22
Lieber Gott, es kann doch nicht schon wieder Morgen sein...Sam wälzte sich herum und zog das Kissen über den Kopf, um ihre Ohren zu verdecken. Natürlich war das zwecklos. Sie hatte nie wirklich verstanden, warum die Armee - jedenfalls den meisten Filmen nach zu urteilen, die sie gesehen hatte - selbst Ende des zwanzigsten Jahrhunderts noch Trompeter einsetzte, um die Truppen aus den Betten zu holen. Jetzt wußte sie, warum. Weil es ziemlich unmöglich ist, Töne mit einer Menge Unterschwingungen und Obertönen, wie zum Beispiel Trompetensignale, zu ignorieren, egal, wieviel man sich in die Ohren stopft.
Der Saberstall hielt sich keinen Trompeter, aber offensichtlich waren die tonangebenden Gewalten des Stalls mit dem Prinzip nur zu vertraut. Aus Lautsprechern in der Durchreisendenkaserne, die zu gut versteckt waren, als daß die Insassen sie hätten aufspüren und unschädlich machen können, gellte ein greller, elektronischer Alarm, der Sam an die Sirenen in alten Kriegsfilmen erinnerte. Es war ganz unmöglich, ihn zu übergehen oder weiterzuschlafen.
Mit einem wilden Fluch wälzte sie sich aus dem Bett und schrie auf, als ihre nackten Füße den kalten Steinboden berührten. (Noch etwas, das die tonangebenden Gewalten verstanden haben, nahm sie an. Die Kasernen müssen arschkalt sein. Auf die Weise trödeln die Soldaten nicht beim Anziehen, einfach, weil das zu unangenehm ist.)
Und für eine Zigarette könnte ich morden ... Zu ihrer Überraschung wurde ihr allmählich klar, daß ausgerechnet das eine der härtesten Umstellungen war, die sie absolvieren mußte. Wenn überhaupt jemand auf Solaris Sieben Nikotin inhalierte, dann hatte sie davon zumindest noch nicht das leiseste Anzeichen gefunden. Zeit, es wieder aufzugeben, dachte sie sarkastisch. Das, was hier geraucht wird, bringt mir gar nichts.
Keine zehn Minuten nach dem Weckalarm war Samantha geduscht, angezogen und bereit, sich dem Tag zu stellen. So bereit, wie ich es fertigbringe, korrigierte sie mit einem Seufzen. Bloch wartete wie üblich draußen vor der Kaserne, den Offiziersstock (inzwischen wußte sie, daß es ein elektrischer Schockstab war) unter dem Arm.
»Sensei!« Sie nahm zackig Haltung an.Der Hüne lächelte sie an. »Wir werden heute auf unseren kleinen Auslauf verzichten, Ms. Dooley«, stellte er jovial fest.
Es kostete sie ihre gesamte Selbstkontrolle, sich nichts anmerken zu lassen. ›Unser kleiner Auslauf‹ war Blochs Umschreibung für die brutalen drei Durchgänge der Tramingsstrecke, mit denen Sams Tag üblicherweise begann.
»Ich finde, es wird Zeit, daß Sie zu den anderen stoßen«, sagte er nach einer kurzen Pause. Seine Stimme war völlig sachlich, als er weitersprach: »Falls Sie meinen, dem gewachsen zu sein.«
Sam hätte fast gelächelt, so offensichtlich war die Falle. Sie antwortete nicht, blieb kerzengerade stehen und starrte geradeaus.
Nach einer Sekunde des Abwartens lächelte Bloch. »Sie lernen es, Ms. Dooley«, knurrte er wohlwollend. »Sie lernen es. Hier entlang.« Er drehte auf dem Absatz um und marschierte los. Offenbar erwartete er von Sam, daß sie ihm folgte.
