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Samantha und Maggie Braslins hielten in der Nacht ihre eigene Totenwache in sehr kleinem Kreis ab nur sie beide, ein paar von Maggies alten Fotoalben und eine Flasche Jack Daniel's. Das Ganze war Maggies Idee gewesen. Sam hatte befürchtet, es könnte schlimm werden, aber das hatte ihre ältere Kameradin zu verhindern gewußt. Sie war eisern, was die Traditionen einer Wake anging (Samantha vermutete, daß sie in ihrem Leben schon an einigen teilgenommen hatte), und bestand darauf, daß Traurigkeit bei dieser Veranstaltung ganz und gar unangebracht war. Sinn und Zweck einer Wake war das Feiern, nicht das Trauern: Sie feierten die Tatsache, daß Jim Dooley gelebt hatte, und ehrten seine Stärken und Leistungen. Überhaupt, hatte Maggie erklärt, ließ sich das gesamte Konzept mit einem Satz zusammenfassen, den sie Jahrzehnte zuvor bei einer Baptisten-Beerdigung in den Südstaaten aufgeschnappt hatte: »Wir danken Dir, Herr, daß Du uns diesen guten Menschen für eine kleine Weile ausgeliehen hast.« Samantha hatte zögernd genickt. Ihre Trauerarbeit war noch keineswegs vorbei, aber es mußte möglich sein, sie für eine kurze Zeit zu unterbrechen und Dankbarkeit für die Erfahrungen zu zeigen, mit denen Pop-Pop ihr Leben bereichert hatte. Wir danken Dir, Herr, betete sie stumm.
Maggie war jetzt in den Fünfzigern und hatte erst mit Mitte Zwanzig ein ernsthaftes Interesse am Fliegen entwickelt. Trotzdem hatte sich ihre ›Laufbahn‹ mit der Jim Dooleys gekreuzt - mehr als Sam ahnte, wie sich herausstellte. Nach der ›Taufe‹ der Whiskeyflasche blätterte Maggie durch die Fotoalben, bis sie das Bild gefunden hatte, nach dem sie suchte. Es war ein typisches Pilotenfoto, dachte Sam: ein Haufen Leute mit zerzausten Haaren vor einem Flugzeug, irgendwo auf einem gottverlassenen Rollfeld.
»Mein Geburtstag«, stellte Maggie fest. »1965. Das bin ich.« Mit einem breiten Zeigefinger klopfte sie auf die Gestalt in der Mitte der körnigen Schwarzweißaufnahme. »Ich war dreiunddreißig.«
Sam lächelte. Ja, das war unverkennbar Maggie. Dasselbe Lächeln, dieselbe großzügige Figur. Der einzige erkennbare Unterschied war, daß ihre Haare noch keine Spur von Grau zeigten.
Einen Augenblick lang wurde Sam von der Maschine im Hintergrund abgelenkt: einem spitznasigen Jet mit Deltaflügeln.
»Eine Mirage III«, beantwortete Maggie die unausgesprochene Frage. »Dassault-Breguet. Französisch. Eine modifizierte Ausbildungsmaschine, zweisitzig.« Sie grinste breit. »Alles in allem ein beachtliches Geburtstagsgeschenk.«
»Was?«Maggie lachte. »Nicht das Flugzeug. Knüppelzeit in ihrem Cockpit.« Sie zeigte auf eine andere Gestalt auf dem Foto, einen breitschultrigen, athletisch gebauten Mann mit einem Arm um Braslins' Schultern. »Es war Bobbys Idee. Bobby Atlow. Wir waren damals so dicht dran zu heiraten.« Sie lächelte warm. »Um genau zu sein, wir lebten miteinander. Bobby wollte mir ein Geschenk machen, an das ich mich immer erinnern würde: ein Flug in einem Düsenjäger und die Chance, ihn selbst zu steuern. Ich ahnte nichts. Ich wußte nur, daß Bobby irgendwas arrangiert hatte, bevor er mich an dem Morgen zum Flugfeld rausbrachte, aber ich hatte keine Ahnung, was. Der Typ hier« - wieder deutete sie auf eine der Personen auf dem Foto, diesmal einen hochgewachsenen, hageren Mann auf ihrer anderen Seite - »wartete auf uns. Ein französischer Luftwaffenoffizier namens Gilles. Er half mir, mich in den Overall zu zwängen, und dann nahm er mich mit rauf für eine Stunde des größten Vergnügens, das ich je voll angezogen hatte.« Sie zeichnete mit der Fingerspitze die Linien des Jets nach. »Es war dieser Flug, der mir den Floh ins Ohr setzte, mir ein eigenes Düsenflugzeug anzuschaffen, und so bin ich schließlich an meine T-38 gekommen.«
»Alles dank Bobby«, sagte Sam. »Wie hat er das geschafft? Ein französischer Jäger, ein französischer Pilot? Himmel, '65 war die Dassault Mirage State-ofthe-Art, oder irre ich mich?«
»Oh, Bobby wußte, wie er bekam, was er wollte. Oder, um genau zu sein, er wußte, mit wem er reden mußte, um zu bekommen, was er wollte. Und in diesem Fall kannte er diesen Typ hier.« Sie deutete auf eine der Gestalten in der hinteren Reihe der Gruppe - leicht verschwommen, das Gesicht im Schatten der scharfkantigen Jettragfläche.
