4
In den nächsten drei Tagen verschlechterte sich Jim Dooleys Zustand sichtbar. Samantha hatte beinahe den Eindruck, daß er sich an seine Gesundheit, um nicht zu sagen: ans Leben, gekrallt hatte, bis er mit seiner Enkelin über die seiner Meinung nach wichtigen Dinge sprechen konnte. Das wenige Fleisch, das noch an seinen Knochen hing, schien wegzuschmelzen wie ein Traum im Licht der Morgensonne. Seine Haut fiel in sich zusammen, dehnte sich über die zerbrechlichen Knochen, bis er sie an Fotos von Holocaust-Opfern erinnerte. Das vertraute Leuchten seiner Augen verblaßte, ihr Grün war jetzt von Rot durchzogen. Er sprach nicht mit ihr darüber- natürlich nicht - aber Sam war überzeugt, daß er beinahe blind war.
Es ist nicht fair! wütete sie wieder und wieder in Gedanken. So sollte es nicht mit ihm zu Ende gehen müssen. Jim Sr. war ein Rennflieger, ein Testpilot. Er hatte die Motoren tausendmal bis an die Grenze getrieben, hatte ›den Dämon gereizt‹, den die Ingenieure jenseits der Schallgrenze vermutet hatten. Er hatte tausendmal mit dem Tod gespielt, mit dem Großen Knall, und jedesmal hatte er gewonnen. Er hatte die alten Rennmaschinen - nichts als riesige Sternmotoren mit Stummelflügeln, schneller als der Teufel, aber von einem wahnwitzigen Temperament - um die Rennstrecken gejagt und war nach Sacklandungen, die Dutzenden seiner Zeitgenossen das Leben gekostet hatten, unversehrt davongestiefelt. Wo war da die Gerechtigkeit? Er verdiente eine letzte Herausforderung, bei der sein Überleben vom Können abhing, nicht von blindem Glück...
Die Zeit war kostbar, das wußte sie. Jede Minute, jede Sekunde, die sie mit ihm verbrachte, war wertvoll - unwiederbringlich. Maggie hatte das verstanden, ganz so, wie Sam es vorausgesehen hatte. Sie war nur zweimal in das kleine Haus ihrer Freundin zurückgekehrt, als sie zu müde war, um ihre Augen noch offenzuhalten. Beide Male hatte sie mit dem Gedanken gespielt, sich in das Bett in Pop-Pops Gästezimmer zurückzuziehen, aber die alten Ängste - der alte Aberglaube, wie sie sich selbst gegenüber inzwischen zugab - hatten sie jedesmal daran gehindert. Pop-Pop konnte das verstehen. Krankheit war der Alptraum jedes Piloten, Ärzte und Schwestern der Feind, der ihn jederzeit ohne Chance auf Widerspruch an den Boden fesseln konnte. Nein, sie konnte unmöglich im selben Haus schlafen, aus demselben Grund, aus dem sie nicht eine längere Zeit in einem Krankenhaus hätte zubringen können. Die Nähe von Kranken weckte immer wieder dieselben alten irrationalen Ängste.
Sie hatte die Krankenschwester getroffen, die PopPop angestellt hatte, Lorna Millington. Sie war streng und professionell, aber ganz sicher nicht ›die Reinkarnation von Attilas Kindermädchen‹ wie Jim Dooley sie genannt hatte. Sam und Lorna hatten sich unterhalten, während Pop-Pop schlief. Sie war Sams einzige vertrauenswürdige Auskunftsquelle, was den wirklichen Gesundheitszustand ihres Großvaters betraf. Pop-Pop konnte sie nicht fragen, und selbst wenn er ihr geantwortet hätte, wäre sie sich nie sicher gewesen, ob er die Wahrheit nicht ›beschönigt‹ hätte, um sie zu schonen. Sie hatte erfahren, daß die Krankheit ihn zerriß und der Krebs sich von seiner Leber durch das gesamte Lymphsystem bis ins Hirn ausgebreitet hatte. Seine Nieren waren von den Giftstoffen aus dem gefolterten Gewebe schon fast völlig verwüstet, und sein Herz wurde schwächer.