Genau das tat sie auch, holte ihn schnell ein und folgte ihm im Gleichschritt, einen Schritt schräg links hinter ihm. (Er hatte ihr nie gesagt, daß sie einem vorgesetzten Offizier auf diese Weise zu folgen hatte, aber sie war sich sicher, es irgendwann einmal in einem Roman gelesen zu haben. Und Bloch schien es zu gefallen, woher sie es auch immer hatte.) Als sie die Durchreisendenkaserne hinter sich ließen, räusperte Sam sich.
»Was?« schnappte Bloch.
»Ich wollte nach meiner Aufgabe fragen, Sensei.« Der Hüne warf ihr
einen fragenden Blick über die
»Ja, Sensei«, stimmte sie zu. »Aber der Saberstall macht nicht nur das, nicht wahr?« Sie zeigte in Richtung der großen Hangars, die sie am ersten Tag in der Anlage gesehen hatte. »Es gibt hier auch Mechs.«
»Natürlich.«
»Ich kann einen Mech steuern, Sensei.«
Bloch hielt so plötzlich an, daß Sam fast mit ihm
Sam hielt seinem Blick stand. »Ich habe schon
einen Mech gesteuert, Sensei.«
»Schwachsinn. Wo? Wann?«
»Auf Solaris. In der Wildnis außerhalb von Rolandsfeld.«
»Wessen Mech?« herrschte er sie an.
»Das kann ich Ihnen nicht sagen, Sensei.« Sie
würden es mir ohnehin nicht glauben.
Blochs Augen verengten sich. »Welcher Typ?«
Sam zögerte. »›Privateer‹«, antwortete sie, in Erinnerung an die
Bugverzierung des UFT-Cockpits.
»Mir ist egal, wie Sie ihn genannt haben«, höhnte Bloch. »Welcher
Typ?«
»Das kann ich Ihnen nicht sagen, Sensei«, antwortete Sam tonlos.
Und das ist die reine Wahrheit.
»Schwachsinn!« knurrte der Ausbilder wieder. Aber in seinen
Augen lag Berechnung, als er Sam musterte, als sähe er sie zum
ersten Mal. »Hier entlang«, schnappte er plötzlich, und wieder
hatte Sam Mühe, ihn einzuholen.
Er führte sie in Richtung der Mechhangars. Wie zuvor standen die
Haupttore offen, aber diesmal arbeitete niemand an den riesigen
Kolossen im Innern des abgedunkelten Baus. Bloch hielt vor dem Fuß
eines der BattleMechs an und drehte sich erwartungsvoll zu Samantha
um. »Also los«, sagte er leise. »Steigen Sie ein und fahren Sie ihn
hoch. Danach reden wir noch einmal über Ihren Auftrag.«
Sam starrte die riesige Metallgestalt, die gute neun Meter über ihr
aufragte, ärgerlich an. Dieser BattleMech war nach deutlich anderen
Prinzipien entworfen als alle anderen Einheiten, die sie bis jetzt
gesehen hatte. Statt aus scharfen, kantigen Panzerplatten schien
dieses Modell ganz und gar aus Rundungen zu bestehen. Jedes
einzelne Bauteil schien ein Kreissegment, ein Zylinder oder eine
Kugel.
Und das hieß, es boten sich Hand und Fuß keine einfachen Griffe und
Stufen an. Bei einer der anderen Mechkonstruktionen, die sie bis
jetzt gesehen hatte, hätte sie es sich überlegt, am Rumpf
hochzuklettern und zu versuchen, das Cockpit zu öffnen. Aber nicht
bei dieser Maschine - sie hätte etwa so viel Glück gehabt wie bei
einem Versuch, an einem Wasserspeicher emporzuklettern...
ohne Leiter. (Wahrscheinlich besser so, sagte sie sich.
Sich zu übernehmen, aus mehreren Metern Höhe
abzustürzen und meinen Hals zu brechen, ist kaum eine
empfehlenswerte Art, positiv aufzufallen.)
Sie streckte die Hand aus und berührte das. Bein des Mechs, eine
mit Gelenken ausgestattete Metallsäule, dicker als ihr Körper. Das
Metall lag glatt und kühl unter ihren Fingern. Sie seufzte und sah
Jared Bloch an. »Vielleicht ist die Gladiatorenausbildung gar keine
so schlechte Idee«, meinte sie trocken.