Sam lehnte sich vor, neigte das Buch ins Licht.
Ist das?
Ja, es war Jim Dooley, Sr. - fit, robust, sonnengebräunt, Anfang
Fünfzig. Die einzelnen Gesichtszüge waren undeutlich, aber die Art,
wie sie sich zum generellen ›Eindruck‹ des Gesichts
zusammensetzten, war unverwechselbar. Sie sah wortlos zu ihrer
Freundin auf.
Maggie nickte bestätigend. »Jim Dooley. Einer von Bobbys Hunderten
von Kontakten.« Sie seufzte. »Ein bemerkenswerter Mann, dieser
Bobby Atlow. Er zog Menschen an wie ein Magnet Eisenspäne. Zu
schade, daß die meisten davon Frauen waren«, stellte sie mit einem
Grinsen fest.
»Du kanntest Pop-Pop, vor all den Jahren.«
»Ich bin ihm begegnet, ich kannte ihn nicht«, korrigierte Maggie schnell. »Er
hat Bobby geholfen, mein Geburtstagsgeschenk zu arrangieren, und
danach ist er wieder verschwunden. Ich habe ihn nicht kennengelernt, bis ich von dir erfahren habe, daß
wir praktisch Nachbarn waren, und selbst da...« Sie zuckte die
Achseln. Sanft nahm sie Sam das Album aus der Hand und schloß es.
»Ich weiß gar nicht, warum ich dir das überhaupt gezeigt habe,
Kiddo«, gab sie zu. »Ich schätze... vielleicht... einfach, um dir
noch eine Facette seines Lebens zu zeigen. Ich weiß
nicht.«
Sam nahm die Hand ihrer Freundin. »Ich bin froh, daß du es mir
gezeigt hast.« Sie hob das Whiskeyglas zu einem Trinkspruch. »Wir
danken Dir, Herr - ob Du tatsächlich existierst oder nicht, Du
geheimniskrämerischer Bastard - daß Du uns Jim Dooley für eine
Weile ausgeliehen hast. Und ich hoffe, Du behandelst ihn gut,
jetzt, da Du ihn zurückhast.«
Maggie strahlte. »Darauf trinke ich.«
Am nächsten Morgen schlief Sam aus und ließ sich Zeit mit dem Aufstehen. Trotzdem war sie schon auf den Beinen, bevor Maggie sich auch nur rührte. Zum Glück für ihren gepeinigten Schädel war der Tag trübe und bedeckt. Sie wanderte nach unten und machte auf dem Weg zur Kaffeemaschine einen Umweg durch das Wohnzimmer, um den Schaden der Nacht zu begutachten.
Maggies Lieblingsaschenbecher, das Wellenlager eines alten Flugzeugsternmotors, quoll über vor Kippen, und das Kratzen in Sams Hals erinnerte sie daran, wie viele sie davon selbst geraucht hatte. Auf dem Kaffeetisch standen zwei ›Abschüsse‹ - eine leere Jack-Daniel's-Flasche und eine Weinflasche, in der nur noch ein Fingerbreit Flüssigkeit war. Sam starrte sie trübsinnig an. Sour-Mash Bourbon und Weißwein. Kein Wunder, daß ich mich so beschissen fühle.
Nach dem Frühstück ging es ihr jedoch schon sehr viel besser. Kaffee und Cornflakes beruhigten ihren Magen, und die Kopfschmerzen gingen von einem bösartigen Hämmern bis auf ein sanftes Sticheln irgendwo in der Nähe der Stirnhöhlen zurück. Nach der dritten Tasse starken Kaffees räumte sie ein wenig auf und leerte vor allem den Aschenbecher. Die leeren Flaschen ließ sie allerdings auf dem Tisch stehen, als Erinnerung an die Aktivitäten der vergangenen Nacht - für Maggie, wenn sie sich erst wieder nach unten wagte.
