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Als Samantha Gold Beach, Oregon, erreichte, fühlte sie sich ausgelaugt. Obwohl sie mehrmals Schutzfaktor-25-Sonnencreme aufgetragen hatte, waren Gesicht und Arme verbrannt, und ihre Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt.

Sie war auf eine Fahrt von zwölf bis dreizehn Stunden eingestellt gewesen: die 1-5 rauf nach Redding, dann die kurvenreiche Aussichtsstrecke am Ufer des Trinity entlang bis an die Küste bei Arcata. Dann nach Norden die 101 hoch über die Staatsgrenze von Oregon und nach Gold Beach. So etwa achthundert Meilen. Zwölf Stunden erschienen ihrer Schätzung nach vernünftig, obwohl die Strecke von Redding bis zur Küste sich in zahlreichen Windungen durch den Trinity National Forest zog und sie dort nur eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 40 Meilen in der Stunde fahren konnte. Aber auf der Interstate und dem Highway 101 hatte sie gehofft, den Mustang aufdrehen und Zeit aufholen zu können. Sie hatte Edwards Air Force Base um 7 Uhr 30 verlassen und hätte ein, zwei Stunden vor Sonnenuntergang über die Ortsgrenze von Gold Beach rollen müssen.

Wie heißt noch mal der Spruch: Der Mensch denkt, Gott lenkt? dachte sie sarkastisch. Heute schien sich alles gegen sie verschworen zu haben. Straßenarbeiten auf der 1-5 hatten den Verkehr in eine einzelne, hoffnungslos überfüllte Fahrspur gedrängt. Eine schier endlose Parade lahmarschiger Ausflügler auf der Trinity-Straße war mit 20 Meilen um Kurven gekrochen, die Grendel mit 55 hätte nehmen können. Außerhalb von Smith River hatte sich ein Winnebago überschlagen und war von Streifenwagen und Rettungsfahrzeugen umringt gewesen. Aus zwölf Stunden waren vierzehn geworden, dann sechzehn. Als sie endlich die Lichter von Gold Beach sah, war es weit nach Mitternacht. Ihre Augen brannten wie offene Wunden, und ihre Füße waren geschwollen. Sie quartierte sich im ersten Motel mit Zimmer-frei-Schild ein, das sie fand - dem einfallslos getauften Inn at Gold Beach - und schlief neun Stunden tief und fest, eingelullt vom Rauschen der Brandung unterhalb des Highways.

Sie wachte erfrischt wieder auf, ließ sich mit dem Einpacken und dem Frühstück in einem Coffee Shop auf der gegenüberliegenden Straßenseite aber Zeit. Sie hatte länger als erwartet gebraucht, um hierherzukommen. Trotzdem wünschte sie jetzt, es hätte noch länger gedauert. Das ist dumm, schalt sie sich selbst. Das Hinauszögern macht es um nichts einfacher.

Es war fast Mittag, als sie wieder losfuhr und langsam die sechs Querstraßen umfassende ›Innenstadt‹ von Gold Beach entlangrollte. Sie überquerte den Rogue auf der Betonbrücke und bog nach rechts ab. Die Straße führte am Kai der US-Postboote vorbei, schnellen Hydrojetbooten mit minimaler Verdrängung, die neben Post auch Touristen den Fluß hinauftrugen. Ein Fischadler zirkelte über ihr wie ein Segelflugzeug in der Thermik. Das weiße Brustgefieder und die dunklen Schwingen zeichneten sich deutlich ab. Sie erinnerte sich an einen Artikel, in dem sie gelesen hatte, wie die Vögel mit ihren kräftigen Krallen Fische aus dem Wasser ziehen und ihre Beute ans Ufer oder auf einen überhängenden Baumast tragen, um sie zu verspeisen. Das Problem dabei ist, daß diese Krallen ihre Beute erst wieder freigeben können, wenn der Fischadler auf festem Grund ist. Der Autor war auf diesen Aspekt näher eingegangen und hatte erklärt, daß der Vogel ertrinkt, wenn er sich verkalkuliert und einen Beutefisch schlägt, der zu schwer ist, um ihn aus dem Wasser zu heben. Das nenne ich volles Risiko. Möglicherweise verbirgt sich dahinter eine Lektion.