Bloch kicherte. Es klang wie das Laufgeräusch eines schwergängigen
Motors. »Freut mich, daß Sie sich entschieden haben, meine Ansicht
zu teilen, Ms. Dooley«, stellte er sarkastisch fest. »Wenn Sie
sicher sind, daß wir
können...?«
Sams Schultern sackten, als sie Bloch folgte und den glänzenden
Mech in der Halle stehenließ.
Die leichte Kompositplastrüstung glich einer Sauna. Samanthas Haar klebte unter dem Vollhelm schweißnaß auf ihrer Kopfhaut, und ganze Schweißbäche flössen ihr Rückgrat hinab und sammelten sich unter den verstärkten Nierenschützern. Trotzdem konnte sie die Schauer nicht unterdrücken, die sie immer wieder schüttelten. Die hatten nichts mit der Temperatur zu tun. Genaugenommen hatten sie überhaupt keine körperliche Ursache.
Ich sehe zu, wie Menschen trainieren, einander zu killen. Das war es, was sie erzittern ließ, das Wissen darum, wie bald schon die Gladiatorenschüler, die vor ihren Augen ihre Trainingskämpfe absolvierten, all dies in einer echten Arena würden austragen müssen. Ohne Rüstung und mit echten Waffen statt gepolsterter Plastikattrappen. Ohne Trainer, die Anweisungen brüllten und die Kämpfe abbrachen, bevor jemand versehentlich verletzt wurde. Ohne andere Schüler, die am Rand des Kampfplatzes standen, zusahen und im Geiste Strategien für die eigenen Trainingsgefechte durchgingen. Statt dessen vor zahlenden Zuschauern, im Sand der Arena, unter den grellen Scheinwerfern der Trividkameras. Zwischen Blut, Schmerz und Tränen.
Auf dem Weg zum Trainingsbereich hatte Jared
Bloch ihr einen kurzen Überblick über die Gladiatoren-›Spiele‹ in
Rolandsfeld gegeben. Gladiatoren waren Berufskämpfer, denen ihre
Ställe Unterkunft und Verpflegung stellten sowie ein Grundgehalt
zahlten. Darüber hinaus erhielten sie Bonuszahlungen für Siege in
der Arena und Abzüge für dumme Fehler. Als die Gladiatorenarenen -
die Todesgruben
- zwanzig Jahre zuvor in Rolandsfeld ihre Pforten geöffnet hatten,
waren sie trotz des blutrünstigen Namens Austragungsort rein
sportlicher Wettkämpfe gewesen. Ursprünglich waren die Kämpfer
gepanzert und mit stumpfen Waffen angetreten, die selbst im
schlimmsten Fall nicht mehr als Prellungen verursachen konnten.
Am Anfang hatten die Kämpfe bei den Rolandsfeldern reichlich Anklang gefunden, aber es hatte nicht lange gedauert, bis das Interesse erlahmt war. Anscheinend waren die Zuschauer in Rolandsfeld zu abgestumpft, um sich sonderlich um zwei Gegner zu scheren, die dick genug gepolstert waren, um eine Kleinkaliberkugel abzufangen, bevor sie ihre Haut erreichte, und sich mit Waffenattrappen prügelten. Etwas mußte geschehen.
Vor ungefähr fünfzehn Jahren waren die Gladiatoren-›Spiele‹ dann laut Bloch modernisiert worden. Die Arenakämpfer trugen von nun an keine Rüstungen mehr, und die stumpfen Waffen wurden durch Schockstäbe verschiedener Größen und Formen ersetzt. Wie Sam aus der Beschreibung des Sensei entnehmen konnte, arbeiteten diese nach demselben Prinzip wie irdische Teaser. Ein Stromstoß von hoher Spannung, aber geringer Stärke lähmte die Muskeln im Trefferbereich der Waffe. Ein Armtreffer lähmte den Arm, ein Beintreffer machte es dem Getroffenen unmöglich zu gehen. Ein Körpertreffer verursachte genügend starke Schmerzen, um das Opfer wirksam auszuschalten. Ein Kopftreffer ...