Während sie vor sich hin arbeitete, nagte etwas an ihr, das unverwechselbare Gefühl, etwas Wichtiges vergessen zu haben, irgend etwas, das ihr im Wirbel des gestrigen Tages entgangen war. Aber was?
Auf der Suche nach einem Einfall, irgend etwas, das eine Assoziation wecken und die Erinnerung wachrütteln konnte, ließ sie den Blick durch die Küche schweifen. Als sie den Notizblock neben der Tür sah, fiel es ihr ein.
Pop-Pops Memoiren.
Verdammt!
Sie zwang sich zu entspannen, einen Augenblick lang tief
durchzuatmen. Kein Problem, dachte sie.
Jim Dooley hatte ihr gesagt, daß die Memoiren wichtig waren - zu
wichtig, um darauf zu warten, daß die Testamentsvollstrecker sie
ihr auf dem üblichen Weg überließen. Aber er hatte ihr auch gesagt,
sie solle warten, bis er tot sei, bevor sie darin las. Sie hatte
sich doch nicht zu lange Zeit gelassen?
Was immer, dachte sie mit einem
Schulterzucken. Es ist mir wieder eingefallen,
und ich werde mich jetzt gleich darum kümmern. Sie kritzelte
ihrer Freundin eine kurze Notiz auf den Block neben dem Telefon,
schnappte sich den Mantel und ging nach draußen, wobei sie darauf
achtete, die Tür leise hinter sich ins Schloß zu ziehen.
Der kalte Fahrtwind vertrieb die letzten Reste ihrer Kopfschmerzen,
als sie Grendel nach Süden drehte und Gas gab. Als sie an Pop-Pops
Auffahrt eintraf, fühlte sie sich wieder ganz wie ein
Mensch.
Sie war sich nicht sicher, was genau sie am Haus erwarten würde.
Seit sie erwachsen war, hatte sie nie mit dem Tod und seinen Folgen
zu tun gehabt und hatte keine Ahnung, wie derlei Angelegenheiten
üblicherweise geregelt wurden. Die Anwälte würden sicher Pop-Pops
Testament lesen, wahrscheinlich innerhalb der nächsten ein, zwei
Tage. Das dürfte einfach genug sein, und sie erwartete keine
Probleme. Danach würden es die Vollstrecker übernehmen und dafür
sorgen, daß die richtigen Leute die richtige Erbschaft erhielten.
Aber was passiert bis dahin? fragte sie
sich. Steht das Haus einfach
leer?
Als sie um die letzte Kurve der Auffahrt kam und anhielt, sah sie
die Antwort auf ihre Frage. Vor dem Haus parkte ein gelber Ford
Bronco, auf dessen Tür ein Wappen prangte, das ihn als Eigentum von
Curry Private Security auswies. Private
Security? Ein privater Sicherheitsdienst? Aber als sie
darüber nachdachte, erschien ihr das gar nicht mehr so erstaunlich.
Pop-Pop hatte eine Menge kostbaren Besitz; zum Beispiel den Jensen,
aber auch einige kleinere Teile, die viel leichter
abzutransportieren waren, und ein leerstehendes Haus konnte eine zu
große Versuchung für Einbrecher sein. Offensichtlich wollten die
Anwälte oder Testamentsvollstrecker oder wer auch immer kein
unnötiges Risiko eingehen.
Ein schlanker, blonder junger Mann in einer kurzärmeligen
dunkelblauen Uniform kam ums Haus, als Sam aus dem Mustang stieg.
Seine strenggeschnittene Uniform ließ ihn wie einen Cop aussehen,
und die Ausrüstung an seinem Gürtel
unterstrich diesen Eindruck: eine kleine Taschenlampe,
Handschellen, ein Walkie-Talkie und ähnliches. Aber keine Pistole, registrierte sie. Sie sah mit
einer gewissen Erheiterung zu, wie er näher kam. Er war jung,
beinahe ein Milchgesicht, und das Ergebnis seiner Anstrengungen,
sich einen ›regulären‹ Polizisten-Schnäuzer wachsen zu lassen, war
dünn und flaumig, fast weiß auf seiner sommersprossigen Haut. Er
bewegte sich unbeholfen, schien unsicher, wie er sich geben sollte.
