora mitmischen zu dürfen.«
»Du hast wahrscheinlich recht, Amy«, seufzte Sam. »Also, danke. Okay?«
»Nichts zu danken.« Langland klang mürrisch, als ob Sams Dank sie verlegen machte. »Ich hab nur versucht, einer Schwester einen Gefallen zu tun. Schlaf gut.« Und sie legte auf.
Sam plazierte den Hörer seufzend wieder auf der Gabel. Sackgasse.