Sie warf einen Blick auf den Tacho des Mustang und stellte fest, daß sie mit 20 Meilen in der Stunde dahinschlich, obwohl die Straße frei und in gutem Zustand war. Ich versuche immer noch, das Unvermeidliche hinauszuzögern. Mit einem angewiderten Schnauben trat sie das Gaspedal durch und legte den zweiten Gang ein. Grendel schoß mit quietschenden Reifen nach vorne.

Zwei Minuten später hatte sie ihr Ziel erreicht. Ein von Bäumen umgebenes Haus auf einem Vorsprung über dem Fluß. Von der Straße aus war nur ein Teil des am Ende eines kurvigen Kieswegs gelegenen Gebäudes zu sehen. Sam wußte, daß der Anblick täuschte. Es war größer, als es aussah, geräumig und gut ausgestattet. Mit einer hölzernen Veranda nach hinten, von der aus man einen hervorragenden Blick ins Tal hat. Sie konnte die Veranda von hier unten aus nicht sehen, aber vor ihrem inneren Auge stand ein lebhaftes Bild der Szenerie. Ob die alten CapeCod-Stühle noch da sind, mit den breiten Armlehnen, auf denen an einem frischen Frühlingsabend leicht eine große Tasse heiße Schokolade Platz hat?

Sie bog langsam am offenen Tor auf den Kies und fuhr den Weg hinauf. Vor der Einzelgarage parkte bereits ein Wagen, ein unauffälliger grauer Chrysler. Einen Augenblick lang war sie überrascht. Gehört nicht der rote Jensen nach vorne, das Präsentationsstück? Aber nein, wurde ihr beinahe augenblicklich klar. Es mußte Platz für Besucher bleiben. Der Jensen Interceptor III stand sicher in der Garage. Solange er keinen neuen Besitzer hat, wird er wohl kaum benutzt werden, oder?

Sams Augen brannten. Sie rieb sie ärgerlich. Damn, Ich hatte mir versprochen, daß es nicht soweit kommt. Sie stellte den Mustang neben dem grauen Wagen ab und schaltete den Motor aus. Ein paar Sekunden lang schloß sie die Augen und lauschte. Sie verdrängte das metallene Klicken des schweren abkühlenden Motorblocks, bis sie nur noch den Wind in den Bäumen und das leise, stetige Rauschen des Flusses hörte. Vorsichtig ließ sie ihren Gedanken freie Bahn, öffnete sich den Erinnerungen, die ihren Geist überfluten wollten.

Es waren keine Kindheitserinnerungen, keine im Lauf von Jahrzehnten geprägten Eindrücke. (Und genau daher rührt der Schmerz, wußte sie, daß es so wenige sind.) Sie hatte dieses Haus vor sieben Jahren zum erstenmal gesehen und war seitdem nur selten zu Besuch gewesen. Aber die Erinnerungen waren teilweise so wach, weit lebhafter als eine Menge der Bilder, an die sie sich aus ihrer Kindheit erinnerte, aus ihren sogenannten entscheidenden Jahren. Was sagt mir das?

Sie schüttelte entschieden den Kopf, öffnete die Wagentür und stieg aus. Drei Stufen führten hinauf zur Haustür, wo sie den Knopf der Gegensprechanlage drückte. Nach ein paar Sekunden drang eine Stimme aus dem Kasten - blechern, elektronisch, aber trotz allem vertraut. »Hallo?«

