20
Samantha starrte auf Ravens verkrümmte Leiche. »Und ihr laßt ihn einfach liegen?« fragte sie. »Ihr laßt zu, daß die Cops... die Schnapper... ihn abtransportieren?«
Der junge Mann zuckte die Schultern. »Was
sonst?«
»Ihr tut nichts, um...« - sie zögerte, suchte nach den richtigen
Worten - »um ihm euren Respekt zu erweisen?« Ungebeten trat die
Erinnerung an ihren letzten Flug in Pop-Pops Yellow Bird und an die private Wake, die sie und
Maggie abgehalten hatten, vor ihr inneres Auge. »Um euch irgendwie
von ihm zu verabschieden?«
»Das ist nicht er. Das ist bloß das Fleisch, der Staub, okay?
Er ist nicht mehr da.«
»Ja, aber...«
Er lachte grimmig. »Was machst du mit deinem Mantel, wenn du ihn
nicht mehr brauchst? Veranstaltest du eine Party für ihn? Freck, du
bist wirklich Ballast.« Er zögerte, und ein neuer Ausdruck trat in
seine dunklen Augen. »Du bist nicht von hier, oder, Ballast? Du
bist keine Felderin. Du bist eine Fremdweltlerin, oder?«
Sam zögerte, dann nickte sie einmal kurz. Es trifft den Kern der Sache, mußte sie
zugeben.
»Wo kommst du her, Ballast? Aus den Sonnen? Und was, beim Freck,
machst du hier?« Er beugte sich
interessiert vor. »Du siehst wie ein Mechhäschen aus. Du bist ein
Freckaas-Ballast-Mechhäschen, das hier mal kurz Slumluft schnuppern
kommt, ja?«
»Das ist eine lange Geschichte.«
»Erzähl, Ballast«, schlug er in einem
vor Ironie triefenden Tonfall vor. »Ich mag Geschichten.«
Plötzlich fühlte Sam sich unter dem Blick des jungen Manns
unbehaglich. Nach seinen Augen und seiner Stimme zu schließen, war
sein Alter inzwischen nur noch auf vierzehn zu schätzen.
Etwa halb so alt wie ich, dachte sie -
und fühlte sich noch immer eingeschüchtert. Immerhin ist das hier seine Welt, versuchte sie
ihre Reaktion zu rationalisieren. Er weiß, wie
die Dinge laufen. Ich bin fremd, ein Greenhorn. Sie sah sich
in der Verwüstung um, die sie umgab. An einem
Ort wie diesem wirst du schnell erwachsen - und hart.
Sie stand langsam auf. »Ist doch egal, oder?« sagte sie ruhig und
benutzte seine Worte. »Dann werde ich mal weiterziehen.« Sie sah
auf Ravens Leichnam hinab und konzentrierte sich auf einen einzigen
Gedanken - danke, Raven, du hast mir das Leben
gerettet. Sie stellte sich vor, daß er seinen Weg an den Ort
fand, an dem die Seele des alten Mannes jetzt war, wo auch immer
das sein mochte, und drehte sich um.
»Wohin willst du?«
Sam drehte sich nochmals um. Die Miene des jungen Mannes war immer
noch leer, aber wieder hatte sich seine Körpersprache subtil
verändert. Sie wünschte, sie hätte gewußt, wie sie das deuten
sollte. »Ich weiß nicht«, antwortete sie mit einem leichten
Schulterzucken. Dann lächelte sie dünn. »Aber du brauchst dir keine
Sorgen zu machen. Ich mache dir deinen Platz nicht streitig.« Der
Knabe runzelte fragend die Stirn. »Er gehört doch jetzt dir,
nachdem Raven tot ist, oder?«
Er schnaubte abfällig über eine derartig lächerliche Vorstellung.
»Ich häng nicht hier rum,
Grünschnabel«, höhnte er. »Ich bin letzte Nacht zu einem Besuch
hergekommen. Hab dich hier schlafend vorgefunden - völlig
weggetreten, laut Metall schleifend -, und Raven war tot.« Er
zuckte die Schultern, als wäre damit alles gesagt.
»Warum bist du geblieben?« fragte Samantha nach einer
Weile.
Der junge Mann sah beiseite. »Hatte nichts Besseres vor«, murmelte
er.
»Also hast du hier geschlafen? Nein«, korrigierte sie sich, »du
hast überhaupt nicht geschlafen, oder?« Der Ausdruck auf der Miene
des Burschen zeigte ihr, daß sie richtig geraten hatte.
Das ist richtig rührend.