Wie wird er sterben? Die Frage hatte Sam auf der Seele gebrannt, aber sie hatte sich nicht überwinden können, sie laut auszusprechen. Glücklicherweise hatte Lorna es ihr erspart. Wenn er Pech hatte, durch Ausfall der Nieren, hatte die Schwester erklärt, mit allen schrecklichen Konsequenzen. Aber wenn er Glück hatte - Glück! Was für eine schreckliche Verwendung dieses Wortes, dachte Samantha, und dabei sogar noch korrekt - brachte der Krebs in seinem Gehirn ihn vorher um, ›schaltete ihn ab‹, möglicherweise im Schlaf.
»Warum ist er dann nicht in einem Krankenhaus, um Himmels willen?« hatte Samantha gefragt. Lorna hatte ihr keine Antwort gegeben, aber das war auch nicht nötig gewesen. Sam wußte die Antwort in dem Augenblick, in dem sie die Frage stellte: Weil PopPop nicht in einem antiseptischen, charakterlosen Krankenhauszimmer sterben will. Er will abtreten, wie er gelebt hat - zu seinen Bedingungen.
Als sie zu Hause in Venice diesen letzten Besuch bei Pop-Pop plante, hatte Sam sich das große Haus bis auf sie, ihren Großvater und gesichtsloses medizinisches Personal leer vorgestellt. Aber sie hätte es von Anfang an besser wissen müssen: Jim Dooleys Freunde ließen ihn nicht einsam sterben. Sie kamen in einer Stafette zu Besuch - Dutzende, zig Dutzende, einzeln oder in kleinen Grüppchen. Nur wenige blieben lange da, es waren bloß kurze Besuche - eine Chance, ein letztes Mal Erinnerungen aufzufrischen, bevor die lange Nacht anbrach. Viele waren aus PopPops Generation, in den Sechzigern und Siebzigern - aber es kamen auch einige jüngere Besucher. Verehrer, dachte sie gelegentlich, Bittsteller fast. Pilger, Hadschis, auf Wallfahrt zu einem Schrein oder einer geheiligten Stätte. Sie waren wie der junge Ingenieur, Macintyre, erkannte sie. Jim Dooley war ihr Mentor; er hatte ihr Leben irgendwie berührt, und jetzt kamen sie aus dem ganzen Kontinent hierher, um ihm auf die einzige Weise zu danken, die sie kannten - mit ihrer Gegenwart, jetzt, da es zu Ende ging.
Die Gesichter, die sie erkannte, boten jedesmal eine Überraschung. Es waren Gesichter, die sie in den Büchern über das Fliegen gesehen hatte, die sie als Kind verschlungen hatte, in Dokumentationen und Zeitschriftenartikeln. Größtenteils Piloten: Flugjokkeys mit Geschwindigkeits- und Höhenrekorden wie Sid Warner, den sie schon getroffen hatte, und auch neue Gesichter wie Jacqueline Cochran. Mitglieder der Testfliegerbruderschaft, die ganze Generationen von Experimentalflugzeugen auf Test- und Probeflügen ›ausgewrungen‹ hatten.
Und dann waren da die Forscher. Bergsteiger, die Mordgipfel wie den K2 und den Kantschindschunga bezwungen hatten. Polarforscher wie Will Steger. Zuerst war Sam entgeistert. Was haben die mit PopPop gemein? Aber dann fand sie die Antwort. Ihre Gemeinsamkeit ist das Erforschen von Extremen, im Fliegen oder in der Landschaft. Sie sind alle bis an die Grenzen gegangen und haben sie ein Stück weiter vorgeschoben.
Und am Morgen des vierten Tags traf ein
Telegramm ein, das sie hoch zu Pop-Pop brachte.
Jim, lautete der Text, sorry, daß es dieses Jahr nichts wird. Die Sierra Nevada
wird nie mehr wie früher sein. Die Unterschrift lautete
›Chuck Yeager‹.
Chuck Yeager? War das der ›gute Freund‹, der
Pop-Pop zum erstenmal zu Fuß in die Berge geschleppt
hatte?
