11
Sam träumt. Sie weiß, daß es ein Traum ist. Sie weiß, daß sie in ihrem Bett in der Wohnung in Venice liegt. Aber dieses Wissen ändert nichts. Sie kann das Geschehen in ihrem Traum nicht beeinflussen. Sie kann sich nicht daraus lösen und in die Wirklichkeit zurückkehren.
Sie ist wieder bei Generro Aerospace - irgendwie weiß sie das, obwohl sie keine vertrauten Orientierungspunkte sieht - und wandert, begleitet von Jacques Leclerc, durch endlose Büroflure. Leclerc redet mit ihr, während sie scheinbar ziellos die Gänge entlangschlendern. Sie hört seine Stimme klar und deutlich, aber irgendwie gelingt es ihrem Gehirn nicht, die Laute auf sinnvolle Weise zu interpretieren. Es ist, als hätte sie die Fähigkeit der Sprache verloren.
Dasselbe gilt für die Namensschilder auf den Türen, an denen sie vorbeikommen, und die Hinweise an den Wänden. Sie erkennt einzelne Buchstaben und weiß, daß sie Worte formen, die sie kennen müßte, aber sie erscheinen ihr so sinnlos, daß sie ebensogut in Kyrillisch geschrieben sein könnten.
Aus dem Augenwinkel bemerkt sie eine Bewegung: eine der zahllosen Bürotüren hat sich geöffnet. Sie blickt sich gerade noch rechtzeitig um und sieht jemanden ins Zimmer zurückweichen. Die Tür schließt sich wieder. Jemand, den sie kennt: Sid Warner? Er muß es gewesen sein. Sie ist sich sicher.
Die Stimme neben ihr verändert sich. Plötzlich hört sie nicht mehr Leclercs schwachen europäischen Akzent, sondern eine leisere, unsichere Stimme. Einen Augenblick lang erinnert sie Sam an den jungen Ingenieur, den sie am ersten Tag in Pop-Pops Haus getroffen hat: Ernest Macintyre. Ihr Kopf fliegt herum, aber es ist immer noch Jacques Leclerc neben ihr. Noch bevor sie sich umgedreht hat, ist seine Stimme wieder wie gewöhnlich.
Sie spürt ein unangenehmes Prickeln im Nacken - jemand starrt auf mein Grab, so hat ihre Mutter das Gefühl genannt. Instinktiv dreht sie sich um.
Hinter ihnen erstreckt sich der Korridor unendlich weit in die Ferne, meilenweit, bis seine Wände in einem winzigen Punkt verschwinden. Jemand folgt ihnen. Mit einer seltsamen, unzweifelhaften Gewißheit weiß sie, daß dieser Jemand schon immer da war, auch wenn sie sich dessen eben erst bewußt geworden ist. Obwohl sie zu weit entfernt ist, um irgendwelche Einzelheiten zu erkennen, glaubt sie, die Person zu erkennen, die ihnen folgt. Die Art, wie sie geht, wie sie sich bewegt... Pop-Pop.
Es ist ihr Großvater, der ihr schweigend folgt. Einen Augenblick lang erwägte sie, ihm entgegenzulaufen, aber da sind - in einem dieser jähen Wechsel, die nur im Traum möglich sind - Pop-Pop, Leclerc und der endlose Flur verschwunden. Sie sitzt an Grendels Steuer und fährt langsam durch das Haupttor der Generro-Anlage, hinaus auf den Highway. Wie in der Wirklichkeit kommt ein weißer Lastzug aus der anderen Richtung - von Osten. Aber diesmal ist er etwas früher da und donnert dicht an Grendel vorbei, als er zu Generro einschwenkt. Ihre Sprachfähigkeit ist noch nicht zurückgekehrt. Sie kann das Logo auf der Seite des weißen Lastzugs nicht entziffern. Aber irgendwie kommt ihr das rotblaue Symbol sehr bekannt vor.
Sams Augen flogen auf, dann kniff sie die Lider hastig zusammen, um das grelle Morgenlicht auf der weißgetünchten Decke abzublocken. Mit einem leisen Fluch zog sie das Laken übers Gesicht, wälzte sich herum und vergrub das Gesicht im Kissen.
Mann, dachte sie. Was für ein verrückter Traum. War das ein nächtliches Psychodrama oder was? Ein Psychiater würde sich die Finger nach dieser Symbologie ablecken. Wie so häufig bei Träumen hatte auch dieser Elemente ihres wirklichen Lebens vereinnahmt, Dinge, an die sie gedacht, über die sie sich Sorgen gemacht hatte, und sie in diese besondere Form verwandelt.
