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Mein Gott, die Verluste - auf beiden Seiten.Mehr als zwanzig Tote waren in mehreren Reihen auf dem Zentralplatz der Anlage aufgebahrt. Die meisten waren Saber-Mitarbeiter, aber über ein halbes Dutzend stammte aus den Reihen der Angreifer. (Wie viele habe ich selbst getötet? fragte sie sich, und plötzlich wurde ihr übel. Ich will gar nicht daran denken.) Und dann waren da noch die Gefangenen: ein Dutzend oder mehr, die meisten mehr oder weniger schwer verletzt. Als die Sonne aufging, war Bloch - irgendwie hatte er es geschafft, unversehrt durchzukommen - noch mit dem Verhör der Gefangenen beschäftigt, um herauszufinden, welchen Sinn der Angriff gehabt hatte. Eigentlich hätte sie das interessieren müssen, aber sie schaffte es nicht, sich darauf zu konzentrieren. Die Angreifer waren aus einem anderen Stall gekommen - Frostluchs oder etwas in der Art -, aber es würde Zeit und Mühe kosten, dahinterzusteigen, wer den Angriff tatsächlich veranlaßt hatte. Einer der Nachfolgerstaaten? Wahrscheinlich... aber welcher? Darum sollen sich Bloch und Silver kümmern, dachte sie. Ich habe andere Sorgen.
Und damit meinte sie keineswegs die offensichtlichen. Wahrscheinlich hatte Will Zdebiak es zunächst nicht verstanden, daß sie ihn ignoriert hatte und geradewegs an ihm vorbei zu den auf dem harten, kalten Boden ausgestreckten Leichen gegangen war. Luke Trent und Meg Richardson, die beiden MechKrieger, die Silver ihr in der Messe vorgestellt hatte, waren unter ihnen. Luke war natürlich von der Sprengladung am Mechhangar zerrissen worden. Meg hatte Schrapnell von einer Raketenexplosion erledigt. Neben ihnen lag Renard Gilbert, dessen halber Schädel von einem Laserschuß verbrannt war. Auch Jonas Clay war dabei, die kalten Augen aufgerissen, das Lasergewehr immer noch fest umklammert. Eine MG-Garbe hatte ihn praktisch zweigeteilt, als er versuchte, den Kriegshammer abzulenken und Samanthas Sasquatch vor dem Untergang zu retten.
Aber von dem Mann, nach dem sie wirklich suchte, fand sie keine Spur, weder unter den Toten noch unter den Überlebenden: Tai-sa Mandelbaum. Jared Bloch behauptete, ihn im dicksten Kampfgetümmel gesehen zu haben, eine Laserpistole in der Faust. Eine tödliche Waffe gegen Kontrahenten aus Fleisch und Blut... aber Bloch hatte Mandelbaum damit auf einen der angreifenden Greifen schießen sehen. Das ist, als würde man mit der Zwille auf einen Panzer losgehen, machte Sam sich klar. Und dann hatte das Kampfgeschehen sie getrennt. Kein Überlebender des Saberstalls hatte ihn danach noch gesehen.
Was ist aus ihm geworden? fragte Sam sich wie betäubt. Ist er den Kriegertod gestorben, allein und unbemerkt? Wurde er von einer Rakete zerfetzt, von einem Laser pulverisiert?
Hat er im Tod endlich den Frieden gefunden, der ihm im Leben meist entglitten ist?Sie fühlte ein Brennen in den Augen und wischte sie ungeduldig mit den Fingern. Und was, wenn er tot ist? fragte sie sich. Ich habe ihn kaum gekannt - Teufel, wenn man es genau nimmt, habe ich ihn überhaupt nicht gekannt. Trotzdem fühlte sie...
