19
Die kleine Kreatur war wieder zurück. Samantha saß elendiglich in ihrer schmalen Felsnische und beobachtete sie aus stumpfen Augen.
Sie war etwas über einen Fuß lang - den Schwanz eingeschlossen, etwa 46 Zentimeter - und wirkte wie eine Art Eidechse... Bis auf die Tatsache, daß sie einen dichten Pelz aus drahtigem braunem Haar hatte. Sie war vor etwa einer halben Stunde plötzlich aufgetaucht und hatte Sam mit ihren kleinen roten Augen von der anderen Seite des engen Felsspalts aus beobachtet. Nach ein paar Sekunden schien sie wieder zwischen den Felsen verschwunden.
Jetzt war sie zurück und näher als zuvor, höchstens noch drei Meter von ihren Schuhen entfernt. Sie schien vor Anspannung oder Furcht zu zittern. Zum erstenmal bemerkte Sam einen scharfen, bitteren Geruch, wie eine Mischung aus Moschus und Ammoniak, der von dem kleinen Tier ausging. Auf all ihren Reisen hatte sie nichts gesehen, was dieser pelzigen Eidechse ähnelte, und auch in keinem der Naturkundebücher, die sie gelesen hatte, war eine ähnliche Kreatur beschrieben.
Natürlich nicht, Dooley, dachte sie mit trockenem Humor. All diese Bücher behandeln die Tierarten der Erde - Sol III -, nicht die von Solaris Sieben. Die Drahthaareidechse war nur eine weitere Erinnerung daran - als ob sie die nötig gehabt hätte -, daß sie sich fern der Heimat befand. Ein völlig anderer Planet, möglicherweise Jahrhunderte in der Zukunft oder in einem ganz anderen Universum. Sie schüttelte den Kopf. Diese Gedanken waren zuviel für sie, gingen über ihr Verständnis hinaus.
Die Pelzeidechse kam näher, schlich zögernd auf ihren rechten Fuß zu. Was willst du? Sie richtete den Gedanken wie eine Funkbotschaft auf das kleine Tier. Sitz ich in deinem Bau, ist es das?
Sie lachte. Ein kurzes, bitteres Bellen, mehr nicht. Weggegangen, Platz vergangen. Ich bin hier, du bist es nicht, und damit hat es sich. Pech gehabt, Brother. Sie hob einen Kiesel auf und warf ihn nach der Kreatur. Die huschte ein paar Schritte zurück, drehte sich um und zischte giftig. Ich weiß genau, was du meinst, dachte sie ärgerlich und warf einen zweiten Stein. Die Eidechse sprintete hinter ein paar kopfgroße Steine auf der anderen Seite des Arroyo in Deckung und außer Sicht.
Reflexartig sah sie auf die Uhr. Kurz vor halb sechs. Sie schüttelte den Kopf. Das war natürlich ohne jede Bedeutung. Die Uhr zeigte ihr nur, wie spät es gerade in Kalifornien war. Es hätte eines außergewöhnlichen Zufalls bedurft, sollte das irgendeine Beziehung zur Ortszeit hier haben. Ich weiß nicht einmal, wie lang ein Tag auf Solaris Sieben ist, Himmelherrgott, machte sie sich klar. Bestimmt zum dutzendsten Male rutschte sie über den rauhen Boden und verrenkte den Hals, um unter dem Vordach heraus zu den Wolken hochzusehen. Immer noch eine solide, lückenlose Decke, immer noch grau wie Blei. Sie wußte, daß die Sonne am Himmel stand - es war etwa so hell wie eine Dämmerung in Venice Beach -, aber es schien unmöglich festzustellen, wo über den Wolken die Sonne stand. Es könnte Mittag sein oder zwei Minuten vor Sonnenuntergang. Ich könnte den Unterschied nicht feststellen, stellte sie düster fest.
Wenigstens hatte der Regen aufgehört. Zwei Minuten nachdem sie einen Unterschlupf gefunden hatte, war es zu einem wahren Wolkenbruch gekommen. Fast eine Stunde hatte der Regen gedauert, ein gnadenloses Bombardement riesiger kalter Tropfen. Schwermütig hatte sie zugesehen, wie sich der Boden der Schlucht in Schlamm verwandelte. Einmal hatte ein Angstausbruch ihre Gefühlsleere durchbrochen - was, wenn es zu einer Springflut kommt? Wenn das hier wirklich ein ausgetrocknetes Flußbett ist... Aber sie hatte den Gedanken verdrängt. Nach dem, was ich heute schon überlebt habe, ist eine Springflut nicht einmal den Gedanken wert.
Etwas Gutes hatte der Regen zumindest gebracht. Sie hatte ihr linkes Bein unter dem Überhang vorgestreckt und das kalte Wasser ihr Hosenbein durchnässen lassen. Die Kälte hatte die Schmerzen im verletzten Knie gelindert - nicht ganz so wirksam wie ein Eisbeutel, aber viel besser als nichts -, und auch die Schwellung schien zurückzugehen. Als sie später bemerkt hatte, wie trocken ihre Kehle war, hatte sie reichlich zu trinken gefunden, indem sie einfach nur die Hände zusammengelegt und in den Regen gehalten hatte.