Endlose Korridore? Das stand offensichtlich für das Rätsel, mit dessen Lösung sie beschäftigt war. (Und jetzt, da sie darüber nachdachte, galt sicher dasselbe für die Tatsache, daß sie Leclerc nicht hatte verstehen und die Schilder an den Wänden nicht hatte lesen können.) Leclerc und der Schauplatz Generro Aerospace? Daran war nichts Rätselhaftes: nur Wiederholungen des tatsächlichen Tagesablaufs. Das kurze Auftauchen Sid Warners? Das war nur eine Visualisierung ihres Verdachts, daß er eine zentrale Rolle in dem ganzen Puzzle spielte oder zumindest darin verwickelt war. Pop-Pop? Nun, er war eindeutig die Triebfeder des Ganzen, denn die Ereignisse rund um seinen Tod waren der Grund für ihre Aktionen.
Natürlich waren da wohl noch zwei Aspekte, die sie nicht so leicht deuten konnte. Warum hatte sich Leclercs Stimme für kurze Zeit in die Macintyres verwandelt? Und warum war es ihr so bedeutsam erschienen, daß ihr der Lastzug irgendwie bekannt erschien?
Der Lastzug! Sie richtete sich kerzengerade auf. Durch den Mahlstrom der Gedanken versuchte sie, ein mentales Bild des Lasters aufzubauen, den sie gesehen hatte. Des echten, nicht des Traumbilds.
Langsam erinnerte sie sich an Einzelheiten. Es war ein Standardlastzug, wie man ihm überall begegnete, die Art, mit der Brot, Gemüse oder Bürobedarf transportiert wurde. Oder Möbel. Obwohl der Blickwinkel nicht ideal gewesen war, hatte sie einen kurzen Blick auf die Seitenwand des Lastzugs werfen können, wie sie jetzt erkannte. Sie hatte dem nur keine Beachtung geschenkt. Jetzt konzentrierte sie sich auf die Details, an die sie sich erinnerte. Ja, da war etwas auf der Seite des Lasters. Ein Name oder ein Logo, in leuchtendem Rot und Blau.
Wie das Logo auf dem Umzugslaster, der PopPops Erinnerungsstücke abtransportiert hatte. Ja, vor ihrem inneren Auge stimmten beide Symbole überein. Es war ein Jones-Cartage-Laster, der zu Generro Aerospace eingebogen ist!
Dann traf sie die Wirklichkeit wie eine kalte Dusche. Nimm dich zusammen, Dooley, wies sie sich ärgerlich zurecht. Es war also dieselbe Firma. Und wenn! Das heißt noch lange nicht, daß da irgendeine Verbindung besteht. Jones Cartage hat sicher eine Menge Kunden. Eine Beziehung daraus zu konstruieren wäre eine ebenso große Idiotie wie - sie suchte nach einem Vergleich - wie anzunehmen, zwei Leute in verschiedenen Bundesstaaten steckten unter einer Decke, nur weil sie beide einen Mietwagen von Hertz fahren. Sie ließ sich zurück in die Kissen fallen.
Trotzdem, kam ihr ohne Vorwarnung ein anderer Gedanke, da ist ein Aspekt, den ich habe schleifenlassen...
Das Rogers Museum of Flight. Wenn Generro tatsächlich die Sackgasse darstellte, als die Amy Langland die Firma sah, konnte sie vielleicht in Rogers einen Hinweis finden. Zumindest teilweise beruhigt, daß sie einen neuen Angriffspunkt gefunden hatte, drehte Sam sich auf die Seite und versuchte, wieder einzuschlafen.
Rogers war eine kleine Ortschaft an der Route 58, um die sechzig Meilen Nordnordost von Los Angeles. Sie lag zwischen Boron und Four Corners, hart am Rand der Edwards Air Force Base. Als sie nach Osten durch die Cady Mountains fuhr, hörte Samantha das unverwechselbar reißende Heulen der Düsentriebwerke durch die Wüstenluft hallen. Wie immer brachte der Klang ein Lächeln auf ihr Gesicht: der Sound der Kraft, der Sound der Freiheit.
Drei Meilen östlich von Boron verließ sie den Highway. Rogers war typisch für die kleineren Orte in Mittelkalifornien: Die Art Kleinstadt, in der die Kids davon träumen wegzuziehen, dachte sie ein wenig zynisch. Ein guter Heimatort. Die Ortschaft bestand aus einer einzigen Hauptstraße, auf der mehrere Wagen schräg vor dem Drugstore parkten und ein paar andere vor einem Supermarkt mit verstaubten Schaufenstern. Ein kleines Motel - einfallslos Desert Inn getauft und besseren Zeiten nachtrauernd - stand verloren am Ortseingang. Sam fuhr langsam die Hauptstraße entlang. Nur zwei Personen schienen bereit, sich bei der Hitze ins Freie zu wagen, denn selbst jetzt, gegen sieben Uhr abends, war es noch unangenehm heiß. Sie sahen dem weißen Mustang gelangweilt nach, als er an ihnen vorbeischlich.