Er hat noch keine Erfahrung, entschied
sie, und die Uniform ist eine Nummer zu groß
für ihn - nicht für seinen Körper, aber für sein Innenleben
ganz bestimmt.
Sie verbarg ihre Einschätzung hinter einem freundlichen Lächeln.
»Hi.«
»Hi, äh...« Er zögerte, offensichtlich unsicher, wie er weiter
vorgehen sollte. »Äh, kann ich irgend etwas für Sie tun... äh...
Ma'am?«
Ma'am? Sam kämpfte gegen ein breites
Grinsen an. Sie klopfte dem jungen Mann auf die Schulter, während
sie an ihm vorbei zum Haus ging. »Nein, ist schon okay,
danke.«
»He, Moment mal.« Er klang erschreckt. Immer noch lächelnd, drehte
Sam sich zu ihm um. »Ja?«
»Sie... Sie können da nicht rein.«
Ihr Lächeln verschwand. »Ach?«
»Tut mir leid, Ma'am.«
Sam reckte sich zu voller Körpergröße und fixierte ihn mit einem
Blick unverhüllter Verachtung. »Jetzt hören Sie mal gut zu«,
herrschte sie ihn an. »Mein Name ist Samantha Dooley. Ich bin die
Enkelin von Jim Dooley, Sr., dem Mann, dem dieses Haus gehört. Mein
Großvater. Okay?«
Der Wachmann zog ein Notizbuch aus der hinteren Hosentasche und
blätterte hastig auf die gesuchte Seite. »Samantha Dooley...«,
murmelte er. Nach ein paar Sekunden sah er hoch und schüttelte den
Kopf. »Tut mir leid, Ma'am. Sie stehen nicht auf der
Liste.«
Das ist allmählich nicht mehr witzig,
Blondie. Sam hatte Mühe, ihre wachsende Verärgerung zu
kontrollieren. »Und was für eine Liste wäre das?«
»Die Liste der Personen, die ich ins Haus lassen darf. Sie stehen
nicht drauf.«
»Zeigen Sie mal her.« Sam riß dem Mann das Notizbuch aus der Hand,
ohne sich um sein protestierendes »He!« zu kümmern. Sie überflog
die kurze Namensliste - nur sechs Personen, allesamt männlich.
Keiner der Namen war ihr auch nur entfernt vertraut. Mit einem
gesetzten »Danke« reichte sie dem jungen Wachmann sein Buch
zurück.
Dann versuchte sie es noch einmal. »Hören Sie, ich weiß, Sie machen
nur Ihre Arbeit, aber wer immer Ihnen diese Liste gegeben hat, war
wohl ein wenig verwirrt. Ich bin Jim Dooleys Enkelin. Wenn Sie
wollen, kann ich mich ausweisen. Ihre Vorgesetzten haben sicher
nicht beabsichtigt, daß Sie Jim Dooleys einzige lebende Verwandte -
und seine Erbin, was das angeht - aus seinem Haus fernhalten. Was
meinen Sie?«
Er zögerte, aber dann riß er sich zusammen. »Ich weiß nur, daß Sie
nicht auf der Liste stehen.« Er zog die Schultern zurück. »Und ich
würde auch den Präsidenten der Vereinigten Staaten abweisen, wenn
er nicht auf der Liste steht«, stellte er ein wenig selbstgefällig
fest,
»Wer hat Sie beauftragt, dieses Haus zu bewachen?«
Der Mann kaute auf der Unterlippe. An einem seiner Zähne fehlte ein
Stück. »Ich glaube nicht, daß ich befugt bin, Ihnen das zu sagen«,
meinte er zögernd.
Sam verspürte einen unbändigen Drang, loszuprusten. »Sie wissen es
selbst nicht, was?«
Beleidigt steckte der Wachmann die Daumen in den Ausrüstungsgürtel
und schob den Brustkorb vor. »Sorry, Ma'am«, erklärte er brüsk,
»aber ich kann Sie nicht in dieses Haus lassen.«
Sam kochte. Ich könnte Blondie auf seinen
kümmerlichen Arsch werfen und ihm mit seinem Gürtel die Luft
abschnüren, bevor er auch nur mitbekommt, daß ich mich bewegt
habe, dachte sie.
Ruhig bleiben, Dooley. Sie
konzentrierte sich auf ihre Atmung und ließ die Wut abklingen, die
in ihren Eingeweiden brodelte. Dann zwang sie sich ein Lächeln aufs
Gesicht. »Na schön«, stellte sie so leichthin wie möglich fest.