Irgendwann hatte der Regen dann nachgelassen und schließlich völlig aufgehört. Die Wolkendecke war nicht aufgerissen - es drangen keine wärmenden Sonnenstrahlen hindurch -, aber der Schlamm war erstaunlich schnell getrocknet. Fast, als ob der Boden das Wasser aufsaugen würde. Eine halbe Stunde nach Ende des Wolkenbruchs waren die Pfützen auf dem Schluchtboden verschwunden, und das einzige Indiz dafür, daß es überhaupt geregnet hatte, war eine gewisse Weichheit des Erdbodens.
Mit dem Ende des Regens frischte der Wind wieder auf - der scharfe, beißende Wind. Im Gegensatz zum Boden trockneten Sams Kleider nur langsam, und innerhalb weniger Minuten zitterte sie vor Kälte.
Sie blickte wieder zum Himmel empor. War es nur Einbildung, oder wurden die bleigrauen Wolken dunkler? Geht die Sonne unter? fragte sie sich, und der Gedanke ließ sie stärker schaudern, als es der Wind vermochte. Eine Nacht im Freien überlebe ich nicht.
Sie sah sich nach irgend etwas um, das sie verwenden konnte, um Feuer zu machen. Nichts - kein Holz, kein Gras, keine Blätter. Jetzt, da sie darüber nachdachte, fiel ihr auf, daß die Pelzeidechse das einzige Leben - Tier oder Pflanze - war, das sie in dieser Gegend gesehen hatte. Sie seufzte. Was soll's? Selbst wenn mir jetzt irgendeine mitleidige Seele ein Stück trockenes Holz brächte, könnte ich es nicht anzünden. Sie besaß keine Streichhölzer. Sie hatte weder Stahl und Feuerstein noch irgendwelche anderen Werkzeuge, um ein Feuer zu machen. Und ihr Bic war fort. Wahrscheinlich aus der Tasche gefallen, als ich aus dem Mech gestürzt bin, dachte sie. Sie hatte ein Päckchen Lucky Strike gefunden, aber es war zerdrückt und durchnäßt.
Soviel zu High-Tech-Methoden, ein Feuer zu entfachen. Was mache ich jetzt: zwei trockene Klischees aneinanderreihen?
Verdammt, es lief wieder alles auf eine dieser
Entscheidungen hinaus. Wenn sie ihr
Leben retten wollte, mußte sie eine weitere Verbindung - ihre
absolut letzte diesmal - zu ihrem Zuhause, zu Generro, zur Erde
aufgeben. Vor kaum mehr als einer Stunde war sie gezwungen gewesen,
sich aus ihrem abgeschossenen Mech zu retten und den Peilsender
aufzugeben
- falls er noch funktioniert hatte -, der es Macintyre und den
anderen irgendwann hätte ermöglichen können, sie nach Hause zu
translozieren. Jetzt mußte sie ihr Missionsgebiet verlassen, wenn
sie nicht erfrieren wollte - und damit die Chancen einer
Rettungsmission, sie jemals wiederzufinden, praktisch auf Null
schrauben - falls Macintyre überhaupt eine ansetzte. Sie lächelte
bitter. Diese harten Entscheidungen gehen mir
allmählich auf den Wecker.
Mit einem Seufzen zwang sie sich aufzustehen. Ihre Muskeln waren steif, und das linke Knie fühlte sich an, als habe jemand einen kleinen Ballon unter die Kniescheibe implantiert, der das Gelenk behinderte. Sie trat unter dem Überhang vor in die Mitte des Arroyo.
Wohin jetzt? Es mußte irgendeine Siedlung in der Nähe geben, oder? Die BattleMechs, die sie zur Strecke gebracht hatten, mußten schließlich irgendwoher kommen. Hatte Andrea Sam nicht in den Bergen außerhalb von Rolandsfeld abgesetzt? Rolandsfeld hörte sich nach einem Ortsnamen an.
Aber wo war dieser Ort? In welcher Richtung lag er? Und gab es überhaupt einen Weg dorthin - von hier aus?
Sie seufzte wieder. Wenigstens würde die Bewegung sie wärmen, wenn auch nicht sehr. In Gedanken schnippte sie eine Münze. Dann drehte sie sich nach rechts und begann mit dem Aufstieg.
Als sie über die Schulter zurückschaute, sah sie die Pelzeidechse hinter einem Felsen vorlugen. »Mit Dank zurück, Buster«, sagte sie trocken und humpelte weiter.
Es wurde dunkler, daran war kein Zweifel mehr möglich. Zu Sams Linker ging die Farbe der Wolkendecke von dunklem Grau in Mitternachtsschwarz über, während die Wolken in der Nähe des Horizonts auf der rechten Seite einen Hauch von Rosa annahmen. Da hinten gibt's wahrscheinlich einen spektakulären Sonnenuntergang, dachte sie. Wenn nur die Wolken aufreißen würden.
Sie seufzte. Es wurde alles immer nur noch schlimmer. Die Temperatur war bereits spürbar gesunken. Trotz der Anstrengung des Marschierens über das zerklüftete Gelände war sie durchgefroren.