Das Fliegermuseum befand sich in der Ortsmitte, gegenüber einem Mr. Frosty mit vernagelten Fenstern. Wahrscheinlich war das Haus früher eine Bank gewesen, dachte Sam, als sie den Wagen abstellte und nach einem Quarter für die Parkuhr suchte. Die Betonfassade war vor ein paar Jahren neu gestrichen worden, aber die Jahreszahl auf dem Türsturz zeigte, daß das Haus aus den Tagen kurz nach der Depression stammte.
Sie betrachtete das kleine Gebäude zweifelnd. Wieso verschwende ich hier meine Zeit? fragte sie sich kopfschüttelnd. Sie zupfte am Stoff ihrer Bluse, die verschwitzt am Rücken und den Schultern klebte. Bloß zurück auf den Highway.
Ein handschriftlicher Zettel an der Tür verkündete, daß das Museum bis halb acht Uhr abends geöffnet hatte. Das gab ihr nur eine halbe Stunde. Nicht genug Zeit für den Besuch eines echten Museums, aber wahrscheinlich mehr als genug für dieses. Sie stieß die Glastür auf und trat ein.
Die Luft im Innern war kühl, fast kalt, und der Schweiß auf ihrem Rücken wurde unangenehm frostig. Im Gegensatz zum strahlenden Sonnenschein auf der Straße wirkte das Gebäudeinnere düster. Sie blieb in der Tür stehen und blinzelte, bis sich ihre Augen an die veränderten Lichtverhältnisse angepaßt hatten.
Es hatte zwar einen hochtrabenden Namen, aber
Sam war vom ersten Eindruck des Museum of Flight eher enttäuscht.
Es bestand aus einer einzelnen Halle
- ›Korridor‹ wäre wahrscheinlich das passendere Wort, dachte sie -
von höchstens fünfzehn Metern Länge und sechs Metern Breite. Die
Beleuchtung bestand hauptsächlich aus Neonröhren an den Wänden,
etwa einen halben Meter unter der Decke. Die Wände selbst waren
hell genug erleuchtet, aber die Mitte des Raums blieb ziemlich
dunkel.
Sie hatte recht gehabt, erkannte sie auf den ersten Blick: Das hier war fast mit Sicherheit ursprünglich eine Bank gewesen. Der Boden war mit einem Zementmosaik ausgelegt, einem einfachen Muster aus abwechselnd weißen und schwarzen Formen. Die Decke war hoch, vielleicht doppelt mannshoch, mit einer noch einmal halb so hohen Mittelkuppel. Vier Fenster in der Kuppel, die eine dicke Schmutzschicht beinahe völlig undurchsichtig machte, ließen dünne Sonnenstrahlen herein, die sich in der staubigen Luft deutlich abzeichneten. Sam fühlte eine bittere Übelkeit in sich aufsteigen. Pop-Pop hat seine Erinnerungsstücke - seine Erinnerungen - diesem Witz von einem Museum hinterlassen?
In der relativen Düsternis vor ihr bewegte sich etwas. Sie kniff die Augen zusammen und bemerkte einen Schreibtisch. Jemand stand hinter dem Tisch auf und kam eifrig näher. Sie musterte den Mann, während er auf sie zukam. Der Kurator? Er war klein von Statur und recht pummelig. Seine halbkahle Schädeldecke lag auf Sams Augenhöhe. Er trug einen stahlgrauen Anzug mit schmalen Aufschlägen und von altertümlichem Schnitt, wie auf einem Foto aus den fünfziger Jahren. Runde Brillengläser glänzten im einfallenden Licht und verbargen kurz seine Augen. Einen Augenblick hatte Sam das seltsame Gefühl, ihr Gegenüber sei irgendwie nicht echt, nur eine Attrappe, eine Wachsfigur. Dann war es wieder vorbei. Der Kurator lächelte sie an. »Willkommen, willkommen«, begrüßte er sie herzlich und rieb sich die Hände. »Willkommen im Museum of Flight.«
»Äh... hi«, zögerte Sam ein wenig zweifelnd.
Weil sie nicht wußte, was sie sonst tun sollte, streckte sie die
Hand aus. »Hi, Mr....«
Die Brauen ihres Gegenübers zuckten einen Augenblick lang unsicher,
als wüßte er nicht, wie er reagieren sollte. Dann wurde sein
Lächeln noch breiter, und er packte ihre Hand. Sein Griff war
unerwartet fest. Sam sah überrascht hinunter. Die Finger des Mannes
waren schlank, fast zierlich, aber sein Handgelenk war dick und
voller Sehnen, die unter der Haut wie stählerne Steuerkabel
wirkten. Sie blinzelte überrascht. ›Jägerjockey-Gelenke‹ so hatte
sie diese spezielle Hypertrophie der Muskeln und Sehnen immer
genannt, weil sie typisch für Düsenjägerpiloten war, das Ergebnis
langer Jahre am Steuerknüppel. War dieser Kerl
ein Jägerjockey?