»Ich bin's, Pop-Pop«, quetschte sie durch ihre plötzlich wie zugeschnürte Kehle. »Sam.«
Selbst durch die Verzerrungen des Interkom hindurch hörte sie die Wärme in der Stimme ihres Großvaters. »Komm rauf, Samantha Rose.« Sie konnte sein Lächeln vor sich sehen. »Du kennst den Weg.« Die Tür entriegelte sich mit einem leisen Knacken.
Samantha stieg langsam die leise knirschenden Stufen hinauf, an dem Seitenfenster vorbei, das den Blick auf den Garten neben dem Haus freigab, und vorbei an den körnigen Schwarzweißfotos - eingerahmten Erinnerungen - an den Wänden. Selbst jetzt fühlte sie noch eine gewisse Geborgenheit, jene Geborgenheit, die dieses Haus immer für sie bedeutet hatte. Die Geborgenheit eines Zuhauses, eines Ortes, an dem sie ganz sie selbst sein konnte, ohne Peinlichkeit oder Entschuldigung - Pop-Pops Schlafzimmer, sein Krankenzimmer, lag am hinteren Ende des Flurs, an der Rückseite des Obergeschosses. Auf dem Weg kam sie an den Türen zur Bibliothek und dem Gästezimmer vorbei, in dem sie früher logiert hatte. Ein Teil von ihr wünschte sich, wieder dort wohnen zu können, bis dies alles vorbei war. Aber sie wußte, daß das nicht möglich war. Nicht, weil sie nicht willkommen gewesen wäre, im Gegenteil, sondern weil sie es, aus sehr persönlichen Gründen, nicht ausgehalten hätte.
Die Tür am Ende des Gangs stand ein wenig auf. Sie konnte Stimmengemurmel hören - zwei männliche Stimmen, zu leise, als daß sie hätte verstehen können, was gesagt wurde. Sie zögerte, dann atmete sie tief durch, zog die Schultern zurück und klopfte fest an den Türrahmen.
Das Gespräch auf der anderen Seite der Tür brach ab, dann hörte sie: »Samantha? Komm rein, jetzt ist nicht der Zeitpunkt, förmlich zu werden.« Die Stimme ihres Großvaters...
... und doch gleichzeitig nicht. Der Tonfall vermittelte denselben trockenen Humor, den sie immer mit Pop-Pop in Verbindung gebracht hatte, aber irgend etwas fehlte - die Kraft... das Leben. Der Gedanke drängte sich in ihr Bewußtsein. Der Unterschied zwischen Livemusik und einer Aufzeichnung. Die Unmittelbarkeit ist dahin. Sie schloß für einen langen Augenblick die Augen, kämpfte darum, ihre Gefühle unter Kontrolle zu bringen. Dann stieß sie die Tür auf und trat ein.
Jim Dooley, Sr., betrachtete sie mit den leuchtendgrünen Augen, die ihr so vertraut waren, jenen Augen, die ihr bis ins Herz und bis in die Gedanken blicken konnten. Die Vorhänge waren halb zugezogen, aber selbst im Zwielicht des Schlafzimmers strahlten diese Augen Kraft und Zuneigung aus. Samantha zwang sich ein Lächeln aufs Gesicht und konzentrierte sich auf diese Augen.
Denn sie waren das einzige an Jim Dooley, was vertraut schien. Der Krebs, mit dem er kämpfte, hatte seinen Körper ausgemergelt. Er war nur noch die Hülle eines Menschen, winzig gegenüber dem Stahlrahmen des Krankenhausbetts, das sein geliebtes schweres Eichenbett ersetzt hatte. Eingefallene Wangen, dunkle Ringe unter den Augen, spärliche Strähnen schweißnassen Haars auf einer pergamentenen Kopfhaut, die Gesichtshaut wie dünnes Leder über seine schweren Knochen gespannt. Sie erinnerte sich daran, wie er bei ihrem letzten Besuch ausgesehen hatte: gebräunt, wettergegerbt, ein großer, stämmiger Holzfällertyp, der leicht zwanzig Jahre jünger als die zweiundsiebzig Jahre aussah, die er zählte. Jetzt schien er zwei Jahrzehnte älter, als er tatsächlich war.
Eine Hülle, dachte Sam, mehr ist er nicht mehr. Eine leere Hülle, ausgelaugt und leergesogen. Der

Krebs, der sich durch seine Knochen fraß, hat sein Fleisch verzehrt, seine Muskeln dahinschmelzen lassen, seine Haut in brüchiges, altes Papier verwandelt. Aber was sind Fleisch und Muskeln und Haut schon wirklich? fragte sie sich in Gedanken. Ist das alles, was einen Menschen ausmacht? Natürlich nicht.

Sie sah ihren Großvater noch einmal an, und es schien, als sähe sie ihn zum ersten Mal. In gewisser Weise war es fast, als hätte die Auszehrung ihn geläutert, alles Unwichtige weggebrannt. Alles, was nicht wesentlich für ihn ist, dachte sie. Sie konnte sich beinahe vorstellen, daß er in einem inneren Licht erstrahlte, einem Licht, das man nicht mit den Augen sehen, sondern nur mit dem Herzen fühlen konnte. Sie glaubte die Fieberglut der Krankheit zu spüren wie die Hitze eines fernen Scheiterhaufens auf ihrem Gesicht. Aber da war noch mehr, ein reineres Glühen, das gegen die Glut des Krebses ankämpfte. Dieses Feuer war der Jim Dooley - der Geist, die Kraft, die Persönlichkeit - das, was noch immer im Innern der verfallenen Hülle wohnte.