Wenn es am frühen Abend schon so rapide abkühlt, wie wird es erst mitten in der Nacht sein? Echte Angst schnürte ihr die Gedärme ein. Wenn ich keinen Unterschlupf finde, bin ich tot.
Was für eine idiotische, miserable, scheußliche Art zu sterben - erfroren in irgendwelchen gottverlassenen Bergen.
Wenigstens machten die veränderten Lichtverhältnisse es einfacher, die Richtung zu halten. Als sie aus der engen, verschlungenen Schlucht geklettert war, hatte sie es beinahe unmöglich gefunden, sich zu orientieren. Sie hatte bald das Gefühl bekommen, daß die Felsspalte zurück in die Richtung führte, aus der sie gekommen war, also war sie herausgeklettert und eine Zeitlang querfeldein gezogen. Als sie Minuten später in eine neue Schlucht hinabgestiegen war - die unangenehm vertraut aussah -, hatte sie ernsthaft befürchtet, hinter der nächsten Biegung dieselbe flache Felsnische zu finden, dieselbe pelzige Eidechse. Es war nicht dazu gekommen - dem Himmel sei Dank... -, aber trotzdem hatte sie die Möglichkeit, sich am Sonnenuntergang zu orientieren, mit Erleichterung aufgenommen.
Dunkelheit links, Sonnenuntergang rechts: sie
bewegte sich also nach Süden. Sie versuchte, sich an die
Gegebenheiten zu erinnern, die sie aus dem Cockpit ihres
BattleMechs gesehen hatte. Hätte ich mich nur
mehr auf den Kompaß konzentriert, fluchte sie. Sie
glaubte, daß die anderen Mechs - die
Bogies
- aus den Bergen südlich ihrer Position gekommen waren. Das ließ es
wahrscheinlich erscheinen, daß Rolandsfeld im Süden lag, oder? Sie
schnitt eine Grimasse. Ich kann mich einfach
nicht mehr an die Kompaßeinstellung erinnern. Ich könnte 90 Grad
abseits des richtigen Kurses liegen... oder noch mehr.
Der Weg wurde steiler und schwieriger. Nicht nur, daß die Steigung zunahm, jetzt, da sie wußte, wohin sie wollte, verliefen alle Felsspalten auf ihrem Weg quer zu ihrer Marschrichtung. Ein Teil von ihnen war so schmal, daß sie ohne echte Probleme hinüberspringen konnte. Trotzdem ging sie so vorsichtig vor wie möglich. Ihre leichten Wanderstiefel stützten die Knöchel nicht so fest, wie es ihr lieb gewesen wäre, und sie wagte es nicht, das verletzte Knie zu stark zu beanspruchen. Hinzu kam, daß viele Schluchten so breit waren, daß ihr ohnehin nichts anderes übrigblieb, als hinab- und auf der gegenüberliegenden Seite wieder hinaufzuklettern. Und manche waren so steil, daß sie gezwungen war, von ihrem Kurs abzuweichen und sie völlig zu umgehen.
Sie sah über die Schulter und versuchte einzuschätzen, wie weit sie gekommen war. Wahrscheinlich nicht mehr als zwei Meilen Luftlinie, dachte sie mürrisch. Oder ›BattleMechlinie‹. Aber wahrscheinlich fast das Doppelte, wenn man die Auf- und Abbewegungen mitrechnet. Ihre Knöchel schmerzten vom Marschieren über rutschende Steine, und die Wadenmuskeln brannten. Das linke Knie war fast völlig taub. Nur noch die schlimmsten Schläge sandten lodernde Schmerzen durch das Gelenk. Das ist gar nicht gut, erkannte sie. Auch wenn das Fehlen der Schmerzen aus anderer Sicht ein Segen war.
Es wäre leicht gewesen, sich in den Windschatten eines der Felsen zu setzen und auszuruhen. Sie wußte, am Anfang würde die Kälte beißend sein, aber dieses Gefühl würde schnell genug verschwinden, und sie dürfte sich wohlig warm fühlen. Und dann würde sie einschlafen...
Nein!
Gott im Himmel, soweit würde sie es nicht kommen lassen. Sie hatte noch nie aufgeben
können. Sie haßte es zu verlieren und war einfach nicht
fähig zu kapitulieren. Wenn ich heute nacht sterben soll, muß der Sensenmann mich
mit zwei von drei Würfen besiegen und in einem verdammten
Sack wegschleppen... Sie richtete sich
auf, nahm die Schultern zurück und zwang sich weiterzugehen.
Im Westen war fast kein Licht mehr zu sehen. Die Nacht schien mit Macht hereingebrochen zu sein. Der Himmel über Samantha war tiefschwarz. Es war kein Stern zu sehen. Einmal, vor vielleicht zehn Minuten, hatte sie aus dem Augenwinkel eine leuchtend goldene Lichtspur im Westen gesehen, die vom südwestlichen Horizont in die Höhe stieg. Sie war ebenso schnell wieder verschwunden, wie sie aufgetaucht war, und Sam hatte sie nicht näher fixieren... oder sich auch nur sicher sein können, daß sie tatsächlich existiert hatte. Was, zum Teufel, war das überhaupt?
fragte sie sich müde. Sie glaubte, eine Aufwärtsbewegung erkannt zu haben, also konnte es kein in den Himmel gefeuerter Mechlaser gewesen sein. Vielleicht ein Raketenabschuß? Oder vielleicht war es eine Art Raketenschiff gewesen - wenn es auf Solaris Sieben BattleMechs gibt, muß es dann nicht auch Raketenschiffe geben? -, das von einem Raumhafen startete. Wenn dem so war, dann ging sie in die falsche Richtung, oder? Sicher war ein Raumhafen ganz ähnlich gelegen wie ein Flughafen, relativ nahe an einer großen Stadt...