»Ich bin Timothy Howe«, stellte sich der lächelnde Mann vor, gab ihre Hand frei und trat einen Schritt zurück. »Willkommen im Museum of Flight«, wiederholte er. »Was kann ich an diesem wunderschönen Abend für Sie tun?« Er verlagerte sein Gewicht hin und her und hüpfte beinahe vor Eifer.
Sam unterdrückte ein Grinsen. »Mein Name ist Sa...« - sie folgte einer plötzlichen Eingebung und überlegte es sich mitten im Wort anders - »Sandra Dillon.« Sie stockte: Falls Howe die leichte Unsicherheit in ihrer Stimme bemerkt hatte, ließ er sich zumindest nichts anmerken. »Ich kam gerade hier durch, und dachte mir« - sie zuckte die Schultern - »ich schau mal für ein paar Minuten rein.«
Er nickte. »Natürlich, natürlich. Gibt es
irgend etwas Besonderes, das ich Ihnen zeigen kann?«
»Ich weiß nicht, Mr. Howe.« Sie sah sich mit gespielter Neugierde
um. »Haben Sie irgend etwas Besonderes, das mich interessieren
könnte?«
Howe gluckste, ein leises, trockenes Lachen. »Ich würde sagen,
›eine Menge‹, aber ich bin natürlich voreingenommen.« Er machte
eine Pause. »Ich gehe davon aus, daß Sie ein gewisses Interesse an
der Geschichte des Fliegens haben, sonst wären Sie gar nicht
hier.«
Sam zuckte wieder gelangweilt die Achseln, als sei die Frage
beinahe überflüssig. »Ein leichtes Interesse vielleicht. Ich hatte
schon immer was für Flugzeuge übrig. Für schnelle Flugzeuge.«
»Schnelle Flugzeuge?« Howe rieb sich wieder die Hände. »Wußten Sie,
daß Edwards Air Force Base - die ist gleich nebenan, Ms. Dillon,
Sie sind wahrscheinlich daran vorbeigefahren - traditionell einige
der schnellsten Flugzeuge der Welt beherbergt hat? Zum Beispiel hat
Chuck Yeager hier im Jahre 1947 zum erstenmal die Schallmauer
durchbrochen, in der Bell X-l ...«Er nahm sanft ihren Arm und
führte sie, ohne seinen Vortrag zu unterbrechen, zu einem Satz
Fotografien an einer der Wände.
Der Typ weiß, wovon er redet, mußte Samantha nach einer erschöpfenden Tour durch das Museum zugeben. Er schien mit der Umgebung, der Geschichte und dem Hintergrund nahezu jedes einzelnen Ausstellungsstücks persönlich und intim vertraut zu sein. Es gab nur ein, zwei Bilder oder Modelle, die Timothy Howe keine Anekdote oder nähere Information entlockten. Sam kannte die meisten davon schon - auch wenn sie sich bemüßigt sah, die Laute der Überraschung und Anerkennung von sich zu geben, die der Kurator von einer Nichtfliegerin sicher erwartete - aber allmählich fand sie Gefallen an der trokkenen, gelegentlich ironischen Art, in der Howe sie vortrug. Ab und zu gelang es ihm sogar, einer vertrauten Geschichte eine Wendung zu verleihen, die sie in ungespielter Erheiterung kichern ließ.
Während des gesamten Rundgangs - der nicht so lange dauerte, schließlich bestand das ganze Museum nur aus einem Raum - hielt sie die Augen nach Stükken aus Pop-Pops Haus offen. Als Howe endlich zum Ende kam, hatte sie ein paar Fotos entdeckt, die nur aus Jim Dooleys Sammlung stammen konnten, wenn auch nicht viele. In den Vitrinen standen zwei Flugzeugmodelle, die ebenfalls aus seinem Besitz kommen konnten, aber sie hatten keine speziellen Besonderheiten, die es ihr möglich gemacht hätten, sich dessen sicher zu sein.
Zu Sams besonderer Verwunderung stammten alle diese Gegenstände aus der äußeren Bibliothek oder von den Wänden im Rest des Hauses. Sie konnte nirgends eines der einzigartigen Fotos oder anderen Stücke aus der Geheimkammer entdecken. Warum nicht? fragte sie sich. Man sollte meinen, daß ein paar davon aus der Sicht eines Museumskurators zu den interessantesten Ausstellungsstücken zählen müßten. Amelia Earhart, Albert Einstein - echte Personen der Weltgeschichte.