Was genau fühlte sie eigentlich? Verwandtschaft, Verlust. Echos anderer Emotionen. Natürlich Echos von Pop-Pops Tod, aber da war noch mehr, ein Gefühl von... Nun, ›verpaßte Gelegenheiten‹ wäre eine Möglichkeit, es auszudrücken, entschied sie. Ich habe es in Mandelbaums Büro gefühlt, und ich fühle es noch immer - daß der alte Krieger ein Seelenverwandter war, daß wir etwas Grundlegendes gemein hatten. Daß er Lektionen gelernt hatte, die mir noch bevorstehen... Daß er Fehler gemacht hat, die ich noch machen werde... Und daß ich eine Chance verloren habe, diese Fehler umgehen zu können, an seinem Beispiel zu lernen. Sie wandte sich von den stummen Reihen der Toten ab und konzentrierte sich auf die Lebenden.
Zwischen Sterling Silver und Will Zdebiak gab es eine seltsame Dynamik, das spürte sie sofort. Der Saber-MechKrieger platzte ganz offensichtlich fast vor Fragen, die er ebenso überdeutlich nicht stellen wollte. (Warum nicht? wunderte sich Sam. Weil er weiß, daß die Antworten zu beunruhigend wären?) Samantha sah ihn dem Feuerfalken, aus dem Will herabgestiegen war, zweifelnde Blicke zuwerfen, über Einzelheiten der Konstruktion die Stirn runzeln. Was fällt ihm auf? Schließlich sah sie, wie seine Miene sich aufklärte, als habe er eine Schlußfolgerung gezogen - oder eine Entscheidung getroffen.
Und Will... Tja, eigentlich galt für ihn dasselbe. Er hatte seinen ganz eigenen Fragenkatalog, den er Silver vorlegen wollte und den er aus seinen eigenen, ganz anderen Gründen ebenfalls für sich behalten würde.
Schlußendlich kam es zum Gespräch zwischen den beiden Männern. Sam konnte nicht verstehen, was sie sagten, aber ihren Mienen nach zu urteilen übertrat keiner von ihnen die mentalen Grenzen, die sie sich gesetzt hatten. Daran, wie sie immer wieder in ihre Richtung sahen, erkannte Sam, daß von ihr die Rede war.
Schließlich kam Zdebiak über den Platz auf sie zu. Silver wollte das Gespräch hören - das konnte Sam deutlich an seiner Körpersprache ablesen -, zwang sich aber, wegzusehen und die Aufräumarbeiten zu verfolgen.
Der grauäugige Pilot lächelte sie schräg an. »Sieht aus, als ob Ihr Transport nach Hause möglich ist, Ms. Dooley.« Er deutete zu seinem Feuerfalken. »Meine Maschine ist ein Doppelsitzer, also wenn Sie eine Mitfahrgelegenheit suchen...«
Sie fixierte ihn mit einem ruhigen, forschenden
Blick.
»Ich weiß es nicht«, erwiderte sie ehrlich. »Ich weiß nicht, ob ich
die suche.«
Er blinzelte verwirrt. »Hä?« Sein Mund bewegte sich für einen
Augenblick, ohne daß ein Laut hervorkam, dann sagte er: »Ich kann
Sie nach Hause bringen.«
»Oh?« fragte sie kühl. Sie zuckte die Schultern. »Traditionell
müßte ich dieses Angebot wohl mit offenen Armen annehmen.« Sie
lächelte ihn schräg an. »›Nirgends ist es wie zu Hause‹ und all der
Mist. Aber was erwartet mich denn zu Hause, Will? Sagen Sie mir
das. Das VGL-Gegenstück einer Kriegsgerichtsverhandlung? Oder
vielleicht verschwinde ich einfach - Amy hat mir erzählt, daß so
etwas schon vorgekommen ist. Oder vielleicht werde ich ja auch
freigelassen und darf mein Leben weiterführen, solange ich
niemandem ein Sterbenswörtchen über all das hier verrate.« Sie
breitete die Hände aus. »So oder so, wo liegt für mich der Reiz?
Ich gehe nach Hause, und alles bleibt, wie es war. Ich bleibe
hier... und ich gehöre dazu. Ich kann
etwas tun, worin ich gut bin.« Sie
wußte, es waren Mandelbaums Gedanken, die sie aussprach, wenn auch
mit eigenen Worten. »Zu Hause ist kein Platz für einsame Wölfe«,
schloß sie.