Sie schüttelte den Kopf und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Ich bleibe auf dem Kurs, den ich eingeschlagen habe, entschied sie. Etwas anderes kann ich im Augenblick nicht tun.
Sie war erschöpft - völlig ausgelaugt. Ihr
Körper fühlte sich an wie ... Ehrlich gesagt schien es gar nicht
mehr ihr Körper zu sein. Ab und zu
hatte sie den Eindruck, ihrem Körper dabei zuzusehen, wie er sich abmühte. Sie wußte, daß der
Körper, den sie beobachtete, Schmerzen hatte, kurz vor dem Kollaps
stand, und sie spürte Mitleid mit ihm. Aber die Schmerzen selbst
fühlte sie nicht, nicht wirklich. Es geht zu
Ende, stellte sie benommen fest. Lange
mache ich es nicht mehr. Auch ihr Verstand war am Ende. Ihre
Gedanken wirbelten richtungslos durcheinander, schlossen und
brachen sinnlose Folgerungen
- wie in dem Dämmerzustand unmittelbar vor dem
Einschlafen. Sie zwang sich, durch die tiefe Dunkelheit
weiterzutrotten, und wußte, sie würde über irgendein Hindernis
stolpern und stürzen - wenn nicht in der nächsten Minute, dann in
der übernächsten oder in der darauf. Und ob sie sich danach wieder
würde aufrichten können, glich einem Glücksspiel.
Irgendwann bemerkte sie, daß die Neigung des Bodens abgenommen hatte, fast, als nähere sie sich der Kuppe des Berges. Sie kam leichter voran, aber noch nicht leicht genug. Der Boden war hart und uneben, aber wenigstens nicht mehr mit baseballgroßen Steinbrocken übersät, die über Meilen gedroht hatten, ihr die Knöchel zu brechen. Ein derartiges Gelände hätte sie im Dunkeln niemals bewältigt...
Nur, daß es eigentlich gar nicht mehr dunkel war. Zum erstenmal seit einiger Zeit konnte sie wieder die Einzelheiten des Bodens vor sich erkennen - nicht nur verschwommene Schatten schwarz auf schwarz, sondern richtige Umrisse und Gegenstände. Es dauerte ein paar Sekunden, bis ihr verwirrter Verstand diese Tatsache verdaut hatte. Sie blieb stehen und sah sich mit brennenden Augen um. Sie hatte sich so daran gewöhnt, auf den Boden unmittelbar vor ihren Füßen zu starren, daß ihre Augen eine Weile brauchten, um sich auf größere Entfernungen einzustellen.
Sie war auf einer Bergkuppe, stellte sie fest - genauer gesagt, auf dem Scheitelpunkt einer ganzen Hügelkette. Die Wildnis lag hinter ihr. Vor ihr fiel das Land sanft in ein weites Talbecken ab.
Und in der Ferne erstreckte sich ein Lichtermeer bis zum Horizont. Ein paar verwirrte Augenblicke glaubte sie fast, in den Hügeln von Griffith Park zu stehen und auf Los Angeles hinabzuschauen.
Samantha lehnte sich an einen großen Felsen und starrte nur ins Tal. Ich habe es fast geschafft, dachte sie benommen. Ich bin fast da.
Nun ja, so ganz stimmte das nicht. Die Stadt war kleiner als Los Angeles, und sie schien auch dichter besiedelt zu sein - jedenfalls nach den Lichtern zu schließen. Das Talbecken selbst war riesig (falls es denn tatsächlich eines war und ihre Augen ihr keinen Streich spielten), und das eigentliche Stadtgebiet bedeckte seine entfernteren, südlichen Ausläufer. Ihre beste Schätzung plazierte den Stadtrand in fünf bis sechs Meilen Entfernung von ihrer jetzigen Position.
Sie sackte zusammen, als diese Tatsache zu ihr durchdrang. Fünf oder sechs Meilen, wiederholte sie in Gedanken. Ich habe nicht den Schimmer einer Chance, es so weit zu schaffen. Verdammt, so nah an der Rettung noch zu erfrieren... Sie wandte sich von dem Lichtermeer ab, das spöttisch in der kalten Nachtluft zu funkeln schien.