»Das ist wundervoll«, jubelte sie, als Howe seinen Vortrag beendet hatte. »Hier ist soviel Geschichte versammelt. Ich kann sie praktisch fühlen.« (Übertreib's nicht, Dooley, ermahnte sie sich sarkastisch.) »Woher bekommen Sie all diese herrlichen Dinge?« fragte sie, so beiläufig sie es fertigbrachte.
»Von überall her, wirklich«, antwortete der Kurator. »Aus verschiedenen Archiven. Direkt von der Air Force und der NASA. Und gelegentlich durch Schenkungen privater Eigentümer oder Sammlungen.«
»Schenkungen? «
»Aber ja«, bestätigte Howe. »Ein Teil der Fotografien, die ich
Ihnen gerade gezeigt habe, zum Beispiel. Sie wurden dem Museum von
einem alten Freund der Fliegerei vermacht.« Er deutete auf Pop-Pops
Fotos.
»Nur die Fotografien?«
Howe warf ihr einen scharfen, fragenden Blick zu, und seine
Brillengläser blitzten auf wie Spiegel. Einen Sekundenbruchteil
hatte Sam Angst, zu weit gegangen zu sein. Aber dann kehrte das
Lächeln des Kurators zurück, und er schüttelte den Kopf. »Nein,
ehrlich gesagt«, erwiderte er glatt, »die Schenkung umfaßte noch
andere Teile.« Er zuckte die schmalen Schultern. »Aber Sie werden
verstehen, daß wir sehr selektiv vorgehen müssen. Unser Platz ist
begrenzt. Wir können nur die Stücke ausstellen, die unserer Ansicht
nach für Besucher vom größten Interesse sind. Den Rest bewahren wir
in unserer permanenten Sammlung auf.« Er deutete mit einer
schlanken Hand zur Rückwand des Ausstellungsraums.
»Sie meinen, Sie haben noch mehr?« Sam legte eine gesunde Dosis
Enthusiasmus in ihre Stimme. »Kann ich den Rest auch
sehen?«
Howe schüttelte wieder den Kopf, und sein Mund verzog sich zu einem
entschuldigenden Lächeln. »Es tut mir leid, Ms. Dillon, wirklich,
aber die permanente Sammlung ist für Besucher nicht zugänglich.
Schade, aber sie wird hinten in Kisten und Kartons aufbewahrt.« Er
seufzte. »Wir hoffen darauf, irgendwann in einen größeren Bau
umziehen zu können, wo wir möglicherweise in der Lage sein werden,
alle unsere Schätze auszustellen. Aber bis dahin...« Er zuckte
wieder die Schultern.
»Kann ich nicht einen kurzen Blick darauf werfen? Ich fände es
toll, einmal die Hinterzimmer eines Museums zu sehen, mit all den
Kisten und Kartons.« Allmählich wurde der naive Enthusiasmus harte
Arbeit, aber Sam zwang sich durchzuhalten. Ich
gurgle nachher mit Whiskey, um den honigsüßen Geschmack zu
vertreiben, versprach sie sich. »Ich wette, es ist wie in
der Szene am Schluß von Raiders of the Lost
Ark, hab ich recht?« Sie setzte sich in Richtung Rückwand in
Bewegung. »Können wir mal reinschauen?«
»Tut mir leid, Ms. Dillon, wirklich, aber das kann ich nicht
machen.« Howe lächelte sie beinahe väterlich an.
Sam gab sich am Boden zerstört. »Denken Sie, ich würde was
stehlen?«
»Natürlich nicht, natürlich nicht. Es geht mir um Ihre Sicherheit,
Ms. Dillon. Dort hinten könnten Sie stolpern, sich den Kopf
anschlagen oder sich schneiden. Unsere Versicherungsfirma würde
mich häuten, wenn ich Sie dort hineinließe. Sie
verstehen?«
Sie zuckte die Achseln. »Ich schätze, ja. Aber es ist wirklich zu
schade.« Sie sah auf die Uhr. Es war fast 20 Uhr. Sie hatte den
Kurator schon zu Überstunden gezwungen, aber sie war entschlossen
herauszufinden, was das Museum mit dem Rest von Pop-Pops Sammlung
getan hatte. Plötzlich hatte sie einen Plan. »Sorry, daß ich Sie so
lange aufgehalten habe, Mr. Howe. Der Rundgang hat mir toll
gefallen.« Sie zögerte schüchtern, dann warf sie dem Kurator ihr
bestes Kinderlächeln zu. »Kann ich Sie noch ein kleines bißchen um
Geduld bitten, während ich mal für kleine Mädchen gehe?«
Die Tritiumziffern auf Samanthas Armbanduhr leuchteten hell im tiefen Schatten des Gebäudes. Es war beinahe Mitternacht und vier Stunden, nachdem sie Timothy Howe das Museum of Flight abschließen und hatte nach Hause gehen sehen. Mit einem letzten fröhlichen Winken war sie in Grendel gestiegen und die Hauptstraße hinab Richtung Highway gefahren.