»Dann werde ich mal wieder abfahren. Einen schönen Tag
noch.«
Der Wachmann blieb in Pose, während sie in Grendel stieg und den
schweren V-8-Motor anwarf. Sie fuhr langsam davon und unterdrückte
die Versuchung, die Räder durchdrehen zu lassen und ihn mit einem
Kieshagel zu überschütten. Im Rückspiegel konnte sie den blonden
Wachmann beobachten, bis er hinter einer Kurve
verschwand.
Sam fuhr kaum schneller als im Kriechtempo zurück auf die Straße
und drehte nach links ab, in Richtung Küstenhighway. Nach knapp
hundert Metern hielt sie auf dem Seitenstreifen an. Warum nicht? Sie lächelte, als sie den Motor
abstellte und ausstieg.
Pop-Pops Haus lag an der Rückseite eines riesigen Grundstücks, fast
dreimal so groß wie die meisten Parzellen in dieser Gegend. Schon
seit Jahren war er von Maklern bedrängt worden, zu verkaufen oder
seinen Besitz zumindest aufzuteilen. Aber Pop-Pop hatte Wert auf
seine Privatsphäre gelegt. Er hätte sich nur zehn, zwölf Meter
neben einem Nachbarn unmöglich wohl fühlen können. Da war es viel
besser gewesen, das ganze Gelände zu behalten und sich eine
Pufferzone zum Rest der Menschheit zu bewahren. Beim Bau des Hauses
hatte er das Gelände für das Fundament und die unmittelbare
Umgebung gerodet. Der Rest war unberührt geblieben - über
viertausend Quadratmeter jahrhundertealter Wald und dichtes
Unterholz. Samantha wanderte offen sichtbar die Straße hinunter -
wer weiß, wie die Nachbarn beim Anblick einer ›herumschleichenden‹
Fremden reagiert hätten?
- und durch Pop-Pops Tor. Sobald sie außer Sicht der Straße war,
tauchte sie in den Schatten eines breiten Baumstamms und überdachte
die taktische Lage. Die gekurvte Auffahrt verbarg das Haus zum Tor
hin... und umgekehrt. Sam ging tiefer in den Wald, bis sie keine
Gefahr mehr lief, von jemandem bemerkt zu werden, der auf der
Straße vorbeikam.
Sie hockte sich ins Gebüsch und sah zum Haus hinüber. Durch die
Bäume und das Unterholz konnte sie einzelne gelbe Flecken sehen:
der Ford Bronco des Wachmanns. Sie benutzte den Wagen als
Orientierungspunkt und schlich sich durch das Unterholz. Als sie
sich dem Waldrand näherte, wurde sie langsamer. Dann duckte sie
sich in die Deckung eines großen Gebüschs.
Von hier aus hatte sie eine gute Sicht auf die gesamte Hausfront.
Der Wachmann - ›Blondie‹ - stand noch mehr oder weniger dort, wo
sie ihn verlassen hatte, knapp vor den Stufen hinauf zur
Eingangstür. Er sah sich um, schien die Umgebung abzusuchen.
Anscheinend zufrieden über das Ergebnis seiner Kontrolle, griff er
in die Tasche und zog eine Pakkung Zigaretten heraus. Sam grinste
böse, als er sich eine ansteckte und einen tiefen Zug nahm.
Rauchen im Dienst, ja? Das ist bestimmt nicht
erlaubt. Er hat kontrolliert, ob ihn auch keiner sieht. Als
er den Rauch ausatmete, fühlte sie den Wunsch, sich ebenfalls eine
anzustecken. Ich habe nie wirklich Schluß
gemacht, stellte sie wieder fest.
Sie machte es sich auf dem unebenen Boden bequem. Einen Augenblick
lang fragte sie sich, was sie eigentlich hier tat. Warum mache ich mir überhaupt soviel Arbeit? In den
nächsten zwei Tagen wird hier nichts abhanden
kommen.
Es ging wohl ums Prinzip. Das ist jetzt
mein Haus. Die Anwälte sind nur noch nicht
soweit. Für wen, zum Teufel, halten die sich, mich nicht in mein
eigenes Haus zu lassen? Und dann waren da noch PopPops
Wünsche. Warum auch immer, aber er hatte es für wichtig erachtet,
daß Sam seine Memoiren an sich nahm und sie las, ohne auf den Abschluß der rechtlichen Prozeduren zu
warten.