Tja, genau das war anscheinend das Problem gewesen. Ein Kopftreffer konnte das Opfer einfach in eine Ohnmacht stürzen oder für eine Weile mit einer fürchterlichen Migräne aus dem Gefecht werfen. Aber er konnte auch tödlich sein, indem er das Gehirn schlichtweg abschaltete.
Wie es schien, gefiel gerade das dem Publikum; die reale Todesgefahr verlieh dem Sport einen zusätzlichen Kitzel. Innerhalb von Monaten hatten alle Todesgruben auf die neuen Schockwaffen umgerüstet... und wurden ihrem Namen zum erstenmal gerecht.
Und jetzt, erklärte Bloch, machte der Sport eine erneute Verschärfung durch. Selbst Schockwaffen reichten nicht mehr aus, das zunehmend abstumpfende Publikum zu reizen. Die Zuschauer verlangten nach echtem Blut, echtem Tod.
Bis jetzt erlaubten nur ein paar wenige Arenen Kämpfe bis zum Tod, und erst weniger als sechs Ställe waren bereit, ihre Kämpfer dafür aufzustellen. Selbst diese Ställe erlaubten ihren Gladiatoren nur, sich von sich aus für Kämpfe dieser Art zu melden, und teilten sie nicht dazu ein. Die Stallbesitzer ließen verlauten, daß kein Gladiator jemals gezwungen werden würde, eine Herausforderung zu einem Todesduell anzunehmen, aber gleichzeitig boten sie astronomische Bonuszahlungen für solche Duelle an, so daß sich eine wachsende Anzahl von Gladiatoren freiwillig aufstellen ließ. Immerhin brauchte ein Gladiator, so wie die Bonusstruktur aufgebaut war, nur fünf oder sechs Todesduelle zu überleben, und er hatte ausgesorgt - war reich genug, den Stall zu verlassen und den Rest seines Lebens im Luxus zu verbringen. Da die meisten Gladiatoren aus den Schrotthalden oder ähnlichen ›Erholungsgebieten‹ stammten, in denen Armut der schlimmsten Sorte herrschte, und bei einem Verlassen des Stalls damit rechnen mußten, in kürzester Zeit wieder genau dort zu landen, hatten die Todesduelle eine sehr reale Anziehungskraft.
(Sam seufzte. Ohne Zweifel planten die meisten Gladiatoren, die sich auf Todesduelle einließen, zu Anfang wirklich, nach dem fünften oder sechsten Sieg auszusteigen. Aber Bloch stellte fest, daß viele, wenn sie erst soweit gekommen waren, nicht mehr bereit oder fähig waren, der Arena den Rücken zu kehren. Entweder hatte der ultimative Adrenalinrausch der Todesarena sie in den Klauen, oder sie hatten ihre Siegprämien bereits verpraßt und nichts auf die hohe Kante gelegt, um einen Ruhestand zu finanzieren.)
Der Saberstall war eine der Organisationen, die ihren Gladiatoren keine Teilnahme an Todesduellen gestattete, selbst wenn diese wollten. Offensichtlich waren die tonangebenden Gewalten des Stalls Gegner der jüngsten Veränderungen und planten, sich dem Vormarsch der Todesduelle so lange wie möglich zu widersetzen.
Bloch war allerdings überzeugt, daß ihnen das nicht mehr allzu lange möglich sein würde. Die Zuschauer stimmten mit den Füßen - und die Trividsender mit der Brieftasche -, und der Ausgang war vorbestimmt. Arenen, in denen keine Todesduelle stattfanden, verloren rapide an Zuschauern und standen vor der Wahl zwischen einer Änderung ihrer Geschäftspolitik oder dem Bankrott. Dasselbe galt natürlich für die Ställe. Es war ein überdeutliches Menetekel: In nicht allzu ferner Zukunft würde die überwältigende Mehrheit - wenn nicht alle Arenakämpfe - bis zum Tode ausgetragen werden.