»Raven war erledigt«, erklärte der Junge grob, ohne Sams Blick zu
begegnen. »Wenn man einem Grünschnabel einen Platz zum Pennen
anbietet, sorgt man wenigstens dafür, daß ihr keiner für ihre
teuren Schuhe den Hals durchschneidet.«
Sam hatte Mühe, ein verständnisvolles Lächeln zu unterdrücken.
Du hast die ganze Nacht über mir Wache
gehalten, nicht wahr? dachte sie. Deswegen bist du nicht zurück in deine gewöhnliche Unterkunft
gegangen. Aber das wirst du nicht zugeben ... Und du wirst mir auch
nicht gestatten, dir dafür zu danken, oder? Sie nickte
langsam. »Das sehe ich ein«, stellte sie gleichmütig fest. »Das ist
nur korrekt.« Sie lächelte ein wenig. »Ich kannte Ravens Namen. Und
ich heiße Samantha, aber man nennt mich Sam.« Sie
wartete.
»Renard«, erwiderte er nach einer Sekunde. »Ren.«
Sam nickte wieder nüchtern. »Okay, Ren.«
Renard sprang auf, als habe er plötzlich zuviel Kraft, die er
irgendwie verbrauchen mußte. »Wohin willst du?« fragte er
wieder.
Das ist die große Frage, nicht
wahr?
Einiges von den Gefühlen, die in ihrem Innern tobten, mußte sich
auf ihrem Gesicht widergespiegelt haben, denn Renard runzelte die
Stirn. »Du weißt nicht, wohin?« Wortwahl und Betonung
kennzeichneten den Satz als Frage. Seine Miene verwandelte ihn aber
zu einer Feststellung.
Sam zögerte.
Anscheinend war das Antwort genug. Er schnaubte angewidert. »Dachte
ich mir's. Freck, du bist wirklich Ballast. Was, im Namen der Fünf Säulen,
machst du hier, Häschen? Wie kommst du
überhaupt hierher?«
Wieder zuckte Sam die Achseln. »Ist doch egal, oder?« wiederholte
sie noch einmal.
»Mir jedenfalls, da kannst du ein Ei drauf zerbrechen.«
»Dir kann es auch egal sein.« Irgend etwas ließ sie glauben, daß
dieser hartgesottene junge Bursche nicht annähernd so kalt und
herzlos war, wie er sie glauben machen wollte - und im Augenblick
konnte sie einen Freund gebrauchen, selbst wenn er ihr nur den Weg
in die richtige Richtung wies. Sie entschied sich, einer Eingebung
zu folgen, seufzte theatralisch und ging davon.
»He, Ballast!«
Sie verkniff sich ein Grinsen - erwischt! - und drehte sich mit entmutigter Miene
zu ihm um. »Yeah?«
Renard verlagerte das Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Seine
Körpersprache schrie das Unbehagen heraus, das er seiner Miene
nicht anmerken ließ. »Wo willst du hin?« fragte er wieder. »Wovon
willst du leben, hä?« Er deutete mit einer scharfen Geste auf das
formlose Lumpenbündel neben dem Feuer. »Es gibt nicht viele wie
Raven, nicht hier in der Gegend.«
Sie zuckte wieder die Schultern und murmelte: »Ich finde schon
was.« Sie drehte ihm wieder den Rücken zu und versuchte, sich ihre
eigenen Zweifel nicht anmerken zu lassen. Was,
zum Teufel, ist mit dir los, Dooley, daß du in dieser Lage die
Spröde spielst? herrschte sie sich an. Du hast ihn am Haken. Sie schnaubte leise - eine
Geste der Selbstverachtung, gemischt mit Enttäuschung. Du warst immer so verflucht stolz auf deine
Unabhängigkeit. Kannst du nicht mal diesem Kind trauen, um dein
eigenes Leben zu retten? Er kann dich in keinen Schlamassel
bringen, aus dem du nicht wieder rauskämst.
»He, warte.«
Langsam drehte sie sich um. Auf Rens schmalem Gesicht stand ein
Ausdruck von seltsamer Bewegtheit.