Ihre Erleuchtung währte nur einen Augenblick, aber Samantha wußte, daß dieser Eindruck sie nie mehr verlassen würde. Ihr gezwungenes Lächeln wurde echt, und das Brennen der unvergessenen Tränen verschwand. Sie trat hinüber an das Bett und nahm die Hand des alten Mannes - leicht und zerbrechlich wie ein kleiner Vogel - zwischen ihre beiden Hände.

»Es tut gut, dich zu sehen, Samantha. Ich bin froh, daß du kommen konntest.«

»Denkst du ernsthaft, du hättest mich fernhalten können, Pop-Pop?« fragte sie leise.
»Du siehst gut aus.«
»Du auch.«
Jim Dooley zog die Stirne kraus und setzte zu einem sarkastischen Kommentar an. Aber dann schwieg er, als habe er etwas Überraschendes in Sams Augen gesehen. Nach einem Augenblick des Zögerns nickte er stumm. Sie fühlte, wie er ihre Hand drückte, mit einem blassen Schatten seiner früheren Kraft.
»Wirst du gut versorgt, Pop-Pop?«
Jim zuckte die knochigen Schultern. »Wenn ich es zulasse«, sagte er trocken, und seine jadegrünen Augen funkelten.
»Hast du eine Schwester?«
Er nickte. »Die Reinkarnation von Attilas Kindermädchen.« Er grinste böse. »Ich habe ihr den Morgen freigegeben. Ich bin sicher, sie nutzt diese unerwartete Freizeit dazu, ein paar kleine Kätzchen zu sezieren.« Plötzlich schnalzte er mit der Zunge und schüttelte den Kopf. »Samantha, ich vergesse meine Manieren. Ich möchte dir Ernest Macintyre vorstellen, einen alten Freund. Mac, das ist meine Enkelin.«
Sam drehte sich um. Sie hatte völlig vergessen, daß noch jemand im Raum war.
Der andere Mann stand mit dem Rücken zur Wand in der Ecke. Um sich noch weiter vom Bett zu entfernen, hätte er das Zimmer verlassen müssen. Die Augen hinter seiner Drahtbrille weiteten sich, als Sam auf ihn zutrat, und einen Augenblick lang dachte sie, er würde an ihr vorbei aus der Tür stürzen. Aber dann lächelte er - ein unschuldiges Lächeln, beinahe kindlich, dachte sie unwillkürlich - und streckte die Hand aus. »Ms. Dooley«, sagte er höflich.
Seine Förmlichkeit ließ Sam eine Augenbraue hochziehen. »Mr. Macintyre.« Während sie ihm die Hand schüttelte, schätzte sie den Mann ab. Mittlere Statur, durchschnittliche Größe - eigentlich, stellte sie auf den zweiten Blick fest, war er ziemlich groß, mindestens 1 Meter 82. Aber irgend etwas an seiner Statur oder möglicherweise an seiner Haltung ließ ihn kleiner erscheinen. Hellbraunes Haar, konservativer Schnitt. Blasse Gesichtsfarbe, helle, kornblumenblaue Augen. Nicht hübsch, aber auf eine ihm unbewußte Weise attraktiv. »Sie sind ein Freund von Pop-Pop?« fragte sie, als er ihre Hand freigab.
Macintyre setzte zu einer Antwort an, sagte aber nichts. Sam sah, wie er dem Mann im Bett einen schnellen Blick zuwarf.
»Ein alter Kollege«, antwortete Jim Dooley glatt, »der kürzlich zu einem Freund geworden ist, so könnte man es ausdrücken.« Sam blinzelte überrascht. Ein alter Kollege? Dieser Macintyre wirkte nur ein paar Jahre älter als sie selbst - vielleicht dreißig.
Jims Blick wanderte von Sam zu Macintyre. »Und ich möchte diese neue Freundschaft nicht länger belasten, Mac«, fuhr er mit einem freundlichen Lächeln fort. »Ich weiß, du hast viel zu tun, und das ist wichtiger, als einem alten Mann Gesellschaft zu leisten.«
Wieder klappte Macintyres Mund auf und zu, ohne einen Laut hervorzubringen. Dann schluckte er sichtlich und nickte. »Wenn du sicher bist, daß ich nichts für dich tun kann...« Jim schüttelte den Kopf. »Na gut, dann. Ich... ich komme wieder vorbei.«
»Wenn es sich einrichten läßt«, bestätigte Jim gelassen.
Macintyre schluckte erneut und streckte Sam die Hand entgegen. Sie nahm sie, amüsiert, aber gleichzeitig auch leicht verwundert.
»Vielleicht sieht man sich ja mal wieder, Mr. Macintyre.«