Sosehr sie das Ganze auch mißbilligen mögen, die tonangebenden Gewalten scheinen kein Problem damit zu haben, sich auf diese Veränderung vorzubereiten, dachte Sam säuerlich. Das ›Kurzschwert‹ auf ihren Knien hatte weder eine Schneide noch eine Spitze. Es war nicht einmal ein echtes Schwert: Es war eine ›Simulationswaffe‹, so konstruiert, bei einem Treffer die Farbe des roten Kompositplasts der Rüstungen zu verändern, in der sie und die anderen Schüler steckten. In diesem Sinne war es ungefährlicher - und bedeutend weniger schmerzhaft - als eine Schockwaffe. Aber Sam beunruhigte, was es repräsentierte. Diese Simulationswaffe ähnelte in Größe und Form nicht einmal annähernd einer Schockwaffe und war auch völlig anders ausbalanciert. Das aber bedeutete, sie und die anderen Schüler trainierten damit nicht für Schockduelle. Dieses Ding verfügt über das Gewicht und die Balance eines echten Schwerts, stellte sie grimmig fest. Also ist es genau das, was wir hier einüben - echte Duelle mit echten Schwertern.
Auf dem Übungsgelände kämpfte Jonas Clay gegen einen anderen Schüler. Beide waren flink und sehr aggressiv, aber keiner von ihnen schien mit dem simulierten Kurzschwert in seiner Hand sonderlich glücklich. Daraus, wie sie sich bewegten, schloß Sam, daß sie längere, schwerere Waffen gewohnt waren. Ihre Stöße waren regelmäßig eine Handbreit zu kurz und ließen dem Gegner genug Platz, auszuweichen. Ihre Hiebe kamen zu langsam und waren zu deutlich ›angekündigt‹.
Schließlich erzielte Clays Gegner einen Treffer, einen Streifschlag über Jonas' Brustpartie, der eine grüne Leuchtspur über die elektroreaktive Rüstung zog. Clay fluchte wild, während sein Gegner sich in dem Sieg sonnte. Was für ein Sieg, dachte Sam. Du hast ihn nicht besiegt, Clay hat den Kampf verloren. Sie fühlte einen leichten Stich, eine leise Trauer - ein Gefühl des Verlusts, von Heimweh -, als sie sich an die Worte ihres Fechtlehrers erinnerte. Was hat er mir damals gesagt? ›Beim Fechten verliert, wer den ersten Fehler macht.‹ Das war es, nicht wahr? Clay, du hast einen Fehler gemacht.
Bloch trat in den Ring und schickte den anderen Schüler auf die Seitenlinie. Dann nahm er Clay zur Seite und redete fast eine Minute leise auf ihn ein. Als der Sensei davonging, nahm Jonas seinen Vollhelm ab. Das Gesicht des jungen Mannes war puterrot - nicht nur vor Anstrengung, das sah sie sofort, sondern vor Scham. Bloch muß ihm gesagt haben, daß er es versaut hat. Und so, wie ich Bloch kenne, hat er dabei kein Blatt vor den Mund genommen.
Sie dachte, sie hätte ihre Belustigung erfolgreich versteckt, aber der giftige Blick, den Clay ihr zuwarf, als er an den Rand des Platzes schlurfte, schien darauf hinzudeuten, daß sie sich damit doch erheblich verschätzt hatte. Früher oder später muß ich herausfinden, was mit diesem Kerl los ist und warum er so einen Haß auf mich hat, dachte sie, während sie Clay zu seinen Freunden treten sah. Als hätte ich noch nicht genug Sorgen.
»Die nächsten«, donnerte Bloch von der Mitte
des Übungsrings. »Dooley. Priss.«
Sam stand auf und ging los. Ihre Gegnerin war etwas langsamer. Es
war das Mädchen, das bei Clay gewesen war, als Samantha im Stall
eingetroffen war. Inzwischen hatte Sam herausgefunden, daß sie
Diana Priss hieß. Sie warf Bloch einen schnellen Blick zu.