Im allgemeinen hielt sich Sam zurück, wenn die Gäste da waren.
Immerhin waren sie nicht ihretwegen gekommen, und die Zeit, die sie
sich mit ihr unterhielten, ging von ihrer Besuchszeit bei Pop-Pop
ab. Sie waren natürlich alle freundlich und höflich, und die
meisten schienen erfreut, Jim Dooleys Enkelin kennenzulernen. Aber
abgesehen von einer Begrüßung und ein wenig Geplauder gab es wenig
Gesprächsstoff zwischen ihnen und Sam.
Sie war im allgemeinen gegen 2 Uhr wieder bei Maggie, um auf dem
quietschenden Schrankbett ein wenig zu schlafen. Dann, noch bevor
Maggie aufgestanden war, lenkte Sam Grendel wieder nach Süden auf
den Highway 101, während die Sonne gerade über den Klamath
Mountains aufging.
Pop-Pop baute mit jedem Tag schneller ab. Seine Augen wirkten wie
zersprungene Murmeln, und sein Atem rasselte. Lorna Millington war
rund um die Uhr bei ihm - an Freizeit war nicht mehr zu denken -
und gönnte sich zwischendurch nur ein, zwei Stunden Schlaf in der
Bibliothek im Untergeschoß, die sie für sich in Schlafzimmer und
Büro umgewandelt hatte. (Mit einem gewissen Schuldgefühl machte Sam
sich klar, daß Pop-Pop das Gästezimmer für sie freihielt, falls sie es doch einmal brauchte,
statt es seiner Pflegerin zu geben.) Zwischen den Besuchen saß Sam
bei ihrem Großvater und hielt seine welke Hand. Wenn er wach war,
redeten sie - nichts von Bedeutung, nur Reminiszenzen von der Art
›Weißt du noch, wie...‹. Aber er ermüdete jetzt schnell, und die
immer stärkeren Schmerzmitteldosen vernebelten häufig seinen Geist.
Aber Sam war es zufrieden, einfach stumm neben ihm zu sitzen und
dem Fluß zu lauschen, der endlos und unveränderlich unter den
Klippen entlangrauschte.
Sam war nicht da; natürlich nicht, schalt sie sich in Gedanken. Sie hatte ihrem schlafenden Großvater gegen 2 Uhr einen Kuß auf die Stirn gedrückt und war die fünf Meilen nordwärts nach Nesika Beach gefahren. Es war ihr nicht leichtgefallen, ihre brennenden Augen offenzuhalten. Sie hatte traumlos geschlafen, bis der Wecker sie um 5 Uhr aus dem Schlummer gerissen hatte. Dann war sie wieder in Grendel gesprungen und an das Ufer des Rogue zurückgekehrt.
Sie fühlte es, kaum daß sie durch die Tür trat. Tief in ihren Eingeweiden wußte sie, daß er nicht mehr da war. Es war still, niemand rührte sich... aber es war mehr als nur das. Etwas war aus dem großen, komfortablen Haus verschwunden - hatte der Welt Lebewohl gesagt. Sie sank in dem breiten, mit Teppich ausgelegten Flur in die Hocke, den Rücken an der Eingangstür. Der Flur im ersten Stock war dunkel. Am Kopf der Treppe hatte immer ein schwaches Licht gebrannt. Jetzt nicht mehr. Die Treppe wirkte plötzlich steil, schwer zu erklimmen. Sie wischte sich die Augen. Ihre Finger blieben trocken.
Keine
Tränen?
Nein, erkannte sie, die Tränen würden später kommen. Wenn die
Endgültigkeit des Geschehenen wirklich zu ihr durchgedrungen war,
erst dann würde sie weinen können.
Lorna Millington fand sie so kauernd vor, ungezählte Minuten
später. Die Schwester sagte nichts - schließlich gab es nichts zu
sagen. Samantha sah hoch und der älteren Frau in die Augen. Ja,
auch dort sah sie, daß etwas fehlte. Mehr als nur den Verlust eines
Patienten? Ja, dachte Sam, Jim Dooley hat auch ihr Leben berührt...