»Weißt du überhaupt, wo du bist?«
»Rolandsfeld.«
Ren zischte ungeduldig. »Ja, sicher. Aber wo im Feld?«
Sam schüttelte den Kopf. »Nein«, antwortete sie ehrlich. »Das weiß
ich nicht.«
Er starrte sie wütend an. Seine Augen blitzten zornig. »Und wo du
hinwillst, weißt du auch nicht, oder, Ballast? Wo willst du heute
nacht pennen? Was willst du essen?«
»Ich finde was.«
Er schnaufte amüsiert, als hätte sie einen Witz gemacht. Dann
musterte er sie mit übertriebener Gestik von Kopf bis Fuß. »Ja,
klar findest du was. Auf dem Rücken
oder auf den Knien, anders nicht. Bist du bereit, den Weg
einzuschlagen, Häschen? Wer weiß, vielleicht gibt's im Feld ja
Abnehmer für Fremdweltenfleisch. Hä?« Seine Stimme war hart,
abfällig, aber etwas in seinem Blick strafte das Gift in seinen
Worten Lügen. »He, wenn du es wirklich willst, kannst du deine
Laufbahn gleich hier starten.«
Es kostete sie große Mühe, ein Schaudern zu unterdrücken. Der
Bursche hatte recht, das war ihr klar. Mein
Gott, es stimmt. Was für Möglichkeiten hätte ich denn sonst? Ich
kenne die Kultur nicht, ich kenne die Technologie nicht, es ist
reines Glück, daß ich mich überhaupt verständigen kann. Sam
zwang sich, diese Gedanken beiseite zu lassen. »Ich finde was«,
sagte sie gleichmütig.
Ren spuckte auf den Boden. Samantha sah schweigend zu, wie er auf
und ab tigerte und vor Anspannung fast zitterte, während er um eine
Entscheidung rang. Schließlich benahm er sich wie ein Hund, der
Wasser aus dem Fell schüttelt. »Ach, Freck, ich bin weg!« knurrte
er. »Muß zur Arbeit.« Er drehte ihr den Rücken zu, ging aber nicht
los - noch nicht. Ohne sie anzusehen, raunzte er grob: »Wenn du
mitkommen willst, dann komm. Wenn nicht, freck dich!« Damit setzte er sich in Richtung der
flachen Häuser von Rolandsfeld in Bewegung.
Trotzdem zögerte Sam noch, bevor sie ihm nachhumpelte.
Was, zum Teufel, ist das für ein
Ort?
Das war Samanthas erster Eindruck vom ›wirklichen‹ Rolandsfeld. Ihr
Eindruck von der Bergkuppe in der letzten Nacht war der einer
Großstadt wie Los Angeles gewesen - einer in einem Lichtermeer das
Land bedeckenden Metropole. Bei den - zugegebenermaßen seltenen -
Gelegenheiten, als sie daran zurückdachte, hatte sie sich
ursprünglich etwas aus einem Science-Fiction-Film vorgestellt.
Rolandsfeld mußte ein ›Technotopia‹ sein, oder nicht? Jede
Gesellschaft, die über die Technologie zur Herstellung von
BattleMechs verfügte, mußte auch zahllose andere Wunder der Technik
ihr eigen nennen. ›Flugautos‹ vielleicht, riesige
Glas-und-TitanstahlWolkenkratzer von einer halben Meile Höhe,
Computer, Roboter, künstliche Intelligenz und wer weiß was
noch.
Na schön, die Verwüstung, in der sie die Nacht verbracht hatte, und
die flachen Häuser, die sie von der Schrotthaldenwüste aus gesehen
hatte, paßten nicht zu diesem Bild chromglänzender Technologie.
Aber konnte man aus einem Schrottplatz und ein, zwei Häuserblocks
in South Central L. A. ein realistisches Bild von ganz Los Angeles
gewinnen? Das mußte ungefähr der Lage entsprechen, in die sie
geraten war, hatte sie sich überlegt. Okay, sie war über die
›Slums‹ von Rolandsfeld gestolpert... Und die waren reichlich
niederschmetternd. Aber wenn sie sich nur weit genug von den Hügeln
entfernte, aus denen sie gestern nacht gekommen war, mußte sie
irgendwann die wahre Stadt erreichen
...
Oder? Es dauerte nicht lange, bis die ersten Zweifel an ihr nagten.
Die ersten Blocks, an denen Ren und sie vorbeikamen, wirkten ohne
Zweifel vertraut. Es hätte nicht viel gefehlt, und sie hätte sich
einreden können, daß sie in der Nähe des USC-Campus durch Watts
lief oder durch verschiedene Viertel in South Central. Dieselben
flachen, heruntergekommenen Häuser. Dieselben Graffitis und
Gang-Markierungen an den Mauern. Dieselben Metallgitter an den
Fenstern, dieselben stahlverstärkten Ladentüren. Und dieselben
Straßenbewohner, die an den Wänden lehnten oder in den
Hauseingängen hockten und die Vorbeigehenden mit Aasfresser- oder
Raubtierblikken verfolgten.
Die Gemeinsamkeiten waren erstaunlich, grundlegend, bedeutend. Die
Unterschiede, die sie bemerkte, waren hingegen nur oberflächliche,
im Grunde bloße Details, auch wenn Sam sie dennoch verwirrend und
besorgniserregend fand.