Der Wachmann rauchte seine Zigarette auf und warf sie, ohne sie
auszudrücken, in das Blumenbeet rechts neben der Tür. Sam kicherte,
als er mit beiden Zeigefingern seinen spärlichen Schnurrbart
glättete. Dann wanderte er nach rechts davon und verschwand hinter
dem Haus.
Als ich Blondie getroffen habe, kam er von
links, erinnerte sie sich. Wahrscheinlich ging er jetzt
wieder einmal rund um das Gebäude. Los geht's.
Sie verließ die Deckung der Bäume und lief über den Kiesplatz,
vorbei an dem Bronco zur Haustür. Sie holte die Schlüssel aus der
Tasche und suchte den Hausschlüssel, vorsichtig, damit sie nicht
klimperten. Da war er, ein großer, silberner Weiser. Sie schob ihn
ins Schloß, drehte und hörte den Riegel zurückschnappen. Sie
huschte hinein und schloß leise die Tür.
Zwei Jahre zuvor hatte Jim Dooley eine Alarmanlage installiert. Die
Kontrolltafel aus einer kleinen Zifferntastatur und einem grünen
und roten Statuslämpchen befand sich an der gegenüberliegenden
Wand. Sam beeilte sich, ans andere Ende des Flurs zur Tastatur zu
kommen, und streckte die Hand aus, zur Tastatur zu kommen, und
streckte die Hand aus, Sekunden-Frist verstrichen war. Aber das
System war nicht eingeschaltet. Das grüne Licht brannte.
Was für eine Nachlässigkeit, dachte
sie. Einen Wachmann anzuheuern, aber nicht
einmal den Alarm einzuschalten. Was ist denn das für eine
Sicherheit?
Sie atmete tief durch. Na schön, drin bin
ich. Die Memoiren lagen oben in Pop-Pops Bibliothek -
zumindest hatte sie angenommen, daß sie
dort lagen, als sie sich mit ihrem Großvater darüber unterhalten
hatte, und er hatte nicht widersprochen. Also würde sie dort
anfangen.
Sie ging die Treppe bis zum ersten Absatz hinauf und sah sich vor,
den Kopf unterhalb des Fensters zu halten. Vorsichtig sah sie
hinaus in den Garten. Da ist er. Die
blaue Uniform des Wachmanns war vor dem Gebüsch und dem Wald
deutlich auszumachen. Sie wartete, bis er um die Ecke hinters Haus
ging und nicht mehr zu sehen war. Dann ging sie weiter.
Die Tür zu Pop-Pops Schlafzimmer am Ende des Flurs im ersten Stock
war geschlossen. Sam fühlte Erleichterung. Schon der Blick in das
Zimmer hätte genügt, den Schmerz wieder zu wecken, den sie noch
nicht verarbeitet hatte. Die Tür zu seiner Bibliothek, dem ersten
Raum auf der rechten Seite, stand einen Spalt auf. Leise drückte
Sam sie auf und trat ein.
Plötzlich war ihre Kehle wie zugeschnürt, und ihre Augen füllten
sich mit Tränen. Er ist immer noch
hier. Der Gedanke drängte sich ihr auf. Jedenfalls ein Teil von ihm.
Er ist noch hier und wird immer hier bleiben. Sie schloß die
Tür hinter sich und lehnte sich an, während sie sich
umsah.
Die Jalousie am einzigen Fenster in der gegenüberliegenden Wand war
heruntergelassen. Aber es war hell genug, um die vertraute
Einrichtung zu erkennen. Unter dem Fenster stand Pop-Pops kleiner
Schreibtisch. In einer Ecke stand ein zwei Jahre alter Macintosh
unter einer Plastikhülle. Sam lächelte. Ihr Großvater hatte den
Computer auf ihr Drängen hin angeschafft, aber sie war ziemlich
sicher, daß er ihn nie ernsthaft benutzt hatte. Die Wand rechts von
ihr wurde bis zur Decke von einem bis auf den letzten Zentimeter
gefüllten Bücherregal eingenommen. Andere Bücher, die keinen Platz
mehr auf den Regalbrettern gefunden hatten, stapelten sich in den
Ekken. Die linke Wand hing voller Fotografien - gerahmten
Erinnerungen, farbigen und schwarzweißen Momentaufnahmen aus dem
Leben des Jim Dooley, Sr. Sie zog den hohen ledernen Bürosessel
unter dem Schreibtisch vor und setzte sich. Mit dem Handrükken
wischte sie die Tränen ab.