Es kostete ihre ganze Kraft, aufzustehen. Sie tat einen Schritt auf
die Treppe zu.
Die Hand der Schwester auf ihrem Arm war sanft, aber sie stoppte
Sam ebenso wirkungsvoll, wie es ein Schraubstock getan
hätte.
»Ich muß ihn sehen.« In ihren eigenen Ohren klang Sams Stimme leer,
trostlos.
Lorna zögerte, dann nickte sie mit einem traurigen Lächeln. Sam
konnte die Blicke der älteren Frau in ihrem Rücken spüren, als sie
die leise knarrenden Stufen hinaufstieg.
Die Vorhänge in Pop-Pops Schlafzimmer waren wegen des Morgenlichts
teilweise zugezogen. Im Zwielicht hätte man fast meinen können, er
schlafe nur, wie er dort lag, auf dem harten, eckigen Bett. Fast...
seine Augen waren geschlossen, seine Züge entspannt und friedlich.
Aber sie wußte, er war tot, konnte es fühlen. Hier war der
Brennpunkt der Leere, die sie schon im Eingangsflur gespürt
hatte.
Zärtlich hob sie seine Hand von der Decke. Die Haut spannte sich
über den Knochen - wie die Bespannung eines
alten Doppeldeckers, stramm über die hölzernen Spanten
gezogen. Sie war kühl, aber nicht kälter als in der Nacht
zuvor. Sie hob sie an die Lippen, küßte sie sanft.
Und dann kamen die Tränen.
Der Arzt kam und ging, absolvierte die Formalitäten. Dann kamen die anderen: jung, in schwarzen Anzügen, in ihre berufsmäßige Ernsthaftigkeit gehüllt wie in einen Mantel. Samantha folgte ihnen in den Ort. Grendel verfolgte ihr schwarzes Fahrzeug wie ein Raubtier auf den Fersen einer trägen Beute. Vom Parkplatz aus sah sie hilflos zu, wie sie Pop-Pops mit einem Laken abgedeckten Leichnam ins Bestattungsinstitut trugen. Sie konnte ihnen nicht folgen, jetzt nicht. Als die schwere Tür sich hinter ihnen schloß, hallte der Schlag wie eine Totenglocke durch ihren Geist.
Die Zeremonie fand am nächsten Tag statt, einem Montag. Wie Pop-Pop gesagt hatte, waren alle Vorbereitungen bereits getroffen. (Auf gewisse Weise fand Sam das traurig: Sie hätte es vorgezogen, irgendwie an diesen letzten Schritten beteiligt zu sein. Aber gleichzeitig begrüßte ein Teil von ihr die Ruhezeit, die ihr gestattete, den Trauerprozeß seinen Anfang nehmen zu lassen.) Die Trauerandacht fand in kleinem Kreis statt: Sam, Sid Warner und - zu Samanthas Überraschung - Maggie Braslins. Zuerst war Sam verwirrt. Hatte jemand wie Jim Dooley nicht eine größere, besser besuchte Beerdigung verdient, damit seine Freunde ihm Lebewohl sagen konnten? Aber später verstand sie, daß sie sich bereits auf eine Weise von Pop-Pop verabschiedet hatten, die ihm sehr viel mehr bedeutet hatte als irgendeine religiöse Zeremonie, an die er nie wirklich geglaubt hatte. Aber eine Totenwache hätte zu dem Stil gepaßt, in dem er gelebt hatte, dachte sie. Eine traditionelle Wake im irischen Stil, auf der seine Freunde ein Glas Whiskey auf sein Angedenken trinken konnten. Aber wenn er eine Totenwache gewollt hätte, dann hätte er eine arrangiert. Vielleicht war es besser für seine Freunde, sich auf ihre Art von ihm zu verabschieden, statt einen bestimmten Rahmen von jemand aufgezwungen zu bekommen, der selbst nicht mehr teilnehmen konnte.