Und sah, daß ein Tentakel aus Lichtern sich aus dem Stadtgebiet zu den Hügeln links von ihr erstreckte. Die Lichter in diesem Ausläufer waren nicht annähernd so konzentriert wie im Stadtkern. Es gab große Bereiche der Dunkelheit, schwarze Inseln, in denen überhaupt kein Licht brannte. In anderen Gegenden schienen einzelne Lichter zu flackern - nicht zu funkeln wie Sterne, als Folge von Luftströmungen, sondern tatsächlich zu flackern, als ob die Lichtquellen selbst nicht konstant brannten. Und an wieder anderen Stellen waren die wenigen Lichter von deutlich anderer Farbe: vom warmen Rotgelb offener Feuer statt vom harten, künstlichen Gelb von Natriumdampflampen oder vom grellen Weißblau von Kohlenstoffbogenlampen.
Sams Herz hüpfte ihr in der Brust. Eine plötzliche Flamme der Hoffnung zerschmolz das schmutzige Eis der Verzweiflung in ihren Eingeweiden. Sie zwang sich, auf das nächstgelegene der Lichter zuzugehen, zu traben, zu stolpern.
Sie erreichte die Kuppe einer Bodenwelle und blickte hinab in das enge Tal unter ihr. Feuer flackerten in der Dunkelheit - kleine kreisrunde Feuer. Wie glühende Kohlen auf einem Feld aus schwarzem Samt, dachte sie, oder die Lagerfeuer eines Belagerungsheers in einem Ritterfilm ... Sie schüttelte den Kopf und zwang den Mischmasch unzusammenhängender Gedanken nieder, der sie zu überwältigen drohte. Die Schmerzen in ihrem Knie waren zurückgekehrt, und sie stöhnte laut, als sie sich an den Abstieg machte.
Beinahe hätte sie es nicht geschafft. Die Erschöpfung ließ ihr Blut in den Ohren rauschen wie eine ferne Brandung. Ihr Gesichtsfeld schrumpfte immer weiter zusammen, bis sie nur noch einen Ausschnitt des Geländes von der Größe ihrer ausgestreckten Faust im Zentrum eines blutroten Mahlstroms erkennen konnte.
Nach dem fünften Sturz zählte sie nicht mehr, wie oft sie stolperte, auf losen Steinen ausrutschte, vornüberkippte und den steilen Hang hinabrollte, bis ein Felsblock sie aufhielt. Die Leere und die Ohnmacht folgten ihr wie eine gewaltige schwarze Flutwelle, die beständig über ihr zusammenzuschlagen und sie mitzureißen drohte.
Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie brauchte - Minuten, Stunden, Jahre -, aber irgendwann erreichte sie ebene Erde. Sie blieb stehen, beugte sich vor, die Hände auf den Oberschenkeln, und sog keuchend den lebensnotwendigen Sauerstoff ein. Langsam - o so langsam - ließen die Schmerzen in ihrem Brustkorb nach, das Donnern des Blutes in ihren Ohren wurde leiser, und der rote, wirbelnde Tunnel, durch den sie die Welt sah, weitete sich und verblaßte. Sie stellte fest, daß sie zwischen den Feuern stand. Es schienen Feuerbecken zu sein oder - wahrscheinlicher noch - brennende Mülltonnen oder alte Ölfässer. Das nächste war dreißig Fuß entfernt. Selbst aus dieser Entfernung konnte sie die Hitze auf ihrem Körper spüren wie ein Versprechen, das Versprechen von Leben. Sie stolperte darauf zu.
Eine schwarze Gestalt ragte vor ihr auf, schien sich aus der Dunkelheit zu materialisieren. Ihr benommenes Gehirn brauchte einen Augenblick, um zu erkennen, was sie sah: einen gebeugten, unterernährt aussehenden Mann in einem zerschlissenen Kunstfellmantel über zerlumpten Kleidern. »Weg!« knurrte die Vogelscheuche sie an. »Weg, oder ich schlitz dich, Bint.« Oder so ähnlich. Sam verstand nicht, was er sagte, denn er sprach kein Englisch. Aber in der Hand der Vogelscheuche blitzte etwas - ein Messer, dessen Klinge im Feuerschein hell funkelte. Es zuckte in ihre Richtung.
Sam spannte sich. Ihre Ju-Jutsu-trainierten Reflexe erwachten, suchten den besten Angriffswinkel, die beste Möglichkeit, den Angreifer zu entwaffnen und auszuschalten. Sie bewegte sich, sprang in den Bogen des Angriffs...
Aber ihr Körper - erschöpft, ganz kraftlos - ließ sie im Stich. Ihr linkes Knie versagte, und sie fiel schmerzverkrümmt zu Boden.
Die Vogelscheuche stoppte den Angriff. In dem schmutzigen Gesicht glühten die Augen eines Aasfressers. Der Mann zeigte schwarze Zähne in einer Grimasse, die beinahe ein Lächeln sein mochte. »Jetz bisse nicht mehr so stark, was, Bint?« krächzte die Gestalt. »Überhaupt nich so stark. Mach, daß du von mei'm Platz wegkommst, oder ich schlitz dich richtig, hä?« Nachdem sie ein letztes Mal warnend mit der schmalen Messerklinge wedelte, schien die Gestalt in sich zusammenzusinken, als der Mann in die Hocke ging und seinen zerlumpten Mantel um den Leib wickelte.