Zwei Meilen weiter war sie an den Straßenrand gefahren und hatte den Motor abgestellt, nachdem sie vorher noch das Dach des Kabrios ausgefahren hatte, um sich warm zu halten, während die Wüste die im Tagesverlauf gespeicherte Wärme an den klaren Nachthimmel abgab. Sie hatte den Fahrersitz zurückgelegt und versucht, ein wenig zu schlafen.
Die Alarmfunktion ihrer Armbanduhr hatte sie um 23 Uhr geweckt. Sie war ausgestiegen, um die Beine zu strecken, und hatte sich ein paar Sekunden Zeit genommen, um in unverhohlener Bewunderung zu den Sternen aufzuschauen, die scharf, klar, beinahe hart, wie rasiermesserscharfe Diamantsplitter am tiefsamtenen Schwarz des Wüstenhimmels standen. Dann war sie wieder eingestiegen und langsam zurück nach Rogers gefahren.
Sie hatte Grendel am Ortsrand von der Straße ins Gebüsch gefahren und abgestellt. Sie wußte, das weiße Kabrio würde im Scheinwerferlicht jedes vorbeikommenden Wagens wie ein Leuchtfeuer erstrahlen, aber sie hatte nicht die Zeit - und, um ehrlich zu sein, auch nicht den Nerv - es zu verstecken. Auf dem kiesbedeckten Seitenstreifen der Fahrbahn war sie in den Ort gewandert.
Wie erwartet, war Rogers um diese Zeit fast eine Geisterstadt. Selbst ein paar der Straßenlaternen waren ausgefallen. (Sam hatte leise gekichert. Gibt es überhaupt irgendwo eine Kleinstadt, in der die Bürgersteige nicht bei Sonnenuntergang hochgeklappt werden?) Sie war die Hauptstraße hinabgehuscht, hatte nach zwei Minuten das Museumsgebäude erreicht und war mit den tiefen Schatten verschmolzen, die es umgaben. Jetzt hockte sie hier auf dem harten Boden, den Rücken an der grobkörnigen Betonwand.
Das kleine Fenster der Damentoilette stand noch immer offen, aufgehalten von den feuchten Papierhandtüchern, die sie vier Stunden zuvor in den Rahmen geklemmt hatte. Zum erstenmal, seit sie den Entschluß gefaßt hatte, sich noch einmal in das geschlossene Museum einzuschleichen, dachte Sam kurz darüber nach, was sie vorhatte. Sie hatte in ihrem Leben schon eine Menge Dinge getan, war reichlich Risiken eingegangen, aber nichts davon war so eindeutig illegal und mit Vorbedacht geschehen - und den Gedanken möchte ich jetzt im Augenblick wirklich nicht weiterverfolgen, entschied sie. Ich habe später immer noch Zeit, darüber nachzudenken, in was für eine Art Mensch ich mich verwandle. Sie packte das Fensterbrett, zog sich hoch und zwängte sich durch das schmale Fenster in das dunkle Museum.
Sie hockte auf dem Fliesenboden des kleinen Waschraums. Die tiefe Dunkelheit lag schwer wie ein Leichentuch auf ihr. Sie strengte all ihre Sinne bis an die Grenzen an - lauschte, fühlte nach irgendeinem Hinweis von Bewegung oder menschlicher Präsenz im Innern des Gebäudes. Nichts. Nach fast einer Minute gestattete sie sich schließlich, sich ein wenig zu entspannen. Vielleicht war das Haus nicht völlig verlassen - es bestand die Möglichkeit, daß ein Nachtwächter seinen Rundgang machte - aber sie hatte auf jeden Fall das Gefühl, allein zu sein. Sie griff in die Tasche und holte eine kleine Stifttaschenlampe hervor, die sie aus Grendels Handschuhfach mitgenommen hatte. Sie lächelte. Semper paratus. Allzeit bereit, das alte Pfadfindermotto. Natürlich habe ich nicht erwartet, daß ich den Inhalt meines ›Auto-Notfallsets‹ einmal dazu benutzen würde, irgendwo einzubrechen, als ich ihn zusammengestellt habe. Sie schaltete die Lampe an - das metallische Knacken des Schalters wirkte erschreckend laut für ihre Ohren - und drehte den Kragen, bis der Lichtkegel nur noch die Größe eines 25-Cent-Stücks hatte. Sie wünschte sich, sie hätte das Licht zusätzlich dimmen können - schließlich hatten ihre Augen sich inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt - aber dieses Lampenmodell verfügte über keine entsprechende Funktion.