Samantha und Maggie saßen nebeneinander in der kleinen Begräbniskapelle, und die ältere Frau schniefte leise, während der Bestatter seine leeren Wendungen herunterbetete. Simon Warner saß allein in einer der hinteren Reihen, die silberne Mähne in erstaunlichem Kontrast zu seinem schwarzen Anzug. Sein Gesicht wirkte ausdruckslos, sein Blick bedeckt, aber Sam konnte die Trauer hinter dieser unnachgiebigen Fassade spüren. Seine Selbstbeherrschung schuf eine Art Abwehrzone um ihn herum - zumindest erschien es Sam so - eine Barriere, die zu durchbrechen sie kein Bedürfnis verspürte. Hätte sie ihn nicht an jenem zweiten Tag in Pop-Pops Zimmer getroffen, hätte sie ihn jetzt für gefühllos und abweisend gehalten. Aber so wußte sie, daß die Wahrheit unendlich komplexer war.
Schließlich teilte sich der Vorhang an der Stirnwand des Raumes, und unter den süßlichen Klängen falscher Engelschöre glitt der Sarg in das Krematorium. Der Vorhang schob sich zurück vor die Tür, und es war vorbei. Sid Warner war bereits fort, als Sam dem Bestatter die Hand geschüttelt hatte - sie verspürte keinerlei Bedürfnis, den Mann zu berühren oder sich seine öligen Beileidsbezeugungen anzuhören, aber sie akzeptierte die Notwendigkeit, bestimmte Höflichkeitsformen einzuhalten. Sie seufzte. Es war schon seltsam: Sie kannte Simon Warner kaum, aber sie konnte das Gefühl der... Seelenverwandtschaft schien das einzig treffende Wort dafür zu sein... nicht abschütteln, das sie wenige Tage zuvor in Jim Dooleys Krankenzimmer empfunden hatte. Es wäre schön gewesen, noch einmal mit dem älteren Mann zu reden.
Aber es gibt Wichtigeres , rief sie sich zur Ordnung, mit einem letzten traurigen Blick auf den geschlossenen Vorhang und das leere Sarggestell.
Sie sah Sid Warner aber noch am selben Tag wieder: im Wartezimmer vor dem Büro des Bestatters, als Sam zurückkehrte, um Pop-Pops Überreste abzuholen. Er stand auf, als sie eintrat, und warf ihr ein Lächeln zu, das den Raum zu erleuchten schien.
»Samantha.«
»Sam«, korrigierte sie unwillkürlich. Dann: »Was machen Sie hier?
Ich dachte, Sie wären schon...« - sie zuckte die Achseln - »... na
ja, wohin immer Sie müssen.« Sie sah ein schiefes Lächeln auf das
Gesicht des Piloten treten und fügte hastig hinzu: »Nicht, daß ich
Sie nicht gerne sehe oder so.«
Das ließ ihn eine Augenbraue hochziehen. »Vor dreißig Jahren hätte
mich so ein Satz im Kreis rennen und eine Tragfläche nachziehen
lassen«, lachte er. »Ach was, noch vor zwanzig Jahren.« Sein Lächeln verblaßte, und er
warf einen Blick auf die Tür zum Büro des Bestatters. »Schätze, ich
war doch noch nicht wirklich fertig mit ihm.« Er versuchte, eine
leichte Note in den Satz zu legen, schaffte es aber nicht
ganz.
Samantha nickte. Wortlos ergriff sie die Hand des alternden
Piloten. Seine blaßgrauen Augen weiteten sich überrascht. Dann
kehrte sein Lächeln zurück, und er drückte dankbar ihre
Hand.
Die Tür des Büros öffnete sich, und der Bestatter trat heraus. In
seinen Händen hielt er eine Messingurne von einfacher Eleganz -
mit übertriebener Vorsicht, als hätte er es
mit einer Ampulle Pestbazillen zu tun, dachte Sam pietätlos.
Trotz bester Absichten fühlte Sam ihre Augen feucht werden, als sie
die Urne sah. Das ist alles, was von ihm
geblieben ist...
Der Bestatter nickte ihnen zu. »Ms. Dooley, Mr. Warner.« Seine
dünnen Brauen hoben sich fragend.
Sam trat vor und nahm die Messingurne entgegen.
Neben ihr räusperte sich Warner. »Samantha«, begann er. Dann
verbesserte er sich hastig: »Sam. Ich hätte eine Frage.« Er
stoppte, als suche er nach den richtigen Worten, um ein kniffliges
Thema anzuschneiden.