Der schlanke Mann zögerte, als wisse er darauf keine Antwort. Dann murmelte er: »War mir ein Vergnügen.« Er ließ ihre Hand los und ging zur Tür. Auf dem Flur blieb er kurz stehen und sah sich zu ihr um. Dann war er fort. Sam hörte Schritte auf der Treppe, dann das Öffnen und Schließen der Haustür. Sie drehte sich zu ihrem Großvater um, eine Frage auf den Lippen.
Jim kicherte leise. Seine Augen funkelten vergnügt. »Der gute Mr. Macintyre hinterläßt den üblichen ersten Eindruck«, stellte er lachend fest.
Sam konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. »Wer war das?«
»Wie ich schon sagte, ein alter Kollege.« Sein Lächeln verblaßte. »Es ist eine lange Geschichte und keine sonderlich lustige. Wie kann man ihn nennen?« Er zögerte. »Einen Air-Force-Knirps, mehr oder weniger. Schwere Kindheit, frühe Verluste...« Er warf ihr einen bedeutungsschweren Blick zu. »Klingt vertraut?«
»O ja«, erwiderte sie.
»Er wurde... Im Grunde wurde er adoptiert... Von ein paar meiner alten Kollegen. Flieger, Testflugingenieure zum größten Teil. Sie stellten über Jahre seine Familie dar.« Er zuckte die Schultern. »Sie tun es wohl immer noch. Ich habe Mac kennengelernt, als er noch ein Kind war.« Er schloß die Augen. Als ob auf der Innenseite seiner Lider ein Film abläuft, dachte Sam. »Wir haben reihum die Elternrolle für ihn übernommen. Manche waren eifriger dabei als andere, aber im Laufe der Jahre dürfte wohl jeder einige Zeit mit ihm verbracht haben.« Jim Dooley lächelte sanft. »Ein ruhiges Kind. Jeder, der auch nur die Empfindsamkeit einer Amöbe hatte, konnte die Aura von Tragik fühlen, die ihn wie eine kleine dunkle Wolke begleitete. Er hat nie viel geredet, und wer ihn nicht kannte, hielt ihn wahrscheinlich für nicht ganz da, wie man so sagt. Aber wir, die wir ihn kannten, wußten es besser.«
Das Gesicht des alten Manns entspannte sich noch weiter. Erst jetzt, da sie verschwunden schien, erkannte Sam, wie groß die Anspannung in Pop-Pops Zügen und Bewegungen gewesen war. Ihr Herz öffnete sich ihm. Du hast Schmerzen, Pop-Pop, nicht wahr? Aber das wirst du mir gegenüber nie zugeben... Und auch niemand anderem gegenüber. »Ja?« fragte sie leise.
Jim lächelte wieder, und nicht zum erstenmal hatte Sam das Gefühl, daß er ihre Gedanken hören konnte. »Wir sind gut miteinander ausgekommen, Mac und ich. Es stellte sich heraus, daß wir voneinander lernen konnten. Ich habe ihm beigebracht, wie die Welt funktioniert, und er hat mir gezeigt, wie sie funktionieren sollte, wie es sein müßte.« Seine Augen zuckten auf, und sein eisgrüner Blick fixierte Sam. »Kennst du den Ausdruck ›Sense of Wonder‹?« Sie nickte. »Das war es, was Mac einem beibringen konnte. Und er hat es gelehrt, jeden, der sich Zeit für ihn genommen hat. Ich habe mir die Zeit genommen. Heute ist er Ingenieur. Aeronautik und andere Fachgebiete. Wenn du ihn fragen würdest, was für eine Beziehung uns verbindet, würde er mich wahrscheinlich als seinen Mentor bezeichnen.« Jim zuckte vielsagend die Achseln. »Der Begriff stimmt, aber die Richtung, in die er geht, gefällt mir nicht so recht, wenn du verstehst, was ich meine.«
Sam antwortete nicht sofort. Tränen traten in ihre Augen. Warum? fragte sie sich. Warum jetzt? Was ist an dem, wie Pop-Pop über Mac redet, das mich so traurig macht? Mit einiger Anstrengung verdrängte sie die verwirrten Gefühle, die sie belasteten. Darüber kann ich mir später auch noch den Kopf zerbrechen, stellte sie entschieden fest. Sie zwang das Lächeln zurück auf ihr Gesicht.
Falls Jim Dooley ihre kurze Verstimmung bemerkt hatte, ließ er es sich zumindest nicht anmerken. Er klopfte auf den Bettrand. »Genug von Mac. Ich will was von dir hören. Du wohnst bei deiner Rennfliegerfreundin, richtig?«
Samantha setzte sich neben ihren Großvater aufs Bett und fing zu erzählen an.