Will antwortete ihr nicht sofort, wie sie erfreut feststellte - er
verwarf ihre Sorgen nicht selbstverständlich. Er schien ihr
tatsächlich zugehört zu haben und über die Bedeutung ihrer Worte
nachzudenken. Schließlich sagte er langsam: »Ich dachte immer,
ich wäre ein einsamer Wolf. Es hat eine
Weile gedauert, ihn zu finden, aber es gibt Platz genug für mich. Egal«, zuckte er die
Schultern. »Lassen wir das für den Augenblick beiseite. Ich
begreife, was Sie sagen wollen, Dooley. Sie haben einen Ort
gefunden, an dem Sie sich heimisch fühlen. Das ist wichtig. Die
meisten Menschen verbringen ihr ganzes Leben, ohne dieses Gefühl zu
kennen. Und Sie haben etwas gefunden, worin Sie gut sind. Dagegen
kann ich auch nichts sagen. Aber was genau ist es denn, worin Sie
so gut sind, Dooley?« fragte er. In seinen Augen lag ein seltsamer
Ernst, den sie vorher noch nicht gesehen hatte - als habe er seine
obercoole JägerjockeyMaske abgelegt und spräche als reale Person
mit ihr. »Einen BattleMech steuern? Kann sein. Kann sein, daß es
das ist, worin Sie gut sind, kann sein,
daß es das ist, wozu Sie geboren
wurden. Aber ich glaube es nicht.«
Sam hob die Arme bis auf Schulterhöhe und ließ sie wieder fallen.
»Was dann?«
»Sich anpassen«, erklärte er
entschieden. Er lachte. »Kennen Sie den alten Spruch: ›Wenn das
Leben dir eine Zitrone beschert, mach Limonade‹?« Er sah sich um.
»Sie haben Limonade gemacht, Hühnchen au Citron, Zitronenbaisers -
eine komplette Mahlzeit. Sie sind in U-N-V Eins-Drei-Sieben
gelandet« - er grinste diebisch -, »haben es bei den Klöten gepackt
und es durchgeschüttelt, bis Sie hatten, was Sie wollten. Und
wissen Sie was?« fragte er heftig. »Sie hätten ebensogut in U-N-V
Eins-Null-Fünf landen können, oder U-N-V Sechs-Drei... und das
Ergebnis wäre dasselbe geblieben. Sie hätten jedes Universum bei den Weichteilen zu packen
bekommen. Okay, sicher«, winkte er ab, »diesmal hat die Anpassung
von Ihnen verlangt, daß Sie einen Mech steuern lernen. Gut. Aber das ist nur die Verpackung, Dooley. Verstehen Sie das nicht? Wenn
es keine BattleMechs gewesen wären, hätten es U-Boote sein können
oder Raumschiffe... oder von Pferden gezogene Streitwagen, meine Güte. Waren Sie schon jemals in
einer Lage, in die Sie geraten sind - irgendeiner Lage - und der Sie nicht gewachsen
waren? Nein«, verbesserte er sich, »nicht einfach nur ›gewachsen‹ - die Sie
gemeistert haben?« Er lachte. »Sie
fahren Motorrad, nicht wahr?«
Von der Frage überrascht, nickte Sam.
»Und das hat Ihnen einer Ihrer Freunde beigebracht, richtig? Hat er
Ihnen sein Motorrad nicht nach so etwa dem sechsten Mal nicht mehr
geliehen, weil Sie besser damit umgehen konnten als er?«
Sam blinzelte... dann lachte sie laut auf. »Und er hat mir den
Laufpaß gegeben«, gestand sie ein.
»Was für ein Dummkopf. Und genauso war es mit jeder anderen
Situation, nicht wahr?« Will schwenkte die Hände. »Das war's. Sie
sind kein geborener Mechjockey, Dooley. Sie sind eine geborene
Überlebenskünstlerin. Und das macht Sie
zu einem geborenen Mitglied der VGL. Mann, Dooley, wenn Burton und Bell noch leben
würden, würden sie jedem, der sich Ihrer Mitgliedschaft in den Weg
stellt, das Gemächte abreißen.«
Samantha schüttelte langsam den Kopf. Zu
schnell, dachte sie. Zu viel, zu
schnell. »Ich weiß nicht, Will.«
»He, es ist Ihre Entscheidung«, antwortete Debian. Er sah sich um.