»Ja?« half sie nach.
»Ich wollte nur fragen... also, ob Sie irgendwelche Pläne haben.« Er gestikulierte unbestimmt in
Richtung der Urne.
Samantha blinzelte. »Pläne?«
Warner nickte. »Yeah. Ich frage mich, ob Sie sich schon Gedanken
gemacht haben, wo... was...« Er stockte wieder. Als ob er es nicht über sich bringt, die Worte
auszusprechen, dachte Sam verständnisvoll: »Was hast du mit der Asche vor?«
»Wenn nicht«, fuhr der Pilot hastig fort, »hätte ich vielleicht
einen Vorschlag.«
Samantha sah auf in das Gesicht des alten Mannes und erkannte seine
Verlegenheit. Typischer Jetjokkey,
dachte sie freundlich. Den Tod spricht man
einfach nicht an, nicht wahr? Auf gewisse Weise war Warners
Unbehagen ergreifend. »Er hat mir gesagt, wo, Sid«, meinte sie
leise. »Kings Canyon. Die Sierra Nevada.«
Er lächelte. »Natürlich. Seit Chuck ihm den Ort das erstemal
gezeigt hat, konnte er nicht genug davon bekommen.«
Sam nickte. Chuck Yeager, dachte sie
bei sich. Wie ich es mir vorgestellt
habe. »Woran hatten Sie gedacht?« fragte sie nach einer
Weile neugierig.
»Spielt keine Rolle. Kings Canyon ist passend.«
»Nein«, hakte sie nach. »Es interessiert mich.«
Warner zuckte die Schultern. »Okay. Also, wissen Sie, da gibt es
dieses... ich schätze, Sie könnten es ein Museum nennen. Ein Ort, um die Namen derer zu
ehren, die an die Grenzen vorgestoßen sind. Ein paar der anderen
haben es arrangiert, daß ihre Asche dort aufbewahrt wird, und ich
dachte...« Er zuckte wieder die Achseln. »Also, ich dachte, Jimmy
könnte es gefallen, bei seinen Kollegen und Kameraden zu ruhen. An
Kings Canyon hatte ich nicht gedacht, aber eigentlich finde ich die
Idee noch besser.« Er lachte. »Jimmy war einfach nicht der Typ für
drinnen, nicht wahr?« Er klopfte auf den Urnendeckel.
»Wo ist dieser Ort?« fragte Samantha
neugierig. »Ich habe nie von etwas Derartigem gehört.«
»Werden Sie wohl auch kaum, wenn Sie kein Testpilot sind.
Testflieger werden nicht zu Berühmtheiten. Nicht wie die
Büchsenfleisch-Pseudopiloten, die sich abgesetzt haben, um bei
Mercury, Gemini oder Apollo mitzumischen.«
Sam lachte laut über die Mißbilligung in der Stimme ihres
Gegenübers. »Möglicherweise würde ich mir das gerne mal
ansehen.«
»Wann immer Sie in der Nähe sind«, erwiderte Warner leichthin. Sein
Lächeln verblaßte, und er streckte noch einmal die Hand aus, um das
polierte Metall zu berühren. »Es dürfte Zeit werden«, sagte er
zögernd, und wieder sah Sam den tiefen Schmerz in seinen Augen. Er
wandte sich ab.
»Sid.«
Er drehte sich um.
»Sid, Mags und ich halten eine Art kleine Totenwache für Pop-Pop.