Leise ging sie zur Tür und schob sie einen Spaltbreit auf. Dann lauschte sie. Immer noch kein Laut. Sie legte ein Auge an den Spalt und sah nur Dunkelheit: Kein schwacher, sich bewegender Lichtschein, der von einem Wachmann mit Taschenlampe hätte stammen können. Beruhigt öffnete sie die Tür ganz und trat hinaus auf den Flur.
Sams Augen hatten sich so hervorragend an die Nacht angepaßt, daß sie ihre Lampe nicht mehr benötigte, als sie den Ausstellungsraum des Museums erreichte. Ein rotes Exit-Zeichen brannte über dem Haupteingang und spendete genug Helligkeit, um sie an den Vitrinen vorbeizuführen. In einer plötzlichen Eingebung sah sie hoch. Die schmutzverkrusteten Oberlichter der Kuppel schienen wie mit einem eigenen Licht schwach zu glühen. Sie wußte, es war Sternenlicht, aber trotzdem wirkte der Effekt magisch. Sie konnte ein Lächeln nicht unterdrücken.
Sie bahnte sich lautlos einen Weg zwischen den Schaukästen hindurch in den hinteren Teil der Galerie. Während Howes Rundgang hatte sie die Tür bemerkt, die zu den Lagerräumen mit der ›permanenten Sammlung‹ des Museums führen mußte. Jetzt untersuchte sie diese Tür mit ihrer Taschenlampe.
Sie war nicht sonderlich gesichert, unterschied sich in nichts von jeder anderen Tür, die man in einem beliebigen amerikanischen Wohnhaus vorfinden konnte. Sie schien nicht einmal ein Schloß zu besitzen, nur einen ganz gewöhnlichen Knauf. Sie streckte die Hand aus, um ihn zu drehen, dann zögerte sie. Vielleicht gibt es einen Alarm. Hastig ließ sie den Kegel der Taschenlampe über den Türrahmen spielen und suchte nach Drähten oder Spuren von Kontakten. Es war nichts zu sehen. Aber vielleicht bedeutet das nur, daß es gut versteckt ist.
Sie schüttelte mit einem verächtlichen Schnaufen den Kopf. Mach dich nicht selbst verrückt, Dooley. Das hier ist das Museum of Flight in Rogers, nicht Fort Knox. Sie packte den Türknauf und drehte ihn.
Keine Sirene gellte durch die Nacht, kein Scheinwerfer flammte auf. Sie öffnete die Tür eine Handbreit, stellte dankbar fest, daß die Scharniere gut geölt und lautlos waren, und wartete. Wieder fand sie hinter der Tür nur Schweigen und Dunkelheit vor. Das Trommeln ihres Herzschlags war das lauteste Geräusch im ganzen Gebäude, möglicherweise in der ganzen Stadt. Sam zwang sich zu einem tiefen, beruhigenden Atemzug, dann stieß sie die Tür ganz auf und trat hindurch.
Als sie die Taschenlampe schwenkte, mußte sie leise lachen, weil sie sich an ihre Bemerkung Timothy Howe gegenüber erinnerte, in der sie das Hinterzimmer des Museums mit der Lagerhallenszene in Raiders of the Lost Ark verglichen hatte. Yeah, sicher! Es ist zum Lachen. Statt eines gewaltigen Depots, größer als ein Flugzeughangar, sah sie einen staubigen, zugestellten Lagerraum, kaum größer als ihre Wohnung. Die hölzernen Kisten und Kartons, die scheinbar wahllos ringsum aufgestapelt waren, machten eine Schätzung schwierig, aber ihrem Urteil nach mochte das Zimmer etwa halb so groß wie der Ausstellungsraum sein. Die Decke war unverkleidet. Träger und Bauelemente warfen harte geometrische Schatten, als sie den Kegel der Taschenlampe nach oben richtete.
Sam zögerte. Innerlich hatte sie wohl erwartet, daß die ›permanente Sammlung‹ ordentlich sortiert war, mehr oder weniger wie eine Art Ausstellung. Aber sie sah auf den ersten Blick, wie falsch sie damit gelegen hatte. Wenn es irgendeine Ordnung in diesen wirren Kistenstapeln gab, dann war sie einem uneingeweihten Betrachter nicht zugänglich. Ich habe bei meinen Freunden schon Keller gesehen, die besser aufgeräumt waren. Ihr Mut schwand. Es würde schwieriger werden als vorhergesehen, irgendeine Spur von Pop-Pops Erinnerungsstücken zu finden. Sie bewegte sich lautlos wie ein Geist zwischen den aufgestapelten Kisten umher.