* * *

 

»Wie war's, Kiddo?«

Sam zuckte etwas unbehaglich die Schultern. Um sich einen Augenblick Zeit zu verschaffen, in der sie ihre Gedanken ordnen konnte, nahm sie einen Schluck aus dem Whiskeyglas auf dem Beistelltisch. »Schwierig«, sagte sie schließlich. »Es war schwierig, wie ich es erwartet hatte.«

Ihre Freundin nickte. Maggie Braslins saß mit seitlich untergeschlagenen Beinen in einem breiten Sessel und hörte ihr zu. Sie sieht aus wie eine Katze, dachte Sam plötzlich. Eine große, alte Katze - geschmeidig wie Gummi, entspannt und völlig losgelöst von allem, was um sie herum geschieht.

Aber nein, das stimmte nicht, korrigierte sie sich sofort. Maggie sorgte sich. Das hatte sie schon immer getan. Ihre abgehobene, beinahe abweisende Art war im Grunde reiner Selbstschutz. Sie machte sich eher zu viele als zuwenig Sorgen, und ihre Pose der Ungerührtheit gegenüber dem Leben war der Versuch, zu verhindern, daß sie allzu oft und allzu schwer verletzt wurde.

Sam grinste, als sie sich an ihre erste Begegnung mit Maggie erinnerte. Das war 1982 gewesen, bei einem Treffen der Sacramento-Valley-Abteilung der sogenannten 99er. Einen Monat vorher hatte Sam einen persönlichen Einladungsbrief erhalten, unterschrieben von einer gewissen Margaret Braslins, von der sie vorher noch nie gehört hatte. Samantha hatte kaum etwas über die Organisation gewußt, sie für eine Art Pilotinnenclub gehalten und kein sonderliches Verlangen verspürt, von Los Angeles bis Sacramento zu fahren, nur um sich mit irgendwelchen Fremden zu unterhalten. Wahrscheinlich irgendein furchtbar aufgedrehtes politisches Aktionskomitee für die Zulassung weiblicher Kampfpiloten, hatte sie vermutet. Aber, wie sich die Dinge so häufig entwikkelten, irgendwie hatte sie sich aus anderen Gründen in der Gegend von Sacramento tatsächlich wiedergefunden und der Gelegenheit nicht widerstehen können, sich diesen ›Mädelclub‹ anzusehen.

Die 99er waren wahrhaftig eine Art Lobby, hatte sie herausgefunden, aber das war nicht alles. Es handelte sich um eine Organisation mit einer langen, ruhmreichen Geschichte, nicht die Trittbrettfahrerclique, die sie erwartet hatte. Gegründet worden waren sie bereits 1929 von den ersten Pilotinnen überhaupt, die damals noch ›Aviatrixe‹ genannt wurden, einschließlich Amelia Earhart persönlich. Und das hatte natürlich völlig ausgereicht, Samantha Dooleys Interesse zu wecken. Soweit sie in ihrer Jugend überhaupt Vorbilder gehabt hatte - abgesehen von ihrem Vater natürlich und Pop-Pop - war Amelia das Top-Idol ihres kleinen Pantheons gewesen. Vom Gründungstag an hatte die Mitgliedschaft bei den 99ern allen Frauen mit Pilotenlizenz offengestanden. Die Organisation besaß Abteilungen in den gesamten Vereinigten Staaten, und zu ihren Mitgliedern gehörten Rennfliegerinnen, Luftakrobatinnen, Linienpilotinnen, Rettungsfliegerinnen, weibliche Air-ForceOffiziere und sogar Astronautinnen wie Sally Ride.