Wenn Sie...«
Warner lächelte. »Eine Mini-Wake, eh? Gerne, Sam, aber ich kann
nicht. Verpflichtungen, einfach keine Zeit und all der
Mist.«
»Können Sie mir Ihre Telefonnummer dalassen?«
Er riß die Augen auf. »Ernsthaft?«
Sie zuckte die Schultern. »Es wäre doch schade, jemanden aus den
Augen zu verlieren, der Pop-Pop gekannt hat.«
Er seufzte und gab vor, enttäuscht zu sein. »Ach so, und ich
dachte, es wäre mein männlicher Charme.« Er klopfte seine Taschen
ab. »Keine Visitenkarten.« Er streckte den Arm aus und griff sich
ein Blatt Papier von einem nahen Tisch. Hastig kritzelte er eine
Zahlenfolge. »Rufen Sie an, wann immer Sie wollen, Sam. Jimmys
Enkelin ist auch meine Enkelin...« - seine Miene fiel komikerhaft
in sich zusammen - »... und da ich weder an Inzest noch an
Country-Musik interessiert bin, muß ich zugeben, das ist so
ziemlich das Traurigste, was ich seit Jahren gehört
habe.«
Sam lachte laut auf. »Klarer Himmel«, rief sie ihm hinterher, als
er das Wartezimmer des Bestattungsunternehmens verließ.
Die Messingurne stand neben Samantha auf dem Kopilotensitz der Yellow Bird, von einem Sicherheitsgurt festgehalten. Unter ihr lagen die Berge der Sierra Nevada in all ihrer Pracht, zerklüftete Gipfel, die in den Himmel ragten und das kleine Flugzeug zwischen ihren Hängen einschlossen. Auf den höchsten Bergspitzen erstrahlte Schnee in unfaßlichem Weiß, während die tieferen Hänge baumbewachsen waren. Das Gelände war phantastisch - wahrhaft phantastisch, wie etwas aus einem Traum oder einer Phantasievorstellung. Sie hatte die Sierra Nevada schon früher überflogen, aber sie hatte sie sich nie wirklich angesehen, nicht so wie jetzt. Wie mag es sein, da unten zu sein? Zu Fuß, umgeben von diesen Bergen, die Gipfel über sich aufragen zu sehen? Es muß wunderbar sein.
Sie seufzte, und wieder einmal vernebelte sich ihr Blick. Sie rieb sich die Augen. Pop-Pop hatte recht, dachte sie. Das ist der richtige Ruheplatz für ihn, nicht die zahmen Hügel von Eagle Mountain. Und auch nicht Sid Warners Testpilotenmuseum.
Sie nahm vorsichtig Gas weg und fiel um tausend Fuß. Sie flog eine tiefe Schlucht mit steilen Wänden hinab. Einige Meilen voraus glitzerte ein Bergsee in der Sonne. Den Steuerknüppel zwischen den Knien, griff sie hinüber auf den Sitz neben sich und löste den Gurt, der die Urne hielt. Die Tragflächen wakkelten leicht, als sie den Messingbehälter in den Schoß nahm. Eigentlich hätte sie aus Sicherheitsgründen einen Kopiloten mitnehmen müssen, der die Kontrollen für sie übernahm, während sie Pop-Pops letzten Wunsch erfüllte. Sie wußte, daß Maggie bereitwillig mitgekommen wäre. Möglicherweise fühlte die ältere Frau sich sogar übergangen, weil sie nicht eingeladen worden war, mitzufliegen, aber es erschien ihr einfach richtiger, diesen letzten Akt allein durchzuführen.
Sie schob das kleine Seitenfenster neben sich auf. Der Sog peitschte durch die Kanzel und trug den klaren, sauberen Geruch der Berge, der Schneewüste herein. Vorsichtig nahm sie den Deckel von der Urne und hob den Behälter ans Fenster.
Vorsichtig jetzt. Sie mußte die Urne weit aus dem Fenster halten, unter den Rumpf, damit der Sog den Inhalt davontrug. Sie lächelte ein wenig traurig. Irgendwie habe ich meine Zweifel, daß Pop-Pop begeistert darüber wäre, die Ewigkeit hinten im Yellow Bird zu verbringen.
Langsam drehte sie die Urne um. Der Wind erfaßte die feine, körnige Asche und trieb sie in einer sich schnell auflösenden Wolke davon. Adieu, Pop-Pop.
Samantha stellte die leere Urne wieder auf den Sitz neben sich und schloß das Fenster. Mit einem letzten Blick auf die Berge unter sich, die Berge, durch die Pop-Pop mit Chuck Yeager gewandert ist, zog sie die Glasair in den Steigflug und drehte in Richtung Küste ab.