Kein guter Vergleich. Sie hielt an. Die Härchen entlang ihres Rückgrats stellten sich auf und kitzelten. Eine dunkle Ahnung, die bis dahin in den Randbereichen ihres Bewußtseins geflackert hatte, verdichtete sich plötzlich und brach über sie herein. Sie schauderte.
Ein nächtliches Museum: Was für ein einsamer, gespenstischer Ort. Ihr wurde klar, daß sie von Erinnerungen umgeben war, Erinnerungen anderer Menschen. In vielen Fällen den einzigen Dingen, die noch von ihrem Leben Zeugnis ablegten. Fotografien, liebgewonnene Besitztümer... Es ist wie ein Mausoleum, dachte sie plötzlich. Ich bin umgeben von den Toten.
Und in mancher Hinsicht war es schlimmer als ein Mausoleum. Ein Friedhof beherbergt körperliche Überreste. Aber eine Person besteht nicht aus ihrem physischen Körper. Sie besteht aus Hoffnungen und Träumen, Gedanken und Erinnerungen ... und das ist es, was mich hier umgibt.
Wenn ich ein Geist wäre, würde ich es ganz entschieden vorziehen, in einem Museum zu spuken, statt in einem Mausoleum ...
Es kostete sie einige Anstrengung, ihre Gedanken zu zügeln. Du knallst durch, Dooley, herrschte sie sich an. Spar dir deine metaphysischen Spintisierereien für eine andere Gelegenheit auf. Sie atmete tief durch. Die Luft roch nach Staub. Sie zwang sich, den Raum in aller Ruhe zu betrachten, ihn so zu sehen, wie er tatsächlich war. Nichts als Kartons, stellte sie entschieden fest. Mit nicht mehr Bedeutung als bei jedem Garagenverkauf. Der Eindruck vergangener Lebzeiten, fremder Präsenzen, gestaltgewordener Erinnerungen - all das verschwand augenblicklich. Sie ging weiter.
Sekunden später erreichte sie die Rückwand des Lagerraums und entdeckte nicht die erwarteten kahlen Betonblöcke, sondern eine leichte Gipswand, wie sie in Großraumbüros häufig zu finden war. Eine einzelne verschlossene Tür durchbrach die Fläche. Sam zögerte, berechnete Entfernungen. Wenn sie sich nicht irgendwo verrechnet hatte, mußte diese Wand viereinhalb bis sechs Meter vor der hinteren Gebäudewand liegen. Demnach konnte die Tür nicht in eine Gasse hinter dem Haus führen, sondern nur in einen weiteren Raum. Noch ein Lager? Das Büro des Kurators? Sie rüttelte am Türknauf und stellte ohne große Überraschung fest, daß abgeschlossen war. Okay, dachte sie. Jetzt werden wir kreativ. Sie ging in die Hocke und untersuchte das Schloß im Lichtkegel der Taschenlampe.
Es war ein lächerlich simpler Verschlußmechanismus, das sah sie sofort. Keine Spur von HighTech oder Sicherheitsschloß. Es war nicht einmal ein Riegelschloß, nur der übliche Verschlußkeil mit einem Schlüsselloch in der Mitte des Knaufs. Wieder suchte sie den Türrahmen nach Hinweisen auf eine Alarmvorrichtung ab, diesmal jedoch nur oberflächlich. Wozu sich mit Sicherheitsvorkehrungen rumschlagen, da es nichts zu stehlen gibt? Aus der Hüfttasche zog sie einen weiteren Bestandteil des AutoNotfallsets, ein großes, reichhaltig bestücktes Taschenmesser im Stil eines Schweizer Armeemessers. Nach kurzer Überlegung klappte sie eine breite, flache Klinge aus flexiblem Federstahl aus, ganz ähnlich dem Streichmesser eines Töpfers. Vorsichtig schob sie den dünnen Metallstreifen unterhalb des Schlosses zwischen Tür und Rahmen, schob ihn tief hinein. Dann zog sie ihn mit ein wenig Hebeldruck nach innen höher. Das Messer packte die Kante des Verschlußkeils. Ein paar Sekunden arbeitete sie den Stahl vorsichtig weiter und versuchte sich vorzustellen, die Nervenenden ihrer Fingerspitzen setzten sich bis in die Klinge fort. Noch ein wenig mehr... Sie nahm die Taschenlampe zwischen die Zähne, packte mit der freien Hand den Türknauf und zog vorsichtig. Das Schloß löste sich mit kaum hörbarem Knakken, und die Tür öffnete sich. Schnell schloß sie das Messer und steckte es wieder ein. Sie stieß die Tür weit auf und trat in die Dunkelheit.