Da war zum Beispiel die Luft. Selbst an den frischesten, klarsten
Tagen hatte die Luft im Los Angeles Basin einen charakteristischen
Geruch von Autoabgasen und verschiedenen sonstigen Beimischungen,
die das typische Aroma dieser Stadt ausmachten. Angelenos bemerkten
es natürlich nicht; ihre Sinne paßten sich relativ schnell an und
›filterten‹ es aus. Diese Stadt jedoch
hatte ihren ganz eigenen Geruch: Es war
zweifellos Abgasgestank, wenn auch nicht das Kohlenmonoxid und die
Stickoxide, an die sie gewöhnt war, unterlegt mit dem üblichen Biß
von Ozon und noch etwas anderem. Vielleicht
dem toten, staubigen Geruch der Verzweiflung? Und dem scharfen Duft
von Gewalt dicht unter der Oberfläche ...
Dann waren da die Plakate, die an jeder verfügbaren Wandfläche
hingen. Die Werbung für durchaus vertraute Produktarten - etwa
Alkohol und Junk food
- war irgendwie falsch.. Es waren nicht
nur die unterschiedlichen Sprachen, in denen sie abgefaßt war, und
die fremdartigen Markennamen - Stiletto
Gin?! - oder die öffentlichen Warnungen vor unbekannten
Gefahren - ›Das nächste BRIADS-Opfer könntest DU sein!‹ -, auch
wenn sie das alles andere als kalt ließ. Weitaus beunruhigender war
das Aussehen der Plakate, der grafische
und typografische Aufbau, die Bilder, die Art, wie all dies
zusammenspielte. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Sam nie weiter
darüber nachgedacht, aber jetzt erkannte sie, daß Werbung -
genau wie so ziemlich alles andere auch
- eine Art ›visuellen Dialekt‹ besaß, eine Art auf ihren
Kulturkreis festgelegte ›Bildsprache‹, die es den Werbegestaltern
erlaubte, mit einfachen Bildelementen eine große Menge emotionaler
›Daten‹ zu übermitteln. Was Sam anbetraf, ging diesen Plakaten und
Werbeflächen der vertraute visuelle Dialekt ab. Die Bilder und
Grafiken benutzten eine fremde Bildsprache, die sie nicht
verstand.
Und dann die Werbung für Waffen. Grelle
Plakatwände verkündeten unmittelbar neben den Werbebotschaften von
Schokoriegeln und Softdrinks das Hohelied der Handfeuerwaffen und
Munitionsarten:
ES HÜLSENLOS!‹ Ich komme mir vor wie im feuchten Traum eines Waffenfetischisten...
Als sie die Schrotthaufen hinter sich ließen, hatte Sam wieder zu Renard aufgeschlossen. Jetzt war sie aber zurückgefallen - zu beschäftigt mit Glotzen, schalt sie sich in Gedanken. Hastig beschleunigte sie ihre Schritte und schloß die Lücke zu dem jungen Halbstarken. Sie war noch immer ein Dutzend Meter entfernt, als er nach rechts in eine enge Seitenstraße abbog - Gasse ist vielleicht ein besseres Wort dafür, korrigierte sie sich. Sie fühlte fremde Augen auf sich ruhen. Die Straßenbewohner beobachteten sie, schätzten sie ab. Plötzlich schauderte sie und wollte Renard nachlaufen, sofort, aber gleichzeitig wußte sie instinktiv, daß genau das grundverkehrt gewesen wäre. Mit einiger Mühe hielt sie ihre Schritte gleichmäßig - ein schneller, geschäftsmäßiger Gang, nicht die panische Flucht eines Opfers. Sie bog um die Ecke...
Und wäre fast mit jemand zusammengestoßen, der aus einer Türnische links von ihr trat. Sie bremste hart ab und stoppte nur Zentimeter vor ihm.
Es war ein großgewachsener Mann, eins achtundachtzig, vielleicht eins neunzig, mit breiten Schultern und entsprechendem Brustkorb. Irgendwann war er wohl mal gut in Form gewesen, aber inzwischen schienen sich die meisten seiner Muskeln in Fett verwandelt zu haben. Sein T-Shirt - mit einem grobgerasterten Farbfoto eines BattleMechs, der über einen Metallberg kletterte, über dem Schriftzug ›SCRAPYARD DOG‹ - dehnte sich über seinem Bauch. Er grinste lüstern auf Sam herab, und seine Schneidezähne funkelten in kaltem Stahlgrau. Sein Atem hüllte sie ein, eine übelkeiterregende Mixtur aus Alkohol, Mundgeruch und Zahnfäule.