Pop-Pop liebte es, hier zu sitzen,
erinnerte sie sich. Er fand es hier
gemütlich. Ihre Gedanken drifteten zurück zu einem ihrer
ersten Besuche, als sie im Gästezimmer neben der Bibliothek
übernachtet hatte. Mitten in der Nacht - es mußte so etwa 3 Uhr
morgens gewesen sein - war sie aufgestanden, um sich ein Glas
Wasser zu holen. Im dunklen Flur hatte sie den gelben Lichtschein
der Lampe unter der Tür zur Bibliothek gesehen. Neugierig hatte sie
die gutgeölte Tür leise aufgestoßen. Ihr Großvater hatte in einem
abgegriffenen Morgenmantel in diesem Chefsessel gesessen und war so
in ein Buch vertieft gewesen, daß er sie überhaupt nicht bemerkt
hatte. Selbst jetzt noch, Jahre später, sah Sam das Lächeln
vollkommener Zufriedenheit auf seinem Gesicht vor sich.
Mit einiger Anstrengung verdrängte sie die Erinnerungen.
Ich bin aus einem bestimmten Grund
hier, rief sie sich ins Gedächtnis.
Der Schreibtisch war der geeignetste Ausgangspunkt für ihre Suche.
Sie öffnete nacheinander alle drei Schubladen. In der ersten fand
sie nur den üblichen Bürobedarf: Bleistifte, Kugelschreiber, einen
Hefter, drei Blocks gelbe Post-it-Zettel. In der zweiten lagen zwei
grüne Kunstlederordner. Sie holte sie heraus, löste die
Velcro-Verschlüsse und öffnete sie auf ihrem Schoß.
Versicherungspolicen, erkannte sie sofort: Lebensversicherung,
Hausrat und eine dritte, die wohl den Yellow
Bird betraf. Ihr war unbehaglich. Ich
will an die Lebensversicherung im Augenblick nicht einmal
denken, geschweige denn die Police
lesen. Sie schloß die Ordner und legte sie zurück. Die
unterste Schublade enthielt ein Notizbuch mit Spiralbindung ohne
Aufschrift. Bingo, dachte sie, als sie
es hervorzog, und schlug die erste Seite auf.
Sie sah mit einem Blick, daß das hier nur das Logbuch des
Yellow Bird war. Details der
Betriebsstunden, Wartungsarbeiten, Treibstoffkosten und so weiter.
Sie blätterte es schnell durch. Nichts, was auch nur entfernt an
Memoiren erinnerte. Mit einem Stirnrunzeln legte sie das Logbuch
zurück und stieß den Sessel weg. Wo konnten die Memoiren sonst
sein? Sie drehte den Sessel langsam und suchte das Zimmer ab. Es
enthielt keine Aktenschränke oder ähnlich offensichtliche
Aufbewahrungsorte. Also im Regal. Sie
stand auf und trat hinüber an die Regalwand. Am besten methodisch, dachte sie. An einem Ende anfangen und die einzelnen Bretter
abarbeiten.
Sie hatte das erste Regalbrett noch nicht abgesucht, als sie
bereits lächelte - möglicherweise etwas traurig. Ich hatte seinen Lesegeschmack ganz vergessen,
sinnierte sie. So schnell vergessen.
Jim Dooley war immer eine Leseratte gewesen. Aber im Gegensatz zu
anderen begeisterten Lesern, die sie kannte, hatte er so ziemlich
alles verschlungen, von
Detektivgeschichten über Biographien und militärhistorische Werke
bis zu philosophischen Traktaten. Und er wollte seine Bücher
besitzen, statt sie aus einer Bücherei
zu leihen. Er fand Gefallen an dem Gedanken, daß sie sein waren.
Das muß man sich mal ansehen. Ihr Blick
ging noch einmal an dem Regalbrett entlang. Ein einzelner
Hardcoverband von Lord of the Rings,
daneben Gray's Anatomy, daneben
Attenboroughs Life on Earth, daneben
The Complete Shakespeare, daneben
The Seven Minutes von Irving Wallace.
Sie erinnerte sich, daß er ihr einmal erklärt hatte, er habe so
viele Bücher, daß die einzig logische Vorgehensweise darin bestand,
sie nicht nach Titel, Thema oder Autor, sondern nach Größe zu
sortieren, um Platz zu sparen.