Sam schloß die Augen. Ihr Herz flatterte fast unter den Nachwirkungen des Adrenalins, das die Furcht in ihren Kreislauf gepumpt hatte. Ihr Magen verkrampfte sich. Ihr war übel. Ich bin hilflos, erkannte sie mit Entsetzen. Ich bin vollkommen hilflos. Zum erstenmal, solange sie zurückdenken konnte, war sie gezwungen, sich einzugestehen, daß sie ganz und gar auf die Gnade ihrer Umgebung angewiesen war. Sie konnte weder fliehen noch kämpfen - nicht in ihrem Zustand. Teufel, sie konnte nicht einmal um Hilfe schreien. Nicht, daß ein Hilferuf mir viel bringen würde, nach diesem Empfang zu schließen, dachte sie grimmig.
Etwas berührte sie an der Schulter. Sie jaulte ängstlich und zuckte auf. Wieder gab ihr linkes Knie nach, und sie stürzte auf den felsigen Boden zurück. Sie sah hoch.
Die schwere Wolkendecke reflektierte das Licht der Stadt und schien in einem eigenen schwachen Glanz zu leuchten. Vor diesem opalisierenden Schimmer zeichnete sich eine große Gestalt ab, die sich zu ihr herabbeugte. Instinktiv rutschte sie nach hinten, als die Gestalt sich nach ihr streckte.
Dann fing sie ihre Reaktion ab, als sie erkannte, daß die Gestalt sie nicht bedrohte, sondern die Hand anbot, um ihr aufzuhelfen. »Is okay«, sagte die Gestalt mit rauher Stimme. »Is okay, ich tu dir nix. Hm?«
Die über ihr aufragende Silhouette schien kleiner zu werden, schrumpfte auf ihre wahren Dimensionen. Mit einiger Enttäuschung erkannte sie, daß ihre Angst die Gestalt zu einem gefährlich drohenden Schatten aufgebauscht hatte. In Wirklichkeit war ihr Gegenüber klein, gute acht Zoll kleiner als sie, und hager - dünner noch als die Vogelscheuche, die sie mit dem Messer bedroht hatte. Als ihre Augen sich an den Wolkenschein gewöhnt hatten, sah sie ein hohles Gesicht mit Adlernase. Dünne Büschel schmutzigweißen Haars formten einen chaotischen Kranz um den Kopf, auf dem es saß. Ein Mann, stellte sie fest, ein alter Mann.
»Is okay«, sagte er wieder. »Komm.«Mit einem verlegenen Lächeln nahm Sam die ausgestreckte Hand. Er stolperte, als sie zog, und fiel fast auf sie. Aber sein Griff war fest, und sie stützte sich an seinem Arm ab, während sie auf die Füße kam.
»So. Besser, hm?« Er lächelte zu ihr hoch. Die meisten seiner Zähne fehlten, und die wenigen, die ihm geblieben waren, wirkten ernsthaft angefault. Er lachte, und eine übelkeiterregende Geruchswolke - ein komplexer, süßsaurer Biogasgestank aus Alkohol, Aceton und Fäulnis - bedrängte sie. Er zuckte die knochigen Schultern und deutete auf die Vogelscheuche, die das Messer gegen sie gezückt hatte. »Laß den alten Dog, hm? Er ist übel drauf, weißte?« Er klopfte ihr väterlich auf den Arm. »Du kanns mit auf meinem Platz sitzen, wenne willst. Hm?« Mit einem vogelartigen Zucken des Kopfes deutete er auf ein kleineres Feuer rechts von Sam.
Sie zögerte. Ich brauche die Wärme. Ohne sie sterbe ich, aber... »Wer sind Sie?« fragte sie, mehr, um sich Zeit zum Nachdenken zu verschaffen, als weil sie Wert auf eine Antwort legte.
»Du kanns mich Raven nennen, wenne willst.« Er
lachte wieder, ein blubberndes, schleimiges Geräusch. »So nenn mich
alle, die, wo überhaup mit mich reden.«
»Raven«, wiederholte sie.
Der alte Mann nickte. »Des bin ich«, bestätigte er
Sam starrte in seine Augen. Sie waren weit aufgerissen, standen beinahe vor - so ernsthaft blutunterlaufen, daß sie den Eindruck erweckten, jeden Augenblick zu bluten anzufangen. Die Pupillen waren so riesig, daß um sie herum nur eine fadendünne Spur der Iris zu erkennen war. Er ist sinnlos besoffen, erkannte sie. Oder er steht unter Drogen. Und er ist völlig plemplem. Aber der Wahnsinn, den sie in seinen Augen sah, schien von sanfter Natur: eher Senilität als Feindseligkeit. Er ist harmlos, entschied sie. Oder zumindest harmloser als irgendwer sonst, den ich hier finden dürfte.
Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Danke, Raven«, sagte sie. »Ich glaube, ich nehme dein Angebot an.«
Raven nickte, und sein Grinsen wurde breiter, als habe sie ihm gerade das größte aller Komplimente gemacht. (Möglicherweise habe ich das sogar, überlegte sie.) Er humpelte zu seinem Feuer. Jetzt sah sie, daß sich noch andere Gestalten um die Wärme und das Licht drängten. Ravens Familie? fragte sie sich. Seine Bande? Oder sein Stamm? Sam zuckte die Schultern. Sie war zu müde zum Nachdenken, zu müde, um sich Sorgen zu machen... und viel zu müde, um auch nur noch eine Sekunde auf den Beinen zu bleiben. Sie sackte auf den harten Boden und zog die Knie an die Brust. Nach der Kälte der Berge fühlte sich die von den Flammen ausgehende Wärme fast schmerzhaft an. Sie schloß die Augen. Eingelullt vom Knistern des Feuers und dem Murmeln leiser Gespräche, fiel sie kopfüber ins dunkle Meer des Schlafs.
Als sie einen unbestimmbaren Zeitraum später wieder erwachte, stellte sie fest, daß jemand einen abgenagten Pelzteppich wie eine Decke über sie gelegt hatte. (Sie schnupperte und verzog das Gesicht. Dem Geruch nach zu urteilen, hatte sie überhaupt kein Verlangen, sich jemals in Windrichtung des Tiers wiederzufinden, das diesen Pelz ›gestiftet‹ hatte... Aber Bettler können es sich nicht leisten, wählerisch zu sein, erinnerte sie sich, und hierzulande gilt das ganz gewiß auch für mich.)
Sie setzte sich auf und kniff im Licht die Augen zusammen. Die Wolkendecke über ihr war immer noch geschlossen: Nirgends eine Spur von blauem Himmel. Aber sie schien viel höher, und die Wolken wirkten dünner. Mehr Licht drang bis zum Boden vor, und es war fast so hell wie an einem wolkigen Tag in Los Angeles.
Irgend jemand hatte das Feuer in Ravens Tonne mit Asche zugedeckt. Aus Luftlöchern in der Seite stiegen dünne Rauchfäden auf. Ein ausgefranstes Stück Metall lag über der Öltonne, und ein zerbeulter Topf auf der Metallplatte dampfte vor sich hin. Eine Frau - ich halte es zumindest für eine Frau, fügte sie hinzu - hockte daneben und starrte mit leerem Blick auf den Topf. Während Sam ihr zusah, streckte sie den Arm aus und rührte den Inhalt mit einem ›Löffel‹, der sein Dasein als Winkeleisen zu führen schien.
Plötzlich neugierig - und mehr als nur ein wenig nervös -, blickte Samantha sich um. Sie stellte fest, daß sie den Weg auf eine Müllhalde gefunden hatte. Und nicht auf irgendeine Müllhalde, dachte sie augenblicklich, sondern eher auf eine Art Technologiefriedhof - einen Ort, an den sich alte Maschinen zurückziehen, um zu sterben. Sie befand sich am Rand eines Gebiets von der Größe eines Footballfelds. Im Süden und Osten ragte in vielleicht achtzig Metern Entfernung eine dreißig, vierzig Fuß hohe Wand aus übereinandergestapelten alten, verrosteten Autos auf - zumindest schienen es in ihren Augen Autos zu sein. Der Boden unter ihr - den sie im Dunkeln für Kies und Schotter gehalten hatte – schien in Wirklichkeit hauptsächlich aus Rost zu bestehen: aus oxidierten Metallsplittern, zum größten Teil so winzig wie Metallspäne. Zwischen heuhaufenhohen Bergen zerschmetterten, vor sich hin rostenden Metalls waren über das ganze Gebiet Feuertonnen verteilt, um die sich zerlumpte Gestalten drängten. Neugierig untersuchte Sam den nächsten Schrotthaufen. Sie konnte einen Teil seiner Bestandteile erkennen - das da sah nach einem kaputten Kühlschrank aus, und dies hier mußte einmal eine Art hydraulische Bohrmaschine gewesen sein -, aber der größte Teil des Mülls war zu zerdrückt und verrostet, um noch erkennbar zu sein.
Hinter der Mauer aus Schrottautos konnte sie ein Stück Land mit niedrigen Häusern sehen: zwei bis drei Stockwerke hoch, mit gelegentlichen größeren Bauten hier und da. Sie alle schienen schon bessere Tage gesehen zu haben - nein, korrigierte sie sich trocken, wir wollen ehrlich sein: Sie sehen abbruchreif aus. In den Straßen zwischen ihnen bewegten sich Leute, aber sie war zu weit entfernt, um Einzelheiten zu erkennen. Toll, dachte sie düster, einfach toll, Dooley. Du bist noch keine vierundzwanzig Stunden auf dieser Welt, und schon hast du die Slums gefunden. Was für ein Orientierungssinn. Sie schnaufte verächtlich.
Mehrere Mitglieder von Ravens ›Stamm‹ beobachteten sie, bemerkte Sam plötzlich. Zwei schienen enge Verwandte: Sie hatten dieselbe hagere, verdrehte Figur wie ihr Wohltäter, und ihre Kleidung hätte vom Müllhaufen desselben Schneiders stammen können. Ihre Gesichter waren eingefallen und von der Härte ihres Lebens gezeichnet, verwüstet von zu vielen Jahren der Sorge und zu wenigen Augenblicken der Ruhe. Eingesunkene Augen beobachteten sie stetig und ohne Gefühl. Mit plötzlichem Unbehagen blickte Sam zur Seite.