»He, Häschen«, lallte er. »Willschu misch begleiten? Ja, klar willschu.« Er streckte die linke Hand nach ihr aus. Vielleicht nach ihrem Arm, vielleicht nach ihrer Brust. Sie war sich nicht sicher.
Und sie dachte nicht daran, stillzuhalten, um es herauszufinden. Sie wich einen Schritt zurück und wollte die fleischige Hand packen, die sich nach ihr ausstreckte, wollte denselben Drehgriff anwenden, mit dem sie sich gegen das Wiesel im Jones-CartageLaster zur Wehr gesetzt hatte.
Sie war schnell, aber ihr massiges Gegenüber war noch schneller. Seine Rechte zuckte vor und packte ihr Handgelenk wie ein Schraubstock. Sam schrie auf, als er die Hand in seiner Pranke über ihre Schulter hob und aus blutunterlaufenen Augen anstarrte. »Feurisch«, brummte er. Dann, grinsend: »Isch mag meine Mädschen feurisch.«
Sam verlagerte das Gewicht, bereitete einen Gegenschlag vor. Aber bevor sie ihn ausführen konnte, drückte der Mann fester zu, bis sie die Knochen in ihrem Handgelenk aneinander reiben fühlte. Sie unterdrückte einen Schmerzensschrei.
»Laß es«, knurrte er, mit plötzlich klarer, harter Stimme. Seine kleinen Schweinsaugen verengten sich, und er starrte auf sie herab. »Versuch ja nichts, Häschen, oder ich könnte mich entscheiden, gar nicht nett zu dir zu sein. Klar?«
Samantha trat mit dem rechten Bein aus, ein schneller, kraftvoller Tritt in seine Weichteile. Er kam nie an. Wieder reagierte er schneller, als irgendwer von seiner Größe - oder in seinem Zustand - es eigentlich hätte können dürfen. Er drehte sich in der Hüfte, so daß ihr Tritt den Oberschenkel traf. Der Schlag ließ ihn grunzen. Es mußte geschmerzt haben, wenn auch nicht annähernd so sehr, wie sie es beabsichtigt hatte. Dann riß er Sam mit einem tierischen Wutgebrüll am Handgelenk von den Füßen und schüttelte sie durch, während er gleichzeitig den Druck noch verstärkte.
Sie kreischte vor Schmerzen, als flüssiges Feuer ihren Unterarm hinab bis in den Ellbogen zu schießen schien.
»Schlampe«, knurrte der Riese. »Freckarsch.« Er preßte die Faust noch fester zusammen, und Sam fühlte, wie etwas in ihrem Handgelenk nachgab. Die Schmerzen wurden zu einem roten Nebel vor ihren Augen, einem donnernden Hämmern in ihren Ohren.
»Laß die Lady runter, du Sack.«Die Stimme drang kaum durch das Paukenkonzert der Schmerzen. Sam erkannte sie nicht sofort - sie hatte noch nie eine so kalte, tödliche, gefühllose Stimme gehört. Sofort sah sie hinab zum Ursprung dieser Stimme, dieser neuen Bedrohung.
Es war Renard. Sein Gesicht schien leer, ohne jeden Ausdruck, wie das einer Leiche. Das einzige Lebenszeichen lag in seinen Augen, ein kaltes Glitzern wie das einer Messerklinge unter einer Straßenlaterne. In der Hand hielt er eine Waffe - eine riesige, wuchtige Pistole mit einer Mündung wie ein Höhleneingang. Sie war vollkommen ruhig auf den Riesen gerichtet, als wäre sein Arm, sein ganzer Körper aus Wolframstahl. »Laß die Lady runter«, befahl er erneut.
Langsam drehte das Schwergewicht den Kopf und starrte auf Ren hinab. Seine Augen verengten sich zu wütenden Schlitzen. »Zieh Leine, Junge«, brummte er. »Sieh zu, daß du Land gewinnst.« Er hielt Sams Handgelenk noch immer in einem Griff wie eine Hydraulikpresse.
Ren schüttelte ein einziges Mal den Kopf. »Laß sie runter.« Sam sah seinen Daumen sich bewegen, hörte das scharfe, metallische Klicken, als er den Sicherheitshebel der schweren Waffe löste.
Der Griff um ihr Handgelenk lockerte sich ein wenig, und die Schmerzen ließen nach. »Gehört sie zu dir?« fragte der Mann, und seine Stimme troff vor beleidigender Herablassung. »Großer Mann.«
Sam sah Ren die Pistole leicht bewegen. Bis jetzt hatte er auf den Brustkorb ihres Angreifers gezielt. Jetzt zeigte der Lauf der Waffe exakt zwischen dessen Schweinsaugen. »Für dich reicht's.«
Samantha konnte eine Veränderung im Griff des Mannes fühlen. Er war immer noch fest genug, um zu schmerzen, aber etwas von der Sicherheit, der blinden Aggression schien ihn verlassen zu haben. »Groß genug, um den Abzug durchzuziehen?« fragte er.