Das war Absicht, nicht wahr? fragte sie
schweigend. Du hast mitbekommen, daß sie der
eine Mensch hier ist, mit dem ich mich anfreunden könnte, also
sorgst du dafür, daß wir uns gegenseitig zusammenschlagen
müssen.
Sie schüttelte traurig den Kopf. Na schön, so ist das Leben in Rolandsfeld, schätze
ich.
Bloch fragte beide Kontrahenten: »Fertig?«
Sam schloß das Visier ihres Helms. »Fertig.« Sie faßte das
Kurzschwert fester, während Priss ihren Helm schloß.
Bloch trat zurück, die Hand erhoben, dann ließ er sie mit einer
scharfen Bewegung nach unten fallen. »Los.«
Sam nahm augenblicklich die klassische En-gardeStellung des
Säbelkämpfers ein - das rechte Bein voraus, den Fuß auf Priss
gerichtet. Das linke Bein nach hinten, den Fuß senkrecht zur
Körperachse. Den linken Arm aus dem Weg, die Hand auf der Hüfte.
Den rechten Ellbogen halb gebeugt und entspannt, die Spitze ihres
›Schwerts‹ auf die Augen des Gegners gerichtet. (Interessant, stellte ein unbeteiligt beobachtender
Teil ihres Geistes fest. Es ist fast sechs
Jahre her, daß ich gefochten habe, aber die Bewegungen kommen
augenblicklich zurück.) Sie zwang sich, sich zu entspannen,
tief durchzuatmen - auf Priss' Attacke zu warten.
Aber Priss schien es mit den Angriff nicht eilig zu haben. Entweder
spielte sie dasselbe Spiel wie Sam hielt sich zurück und wartete
darauf, daß ihre Gegnerin zum Angriff überging, um ihre Stärken und
Schwächen abschätzen zu können -, oder die Rüstung, die simulierten
Waffen oder das, wofür sie standen, schüchterte sie ein.
Wahrscheinlich ein wenig von beidem,
entschied Sam. Na schön, wenn hier irgendwas
passieren soll, dann wollen wir die Show mal in Gang
setzen.
Sie spannte bewußt die Muskeln des rechten Armes an, ließ die
Spitze ihrer ›Klinge‹ zittern, in der Hoffnung, Priss werde es als
Unsicherheit auslegen. Sie bewegte sich leicht nach rechts, als
wolle sie um ihre Gegnerin kreisen. Während der Bewegung ließ sie
die Klinge ein wenig zur Seite gleiten, so daß sie nicht mehr
direkt auf die andere Kämpferin zielte.
Wie Sam erwartet hatte, nutzte Priss die gebotene Öffnung aus. Sie
sprang vor und stieß gerade auf Sams ungedeckten Körper, genau aufs
Herz.
Ihr Stoß war zu kurz, wie Sam es vorausgesehen hatte. Sie riß das
eigene Schwert zurück in Position zu einer Lehrbuchquartparade.
Bevor Priss sich wieder fangen konnte, folgte Sams Riposte - ein
schneller Hieb aus dem Handgelenk zum Kopf...
Eine Finte. Priss' Klinge zuckte hoch, um den Kopfangriff
abzublocken, aber da hatte Sam ihn bereits in einen abwärts
gerichteten Seitenhieb verwandelt. Sams Waffe schlug in Höhe der
Rippen ihrer Gegnerin auf die Rüstung und ließ deren gesamte Flanke
grün aufleuchten. Wieder übernahm Sams Training die Führung.
Während Priss noch ungläubig auf die ›tödliche Verletzung‹ starrte,
trat Sam zurück und hob das Schwert zackig zum Salut - die Klinge
senkrecht vor dem Gesicht, das Stichblatt in Höhe der
Lippen.