Die offizielle Aufgabe der 99er bestand, in den Worten des Gründungsmitglieds Amelia Earhart, darin, ›Kameradschaft, Arbeit und ein zentrales Büro mit Akten über Frauen im Flugbereich‹ zu bieten. Alles sehr begrüßenswert, fand Sam, aber es war die inoffizielle Aufgabe der Organisation gewesen, die sie eingefangen hatte: Im Kern waren die 99er ein Ort, an dem sich Frauen treffen konnten, die das Hochgefühl des Fliegens genossen und Zeit mit ihresgleichen verbringen wollten. Obwohl sie an diesem Nachmittag in Nordkalifornien ein Neuankömmling gewesen war, hatte Samantha Dooley sich fast vom ersten Augenblick an zu Hause gefühlt. Zum ersten Mal überhaupt war sie von Frauen umgeben gewesen, die ihre Sichtweise teilten. Viele von ihnen hatten einen ähnlichen Hintergrund: ›Militärknirpse‹, die in die Fußstapfen ihrer Väter getreten waren und mit fünfzehn oder sechzehn den Pilotenschein gemacht hatten. Die 99er hatten ihr die Kameradschaft und das Gemeinschaftsgefühl vermittelt, das sie bei den verschiedenen Sororities ihrer Unizeit vergeblich gesucht hatte. Der entscheidende Unterschied war, daß die Frauen in den 99ern alle dieselbe Weltsicht hatten: Sie teilten den Glauben, daß die Welt aus einer Höhe von mehreren tausend Fuß weit besser aussah und daß die Zeit, die sie am Boden zubrachten, vorzugsweise nur ein kurzer Abstecher sein sollte.

Sam war von der allgegenwärtigen Atmosphäre der Versammlung so gefangen gewesen, daß sie keinerlei Versuch unternommen hatte, Margaret Braslins zu finden, deren Einladung sie ihre Anwesenheit zu verdanken hatte. Erst einige Stunden nach der Ankunft hatte sie sich im Gespräch mit einer angegrauten, mutterhaften Frau wiedergefunden, die alle ›Mags‹ nannten... und sich klargemacht, daß sie ihr diese Einladung geschickt hatte. Wie sie aus dem Gespräch erfahren hatte, war Maggie Braslins bereits zwanzig Jahre lang Mitglied der 99er und an der Pazifikküste eine bekannte Rennfliegerin.

Die beiden waren in Kontakt geblieben und hatten sich, so oft es ging, bei Treffen der 99er und regionalen Kongressen getroffen. Seit Maggie aus Red Bluff, Kalifornien, nach Norden umgezogen war, nach Nesika Beach, Oregon, nur etwa fünf Meilen nördlich von Gold Beach, hatte Sam ihr jedesmal einen Besuch abgestattet, wenn sie zu Pop-Pop gefahren war. Selbst dieses letzte Mal, dachte sie traurig.

Sam sah hinüber zu Maggie, die sich in ihrem Lehnsessel zusammengerollt hatte. Mags sah immer noch so aus wie vor fünf Jahren. Und Sam hätte nicht darauf gewettet, in noch einmal fünf Jahren eine Veränderung an ihr feststellen zu können.