Und Renard zog die Lippen zurück, in einem grausamen, kalten Lächeln. Ich bin der Tod, schien es zu sagen. »Falls ich es bin, wirst du keine Gelegenheit mehr haben, es zur Kenntnis zu nehmen.«
»Freck!« Der Mann schleuderte Sam beiseite. Sie stolperte, fing sich aber, bevor sie zu Boden gehen konnte. »Da hast du den Köder«, knurrte er. Sam hörte das Zittern der Angst in seiner Stimme. »Wahrscheinlich ist sie die Mühe eh nicht wert.« Damit drehte er sich um und wankte davon, aus der Gasse und außer Sicht.
Rens Pistole folgte ihm, bis er um die Ecke war. Zwei Sekunden stand der junge Mann nur da, hart und unerbittlich. Dann ließ er mit einem Seufzen den Atem entweichen, und die Anspannung verließ seinen Körper. Er blickte auf die Pistole in seiner Hand, als habe er sie noch nie zuvor gesehen. Er brachte die Hand hinter den Rücken und schob die Waffe in den Hosenbund, wo sie unter seiner hüftlangen Weste verborgen war. »Ballast«, schnaufte er.
Dann lächelte er Samantha an. Diesmal war es ein echtes Lächeln, keine Grimasse eines fleischgewordenen Todesengels. »Kommst du?« fragte er sie.
Sam nickte, noch immer benommen. Ich bin noch nie so knapp an einem Mord vorbeigekommen. Als Renard weiterging, hastete sie hinterher.
Er sah sie nicht an, reagierte überhaupt nicht auf ihre Anwesenheit an seiner Seite. Er ging einfach weiter. Sam versuchte, seine Körpersprache zu lesen, und erkannte schließlich ein leises Zittern als die Angst, die er während der Auseinandersetzung so erfolgreich unterdrückt hatte.
»Danke«, sagte sie leise. »Ich stehe schon
wieder in deiner Schuld.«
Ren schnaubte nur, als hätten ihre Worte keine Bedeutung für ihn.
»Ich hab was gegen Arschlöcher«, erklärte er grob.
Sam nickte und ging ein paar Minuten schweigend neben ihm her.
Schließlich konnte sie ihre Neugier nicht mehr unterdrücken.
»Hättest du ihn erschossen?« fragte sie leise.
Er blieb stehen und sah sie an. Seine Miene war wieder
ausdruckslos.
»Hättest du geschossen?« hakte sie
nach.
Plötzlich grinste er. »Nö«, antwortete er lässig. »Is nicht
geladen.«
Sie starrte ihn einen Augenblick lang an, dann prustete sie los.
»Renard«, stellte sie fest, »dein Stil gefällt mir.«
Und ich hatte auf eine
Science-Fiction-Stadt mit riesigen Glastürmen gehofft...
schnaubte Sam.
Sie waren jetzt fast eine Viertelstunde unterwegs schätzungsweise eine Meile seit den Schrotthaufen,
dachte sie -, und soweit sich ihre Umgebung überhaupt verändert
hatte, war sie noch bedrückender geworden. Die Straßen waren
schmaler und wurden jetzt ab und zu von Müllbergen fast vollständig
blokkiert - verschimmelten Essensresten, vermischt mit Schrott.
Wenn ich in fünf Jahren noch mal hier
vorbeikomme, werden diese Straßen dann ganz unter Schrotthaufen
verschwunden sein? fragte sie sich.
Aasfresser beobachteten sie auf ihrem Weg - zweibeinige
und vierbeinige Aasfresser.
Stadtstreicher starrten aus dunklen Hauseingängen, und kleine
Knopfaugen funkelten in den dunklen Tiefen der Müllberge.
Ratten, dachte sie, bis sie eines der
kleinen Tiere sah. Es ähnelte der Kreatur, deren Bau sie in der
Wildnis für sich beansprucht hatte: eine Eidechse, aber mit einem
dichten Haarpelz, und dieses Exemplar war größer, etwa so groß wie
ein unterernährter Beagle. Und es wirkte gemeiner - hagerer,
bissiger, wilder. Samantha unterdrückte ein Schaudern. Diese Biester füllen die ökologische Nische von Ratten?
Wenn ich je einen Beweis dafür gebraucht hätte, daß ich woanders
bin, in einer grundlegend fremden Welt, dann hab ich ihn
jetzt.