Als Sam das Schwert senkte, legte sich eine fleischige Hand auf
ihre Schulter. Blochs Miene war ausdruckslos, als sie sich zu ihm
umdrehte. »Du hast sie gut getäuscht«, stellte der Hüne in
geschäftsmäßigem Ton fest. »Aber laß das nicht zur Gewohnheit
werden. Wenn du einem guten Fechter so
eine Öffnung bietest, hat er dein Herz aufgespießt, bevor du weißt,
wie dir geschieht.«
»Ja, Sensei«, schnappte sie. Als sie an den plötzlich stillen Rand
des Trainingsgeländes zurückkehrte, konnte sie ein Grinsen nicht
unterdrücken - Gott sei Dank war es hinter dem Helmvisier nicht zu
sehen. Bei aller Kritik in Blochs Worten hatte sie die
Zufriedenheit - beinahe den Stolz -
herausgehört, die er zu verstecken versucht hatte.
Sam trat an diesem Morgen noch gegen zwei weitere Gegner an und gewann beide Kämpfe. Trotz Blochs Ermahnung benutzte sie beinahe die genau gleiche Taktik gegen ihre nächste Gegnerin, eine Frau namens Wilkinson. Sie funktionierte ebenso gut wie bei Priss, und Sam merkte sich diese Erkenntnis für später. Du lernst wahrscheinlich genug aus eigenen Fehlern, dachte sie mit Blick auf Wilkinson, aber du hast noch nicht herausgefunden, wie man von den Fehlern anderer lernt.
Bei ihrem dritten Duell an diesem Tag stand sie Jonas Clay gegenüber. Als der rauhbeinige junge Schläger aufs Feld stolzierte, sah sie hinüber zu Bloch - der eine zweihundertprozentige Gleichgültigkeit an den Tag legte und irgendwo zum Horizont blickte. Erst eine potentiell beste Freundin und jetzt einen potentiellen Todfeind, dachte sie trocken. Was für ein verqueres psychologisches Spiel treibst du hier, Sensei?
Sie besiegte auch Clay, aber dieser Kampf war sehr viel ausgeglichener. Im Gegensatz zu Wilkinson hatte er aus den Kämpfen der anderen Schüler gelernt, und er weigerte sich beharrlich, die ›Öffnungen‹ anzunehmen, die Sam ihm bot. (Er verpaßte allerdings auch die einzige echte Öffnung, als ihr Fuß auf dem Kies ausrutschte, und lieferte Sam damit ungewollt genau die Moralspritze, die sie in diesem Augenblick brauchte.) Schließlich entschied er sich zur Attacke und griff schnell und hart mit einem Hagel von Hieben auf Sams Kopf an. Sie parierte sie alle, aber er war zu schnell, um ihr eine saubere Öffnung für eine Riposte zu liefern. Also hielt sie nur stand und wob ein Netz aus simuliertem Stahl vor sich, das er nicht durchbrechen konnte. Schließlich wurde er, wie erwartet, ein Opfer von Erschöpfung und Enttäuschung und ließ in seiner Aufmerksamkeit für einen Sekundenbruchteil nach. Sie fintierte - diesmal nur mit dem Ellbogen - und zog seinen Arm hoch, um einen Kopfhieb abzuwehren...
Der nie kam. Sams Klinge war noch immer en garde, da ihre Ellbogenfinte deren Angriffswinkel nicht einmal im Ansatz verändert hatte, und sie stieß schnell und gerade genau auf seinen Solarplexus. Selbst durch die gepolsterte Rüstung ließ der Schlag ihn aufkeuchen. Sie trat zurück - kein Salut für Clay, entschied sie in der Stimmung des Augenblicks - und drehte sich um.
Jonas' unerwarteter Hieb auf ihren Hinterkopf war trotz der Helmpolsterung hart genug, ihr die Sicht vor Augen verschwimmen zu lassen. Der Magen verkrampfte sich, und ihre Ohren gellten von schrillem, metallischem Hallen. Sie stolperte unter der Gewalt des Schlages nach vorne, versuchte, sich umzudrehen und die Waffe zu heben, um den nächsten Angriff abzuwehren.