Die dritte Person, die sie beobachtete, unterschied sich von den anderen wie die Nacht vom Tag. Es war ein junger, schlanker Mann mit harten Zügen, der fünf Meter von Sam entfernt saß. Auch er betrachtete sie, aber seine dunklen Augen schienen lebendig, nachdenklich, und vielleicht auf eine grimmige Art und Weise humorvoll. Seine Haut war bleich, sein Haar nachtschwarz. Er trug enganliegende Hosen aus einem Stoff, der weich wie Handschuhleder schien, aber ein auffallendes Schlangenhautmuster besaß. Die Hosenbeine steckten in mittelhohen steifen Lederstiefeln mit Zehenkappen und Ketten aus silbrigem Metall. Am Oberkörper trug er nur eine ärmellose Weste aus demselben Material wie die Hose. Seine Schultern waren breit und stark, aber die langen Arme schienen nicht muskulöser als ihre. Sein ungeniertes Starren beunruhigte sie, und sie drehte sich weg.
Raven schlief noch, sah sie, in einen alten Stoffmantel gehüllt. Er hatte die Knie an die Brust gezogen und lag zusammengerollt in der Nähe des Feuers. Sam wälzte sich vorsichtig auf die Beine und stöhnte unwillkürlich, als ein stechender Schmerz durch ihr Knie fuhr. Sie reckte sich und versuchte, ihre steifen Muskeln zu lockern, während sie zu dem alten Mann hinüberhumpelte und die Hand auf seine Schulter legte. Er reagierte nicht. Sie schüttelte ihn sanft.
»Laß ihn.«Der harte Klang der Stimme hinter ihr ließ Sam zusammenzucken. Sie drehte sich - Verzeihung heischend - um.
Die Miene des jungen Manns war hart wie Stein.
Er wirkte wütend. Warum? »Ich wollte
mich nur bedanken«, verteidigte sie sich. »Er hat mir gestern nacht
das Leben gerettet.«
»Dafür ist es zu spät.« Der Mann zuckte die Schultern.
»Zu spät?« Sam fühlte Wut in sich aufsteigen, unterdrückte das Gefühl jedoch. Jetzt ist nicht der Zeitpunkt, um sich mit den Einheimischen anzulegen, Dooley, ermahnte sie sich. »Warum zu spät?« fragte sie mit ruhiger, vernünftiger Stimme. »Ich will ihm nur dafür danken ...«
»Freck!« spie der Mann. Er starrte sie mit unverhohlener Wut an. »Er ist tot, Ballast, okay? Raven ist während der freckenkrekigen Nacht gestorben. Okay?«
Samantha blinzelte. »Tot? Aber...« Sie sah auf die zusammengerollte Gestalt hinab und erkannte augenblicklich, instinktiv, daß der junge Mann recht hatte. Der alte Mann, der sich ihr als Raven vorgestellt hatte, war tot. »Aber was...« Ihre Stimme erstarb.
»Ist doch egal, oder?« stellte ihr Gegenüber
mit rauher Stimme fest.
»Mir vielleicht nicht.« Die harten Augen des jungen Manns weiteten
sich leicht, als er den sanften Ton von Sams Stimme hörte. »Er hat
mir das Leben gerettet«, wiederholte sie.
Der Mann bewegte einen langen Augenblick keinen Muskel, wirkte
erstarrt wie ein Standbild auf einem Kinoplakat. Dann sah sie die
harten Linien seines Körpers ein wenig weicher werden, etwas von
der Anspannung verschwinden. »Es war nur eine Frage der Zeit.« Er
versuchte, seine Stimme gefühllos zu halten, aber unter den rauhen
Worten konnte Sam echte Trauer spüren. In Gedanken reduzierte sie
die Schätzung seines Alters. Fünfzehn? Mehr
auf keinen Fall.
»Wieso war es nur eine Frage der Zeit?«
Er zuckte die Achseln. »Wenn man lange genug Quetsch säuft,
erwischt man irgendwann eine schlechte Ladung. Seine halbe Leber
war schon hin, okay? Es genügte ein leichter Toxschock, und das
war's.«
Sam nickte zögernd. Ein Teil seiner Antwort sagte ihr überhaupt
nichts - ›Quetsch‹, ›Toxschock‹ -, aber sie verstand den Kern der
Aussage. »Dein Vater?« fragte sie verständnisvoll.
Der Bursche zuckte zusammen. Dann wurde seine Miene wieder zu
Stein, so schnell, daß Sam beinahe glauben konnte, sie hätte sich
seine Reaktion eingebildet. »Falsche Leitung, Ballast«, schnappte
er. (›Kümmer dich um deinen eigenen Dreck,
Arschgesicht‹, übersetzte Sam in Gedanken.)
Sie nickte wieder. »Was...« Sie unterbrach sich und setzte noch
einmal an. »Was wird jetzt aus ihm?« Sie deutete auf den
Leichnam.
»Die Schnapper holen ihn. Irgendwann.«
»›Schnapper‹?«
Er rollte mit den Augen. »Bullen, Polizei, okay? So läuft das hier,
Grünschnabel.« Er lächelte ohne eine Spur von Humor. »Willkommen in
Rolandsfeld.«