Renard marschierte weiter, ohne die Aasfresser zu beachten, deren
Blicke sie verfolgten. Die Wolkendecke über ihnen war ungebrochen
und von dunklem Schiefergrau. Ein leichter, kalter Nieselregen
hatte eingesetzt. Sam war kalt bis in die Knochen. Falls Ren den
Regen überhaupt bemerkte, ließ er sich davon nichts
anmerken.
»Und hier in der Gegend arbeitest du, Ren?« fragte sie.
Der junge Mann grinste und verstand die wahre Frage hinter ihren Worten. »Es ist nicht mehr
weit, Ballast«, antwortete er trocken.
»Sam«, korrigierte sie automatisch.
Er zögerte. Dann nickte er. »Sam.«
»Was machst du denn so?« fragte sie eine Minute später. Sie sah
sich zwischen den niedrigen, heruntergekommenen Gebäuden um. Die
Fenster der meisten kleinen Läden waren mit Brettern verschlagen.
In vielen Mauern klafften reihenweise baseballgroße Krater.
Kugellöcher, erkannte sie mit
Schrecken.
Ren schien ihre Blicke bemerkt zu haben, denn er verzog den Mund zu
einem grimmigen Lächeln. »Du meinst, ich bin in einer Bande?
Schießereien aus dem vorbeifahrenden Wagen und so 'n Scheiß? Nein,
nicht mehr.«
»Sondern...?«
»Ich hab mir einen richtigen Job verschafft«, erläuterte er. »Ich
arbeite für einen Stall. Den Saberstall.«
Samantha schüttelte den Kopf. »Kapier ich nicht«, gab sie zu. »Was
ist ein Stall?« Sie schnitt seine Antwort mit einem Schnaufen ab.
»Ich weiß, ich bin Ballast, aber
erklär's mir trotzdem, okay?«
Ren kicherte. »Ich weiß auch, daß du Ballast bist«, erwiderte er,
aber zum erstenmal meinte er es nicht als Beleidigung. »Wir sind
auf Solaris Sieben. Du mußt wirklich
Ballast sein, um nicht zu wissen, was das bedeutet.«
»Sag es mir.«
Das junge Ex-Bandenmitglied zuckte die hageren Schultern. »Solaris
Sieben - das ist die ›Spielwelt‹, richtig? Dafür gibt es diese
Welt. Nur dafür existiert sie
überhaupt.«
»Wie meinst du das, die ›Spielwelt‹?«
»Die Spiele«, betonte er. Er blieb
stehen, stemmte die Fäuste in die Hüften und starrte sie an. »Du
weißt es tatsächlich nicht? Wo, zum Ei, kommst du her? Und was machst du hier?«
Sam seufzte. »Vielleicht erzähle ich es dir eines Tages. Du
sagtest...?«
Ren schüttelte den Kopf - ob enttäuscht oder angewidert, konnte sie
nicht sagen. »Die Spiele«, erwiderte er. »Die BattleMech-Spiele.
Kämpfe. Einzelduelle, Mannschaftskämpfe, die ganze
verfreckenkreckte Palette. Auf dem ganzen verfreckten Planeten
gibt's Arenen, okay? Es gibt die verschiedensten Ligen, alle Arten
von Unterteilungen. MechKrieger kommen von überall her, um hier
anzutreten.«
Sam blinzelte. »Kämpfe?« wiederholte sie. »Wie... Kämpfe, ernsthaft? Du redest von
Gladiatorenkämpfen?«
Ren zuckte wieder die Achseln. »Gladiatoren sind was anderes. Ich
rede von Mechkämpfen.«
»Kämpfe bis zum Tod?«
»Okay, in manchen Arenen und Ligen - manchmal draußen in den
Blutgruben - benutzen sie Übungswaffen und Simulatoren und den
ganzen Freck.« Seine Miene zeigte Samantha überdeutlich, was er
davon hielt. »In den oberen Ligen, bei der echten Show, da benutzen
sie scharfe Waffen, da ist nichts gespielt.«
Mein Gott... Sam schüttelte ungläubig
den Kopf. Was für eine Welt ist das?
Bilder des Mechgefechts traten vor ihre Augen, das sie beobachtet
hatte - und in das sie verwickelt
worden war! Die Laser, die Raketen, die kaum faßbare Feuerkraft und
Vernichtung. »Und es gibt Leute, die so etwas zum Spaß machen?«
»Für Geld«, unterbrach der junge
Bursche sie scharf. »Ein echter Brenner - ein wirklich heißer
MechKrieger - verdient ein verfrecktes Vermögen... Wenn er lange genug lebt.«
»Und die Leute bezahlen dafür, zusehen zu können, wie andere sich
gegenseitig umbringen?«
»Sie zahlen und wetten.« Ren deutete
auf ein zerrissenes Plakat an der Wand eines nahen Hauses. »Was
hast du denn gedacht, was all das
heißen soll?«
Sam drehte sich um und betrachtete das Plakat, auf das er zeigte.