»Solaris Sieben - das ist wirklich ein Ort für ein Abenteuer. Für
ein Abenteuer. Ein
einziges. Aber wenn es das ist, was Sie wollen... He, immer
zu. Jede virtuelle Welt wird ein
Abenteuer.« Er wechselte hart die Gänge des Gesprächs und warf sie
damit für einen Augenblick aus dem Gleichgewicht. »Was meinen Sie,
wie viele virtuelle Welten es gibt, Dooley?«
»Hä?« Sie blinzelte. »Wie, zum Teufel, soll ich das
wissen?«
»Eine unendliche Zahl«, schoß er zurück. »Eine unendliche Zahl. Denken Sie darüber mal nach. Jede
einzelne anders als alle anderen, jede einzelne eine neue
Herausforderung. Und die League braucht Überlebenskünstler - Menschen, die in der Lage
sind, sich an alle denkbaren Umstände anzupassen -, um sie zu
erforschen. Ich halte Sie für einen dieser Menschen.« Er schenkte
ihr sein schönstes Piratengrinsen. »Und ich werde jedem das Gemächte abreißen, der etwas
anderes behauptet. Die Wahl liegt bei Ihnen, Dooley«, stellte er,
auf einmal wieder ernst, fest. »Ich kann nichts garantieren. Wenn
es um die Geschäftspolitik geht, bin ich ein ganz kleines Licht.
Ich treffe keine großen Entscheidungen - ich mache nur, worüber andere Leute
debattieren.«
Sam nickte. »Die Melodie kenne ich«,
gab sie zu.
»Es ist Ihre Wahl«, sagte Will ruhig. »Wo ist zu Hause überhaupt?«
Samantha sah ihn für einen langen Augenblick an. Was Will gesagt
hatte... Sie wußte, er hatte recht. All das, was sie durchgemacht
hatte, nur um ihre Neugierde in bezug auf das relativ geringfügige
Rätsel in Zusammenhang mit dem Tod ihres Großvaters zu klären, wie
sie die Herausforderungen von Solaris Sieben überlebt hatte - nein,
mehr als überlebt, überwunden und bezwungen... Sie hätte die
Antwort auch selbst finden können, aber Wills Worte hatten eine
Saite in ihr zum Klingen gebracht, die keinen Zweifel daran ließ,
wie recht er hatte. Sie fühlte, wie ihre Mundwinkel sich nach oben
bewegten. »Ich habe meine Wahl getroffen«, stellte sie leise
fest.
Sie lächelte Sterling Silver mit einer gewissen
Traurigkeit an. »Was wirst du tun?« fragte sie.
Er zuckte die Achseln. »Was schon? Den Stall wiederaufbauen und
betreiben. In Betrieb halten, bis
Mandelbaum sich entschließt, zurückzukommen und ihn wieder zu
übernehmen.« Er wendete den Blick ab, als habe er Angst, sie könne
das Gefühl in seinem Gesicht sehen. Er streckte die Hand aus.
»Falls du dich je entscheiden solltest, es annehmen zu wollen, ist
im Saberstall immer ein Platz für dich frei.«
Einen Augenblick lang wußte Sam nicht, was sie sagen sollte. Dann
machte sie sich klar, daß sie vielleicht gar nichts zu sagen
brauchte. Sie nahm seine Hand, schüttelte sie... Dann zog sie ihn
an sich, legte die Arme um ihn. Er erwiderte die Umarmung und
drückte fast die Luft aus ihren Lungen. Dann gab er sie frei und
hielt sie an den ausgestreckten Armen von sich. In seinem Blick lag
etwas Seltsames - ein ironischer, wissender Ausdruck, den sie zuvor
nicht bemerkt hatte. »Wer weiß?« sagte er. Er versuchte, seine
Stimme locker klingen zu lassen, aber sie hatte gleichzeitig einen
seltsamen Unterton. »Vielleicht begegnen wir uns ja mal in der
Wildnis.«
Damit drehte er auf dem Absatz um und marschierte davon.