Es gab keinen nächsten Angriff. Jonas Clay lag stöhnend am Boden und umklammerte seinen rechten Oberschenkel. Zusätzlich zu dem leuchtenden grünen Fleck auf dem Körperpanzer, wo Sams Stoß ihn getroffen hatte, war der gesamte rechte Oberschenkelpanzer der Rüstung strahlend gelb. Jared Bloch stand über ihm, den Schockstab zu einem weiteren Hieb bereit, sollte er nötig werden.
»Das kostet Sie einen Verweis, Mr. Clay«, stellte der Sensei mit einer Stimme fest, die kaum mehr als ein eiskaltes Flüstern war. Er wandte sich von dem am Boden liegenden Schüler ab wie von einem Stück Abfall. »Sie haben gut gekämpft, Ms. Dooley«, sagte er zu Sam. »Aber lernen Sie aus diesem Zwischenfall: Ein Kampf ist erst zu Ende, wenn Ihr Gegner völlig neutralisiert ist. Haben Sie das verstanden?«
Sie sah hinab zu Clay, der sich nach dem Schockstabhieb noch immer vor Schmerzen am Boden krümmte. »Ja, Sensei«, schnappte sie.
Alle anderen Schüler mieden Sam auf dem Weg zum Essen, und sie folgte der Gruppe in einigem Abstand. Jonas Clay und seine engsten Speichellecker nahmen sie gerade soweit zur Kenntnis, um sie mit unverhülltem Haß anzustarren. Die meisten anderen Schüler schienen es zufrieden, nicht in den Streit verwickelt zu sein, und machten um Clays Clique einen ebensolchen Bogen wie um Samantha. Und dann gab es noch ein paar, darunter auch Diana Priss, die bereit schienen, Sam näher kennenzulernen - die sich mit ihr angefreundet hätten, wären da nicht Clay und seine Genossen gewesen. (Typisch, dachte Sam ärgerlich. Der einzige, den ich mir wirklich zum Feind mache, ist natürlich jemand mit echtem Einfluß unter den Schülern, jemand, mit dem es sich niemand verderben will. Guter Zug, Dooley.) Als sie die Messe erreichten, drehte sich Priss gerade lange genug zur Seite, um Samantha ein kurzes Lächeln zuzuwerfen. Dann verschwand sie im Innern des Gebäudes. Mit einem Seufzen legte Sam die letzten Schritte bis zum Eingang zurück und griff nach der Klinke.
»Samantha Dooley?«Sam drehte sich um. Der Mann, der gerade um die Ecke des Gebäudes gekommen war, sah mit zweifelndem Blick auf einen der tragbaren Computer, die in dieser Welt die Funktion von Klemmbrettern auszufüllen schienen. Sie hatte ihn hier noch nie gesehen. Sein quadratisches Gesicht mit den groben Zügen war ihr fremd. Er trug einen Overall derselben Art wie sie, aber ihm schien er besser zu passen als irgend jemandem, den sie bisher darin gesehen hatte. Maßarbeit? fragte sie sich. Ein Privileg höherer Ränge, schätze ich. »Ich bin Dooley«, antwortete sie.
»Dann kommen Sie mit«, forderte der Mann sie
auf. »Jemand möchte mit Ihnen reden.«
»Wer?« fragte sie und fügte verspätet hinzu: »Sir?«
Beinahe hätte ihr Gegenüber gelächelt. »Mandelbaum.« Sam wartete.
Der Name sagte ihr nichts. »Tai-sa Mandelbaum«, erklärte er, hörbar
überrascht. »Ihm gehört der Stall.« Jetzt lächelte er wirklich.
»Tja, Schülerin Dooley, entweder haben Sie echtes Glück, oder Sie
haben Mist gebaut... gewaltigen
Mist.«
Er drehte sich um. Dann rief er über die Schulter: »Kommen
Sie?«