Sie machte sich klar, daß sie in den letzten zwanzig Minuten
Dutzende dieser Art gesehen hatte. Sie hatte sie nur nicht weiter
beachtet.
Dieses ähnelte der Ankündigung eines Preisboxkampfes in der Welt,
die sie kannte, einem Plakat für ein Boxchampionat. Aber statt der
Porträts zweier Boxer prangten auf diesem Plakat zwei riesige,
grell bemalte BattleMechs. PAUL
JERRIS CONTRA CASSIE HO stand da
zu lesen, und darunter, in etwas kleine
»Die Fabrik, das ist die große Arena im Montenegro-Viertel von Solaris City«, erklärte Ren beinahe geduldig. »Jerris und Ho sind zwei aufstrebende Jokkeys, die gerade anfangen, sich einen Namen zu machen. Jerris steuert einen Dunkelfalken - das ist ein Mechtyp, klar? -, und Ho reitet einen Steppenwolf. Dürfte ein ziemlich ausgewogenes Match werden, wenn man ihre bisherige Laufbahn betrachtet. Bei dem Kampf wird eine Menge Geld den Besitzer wechseln, darauf kannst du dein Leben verwetten.«
Dein Leben verwetten... interessanter Ausdruck. Genau das tun Jerris und Ho bei diesem Kampf, nicht wahr? Ihr Leben verwetten...
Brot und Spiele.
»Es wird alles im TV übertragen, richtig?« fragte Sam langsam, laut
nachdenkend.
»Im Trivid, exakt«, bestätigte Ren, der sie nicht genau verstanden
zu haben schien. »Das schaut sich jeder an, der nicht live in der
Arena dabeisein kann.«
»Und ein ›Stall‹ ist...?«
»Na, was glaubst du wohl?« Ren schnaubte wieder. »Mechs kosten Geld
- große Noten. Im Einkauf, im Betrieb,
im Unterhalt. Und man braucht Techs, um sein Gefährt in Schuß zu
halten, nicht wahr? Darum geht es bei
den Ställen.«
Wieder nickte Sam zögernd. Das Ganze ergab auf verrückte Art und
Weise einen Sinn. »Du arbeitest also für einen dieser
Ställe?«
»Für den Saberstall, ja.« Er zuckte etwas unbehaglich die
Schultern. »Es ist kein großer Stall, noch nicht. Die Saber kämpfen
noch in den Blutgruben - den kleinen Arenen, den regionalen, die
nicht Teil der Show sind.
Noch nicht. Aber sie werden es schaffen... bald. Weißt du, die Saber, die sind ein
Doppelstall«, erklärte er ernst. »Sie haben Mechs, und sie haben
auch gute Piloten, sicher. Aber sie haben auch
Gladiatoren.«
»Damit meinst du echte Gladiatoren, nicht wahr?« Sam unterdrückte
ein Schaudern. »Arenaduelle. Einzelkampf bis zum Tod vor
Publikum.«
Rens kalter Blick senkte sich in ihre Augen, und er schien bis tief
in ihre Seele zu blicken. »Ja, genau das meine ich«, stellte er
langsam fest. »Nicht immer bis zum Tod, aber... manchmal, ja.« Er
blinzelte. »Du hast es nicht gewußt, oder? Du hast nie vorher etwas
darüber gehört?«
Sie schüttelte den Kopf. »So etwas gibt es nicht, wo ich
herkomme.«
»Und das ist wo...?«
»Weit entfernt«, antwortete Sam trostlos. Weiter, als du ahnst.
Über die Zukunft kannst du dir später Sorgen machen, Dooley,
riß sie sich zusammen. Jetzt mußt du erst
einmal an das Hier und Jetzt denken... daran, wie du den heutigen
Tag überlebst.
»Du arbeitest also für die Saber«, stellte sie mit ruhiger Stimme
fest. »Bist du ein Gladiator oder« - sie zögerte einen Augenblick
und versuchte sich daran zu erinnern, wie Ren es ausgedrückt hatte
- »oder ein Mech-Krieger?«
Der Junge lachte laut. Es war ein hartes Lachen, seltsam alt für
jemand, der noch keine sechzehn war. »Du Ballast, ich feg den
verfreckten Boden!«
Sie konnte nicht anders. Sie stimmte in sein Gelächter ein. »Na,
Renard«, sagte sie. »Glaubst du, sie haben Platz für noch einen
Feger?«