Sam seufzte. Wenn sie die ganze Regalwand absuchen mußte, würde das
einige Zeit dauern. Aber welche andere Möglichkeit hatte sie schon?
Sie beugte sich vor, um das nächste Brett zu betrachten, und lehnte
sich dabei mit der Hüfte an den dunklen Eichenrahmen.
Als sie sich anlehnte, schien das Regal etwas nachzugeben, und sie
hörte ein leises, aber hartes metallisches Klicken. Instinktiv
sprang sie zurück und hob die Arme über den Kopf. Was für eine idiotische Art zu sterben: ein Bücherregal
umzuwerfen und von den Werken der Weltliteratur erschlagen zu
werden.
Nichts fiel herab. Nichts brach zusammen. Verwirrt trat sie näher,
um das Regal zu untersuchen.
Sie bemerkte sofort, daß sich etwas verändert hatte. Der Rand des
einen Meter breiten Regalabschnitts, an den sie sich angelehnt
hatte, stand gute fünf Zentimeter vor. Das sah
vorher anders aus, das weiß ich genau, dachte sie. Sie
zögerte, dann streckte sie die Hand aus und drückte gegen den
vorstehenden Rahmen. Das Holz gab etwas nach, dann spürte sie
Widerstand. Wie von einer Feder, fand
sie. Sie drückte fester, bis der vorstehende Rand wieder auf selber
Höhe mit dem Rest der Regalwand war. Als die Bretter sich trafen,
erklang ein weiteres Klicken, und der Gegendruck verschwand. Sie
trat einen Schritt zurück, wußte aber bereits, was sie sehen würde.
Das Regal bot wieder eine Einheit. Selbst wenn man wußte, wonach
man Ausschau halten mußte, war kein Unterschied zwischen diesem und
irgendeinem anderen Abschnitt zu erkennen. Hinter diesem Regalabschnitt verbirgt sich... was? Eine
Art Geheimfach? Die Art Versteck, in dem man private Dokumente
aufbewahrt - so etwas wie seine Memoiren?
Sie drückte noch einmal auf dieselbe Stelle. Diesmal wußte sie, was
sie zu erwarten hatte: Sie beobachtete die Bewegung in der
Regalwand und sah ihre Vermutung bestätigt. Der Teil, der sich
verschob, war etwa einen Meter breit und zwei Meter hoch. Ungefähr
von der Größe einer Tür.
Der vorstehende Teil des Holzrahmens bot einen adäquaten Griff.
Vorsichtig zog sie daran. Zuerst spürte sie Widerstand und fragte
sich, ob es noch einen Riegel oder ein Schloß gab, das sie öffnen
mußte. Aber dann überwand ihr Zerren die Trägheit des vollen
Bücherregals, und der Regalabschnitt schwang langsam und lautlos
auf, wie eine Tür. Sie hielt an, als die Öffnung gute sechzig
Zentimeter breit war. Hinter der Tür war es dunkel. Sie konnte
nicht erkennen, wie weit hinein es ging, aber irgendwie
fühlte sie, daß es sich um einen recht
großen Raum handelte. Ein ganzes verstecktes
Zimmer.
Das durch die heruntergelassene Jalousie einfallende Dämmerlicht
genügte, um sich in Pop-Pops Bibliothek zurechtzufinden, aber es
reichte nicht bis in diesen neuen Bereich hinein. Wo war der
Lichtschalter? Es mußte einen geben. Vielleicht hinter der
Tür.
Eine Weile zögerte sie. Der Griff ins Dunkel, in den
geheimnisvollen schwarzen Raum auf der Suche nach dem Lichtschalter
hatte etwas... nicht wirklich Beängstigendes, aber schon etwas Beunruhigendes. Dann lachte sie ängstlich, von
ihrer eigenen Regung peinlich berührt. Zu
viele Horrorfilme gesehen, schalt sie sich selbst.
»Nein, Sam, geh nicht so ganz allein in den
dunklen Keller...« Sie schob die Hand an der Wand entlang in
die Dunkelheit und tastete nach dem Schalter.
In dem Augenblick, in dem ihre Hand in den Raum eindrang, flammte
ein Licht auf und vertrieb die Dunkelheit. Sie unterdrückte einen
überraschten Aufschrei. Nimm dich
zusammen, herrschte sie sich selbst verächtlich an.
Pop-Pop hat einen Bewegungssensor eingebaut.
Das ist noch kein Grund, sich naß zu machen.
Sie tat einen tiefen Atemzug, um sich zu beruhigen, und trat durch
die Geheimtür.