Maggie nickte langsam. »Schwierig«, wiederholte sie Sams Antwort leise. »Und er?«
Sam schüttelte den Kopf. »Er ist alt.« Ihre Stimme erschien ihr selbst leise, kaum mehr als ein Flüstern. »Alt und müde.« Sie schloß die Augen. »Und er hat Schmerzen, Mags. Er spricht nicht darüber, aber man sieht es an seinem Gesicht, wenn er es nicht bewußt unterdrückt. Er hat Schmerzen... und er wird froh sein, wenn...« Sie konnte es nicht aussprechen. Die Worte blieben ihr im Halse stecken.
Maggie nickte wieder und blickte zur Seite, um ihre Freundin nicht leiden sehen zu müssen. Sie nahm eine Packung Zigaretten, schüttelte eine raus und zündete sie an. Sam lächelte, als sie das Feuerzeug erkannte. Maggie folgte ihrem Blick und grinste ebenfalls. Sie hielt das stählerne Zippo mit dem Wappen aus ineinander verschlungenen Neunen hoch. »Oklahoma City«, sagte sie.
»Ich erinnere mich.« Es war der erste Kongreß der 99er gewesen, an dem Sam teilgenommen hatte, im Internationalen Hauptquartier der Organisation. Samantha und Maggie waren zusammen in Maggies mantha und Maggie waren zusammen in Maggies Schulflugzeug. Das war vier Jahre her, und Sam erinnerte sich nicht mehr, wer die Hauptrednerin gewesen war, aber sie hatte lebhafte Erinnerungen an eine der Workshopkoordinatorinnen, Amy Langland, seit vierzig Jahren bei den 99ern. Sie hatten sich vor dem Abendessen, ›in der Warteschleife‹, wie Langland es genannt hatte, in der Bar eines Restaurants in der Nähe der Kongreßhalle getroffen und hervorragend verstanden. Viel später hatte Sam erfahren, daß die spindeldürre Frau mit dem Raubvogelgesicht, mit der sie Jack Daniel's getrunken hatte, eine der ›grauen Eminenzen‹ der 99er war, eine ehemalige Präsidentin und eines der respektiertesten Mitglieder, das noch eine gültige Pilotenlizenz besaß. Das waren Zeiten, dachte sie trübsinnig.
Sam schüttelte den Kopf. Sie deutete auf die Zigarettenpackung neben Maggie. »Gib mir eine.«
Maggie sah sie fragend an. »Ich dachte, du hättest es aufgegeben.«
»Hab' ich auch.«
Maggie lachte, ein warmes, kehliges Lachen. Sie warf Sam das Päckchen hinüber, gefolgt von dem abgegriffenen Zippo. Samantha zündete sich eine Zigarette an und zog den Rauch in die Lunge. Es schmeckte wie abgefackelter Kameldung, aber sie konnte fühlen, wie ihr Körper auf das Nikotin reagierte. Du hast es nie wirklich aufgegeben, nicht wahr? Du schiebst den nächsten Glimmstengel nur vor dir her, manchmal jahrelang. Sie schloß die Augen und genoß das milde Hochgefühl. Jack Daniel's und eine Kippe. Es ist lange her.
»Du hast nie viel über deine Familie erzählt«, sagte Maggie schließlich und brach das freundschaftliche Schweigen.
»Ich habe dir von Pop-Pop erzählt.«
Die ältere Pilotin zuckte die Schultern. »Das war es aber auch, Kiddo«, gab sie zu. »Über deinen Großvater. Beinahe, als hättest du keine Eltern gehabt.«
»Hatte ich auch nicht, nicht richtig«, erwiderte Sam, und ihre Miene verhärtete sich. Aber dann entspannte sie sich. »Das stimmt nicht«, sprach sie leise weiter. »Sie sind gestorben, als ich noch klein war.«
»Wie klein?«
Sam zögerte. Gewöhnlich bog sie ein Gespräch an dieser Stelle ab, bevor es zu tief in diesen Bereich eindrang - ›das verbotene Land‹ nannte sie es in Gedanken - aber heute nacht hatten der Jack Daniel's und das Nikotin ihre Abwehr entschärft. »Mein Vater, als ich fünf war.« Es fiel ihr schwer, es auszusprechen, trotz allem. »Meine Mutter ein Jahr später.«
Maggie seufzte und schüttelte den Kopf. »Das ist hart.« Dann lachte sie trocken. »Sorry. Du weißt natürlich selber, daß das hart ist. Ich werde prosaisch, wenn ich trinke.«
»Wer nicht?« Sam hob das Glas in gespieltem Salut. Dann starrte sie das Kristallglas an und konzentrierte sich auf das Lichtspiel in der bernsteinfarbenen Flüssigkeit. »Sie waren nicht zusammen, als es geschah«, sagte sie schließlich. »Als er starb, meine ich.«
»Sie waren geschieden?«
»Getrennt«, korrigierte Sam. »Das Jahr davor. Ich blieb bei meiner Mutter.« Sie schnaubte. »Nicht, daß ich dabei etwas zu sagen hatte.«
»Oh?«
Samantha sah auf und begegnete dem Blick ihrer Freundin. Maggies Miene war völlig neutral - die perfekte Psychoanalytikerin, dachte Sam. Erst wollte sie das Thema wechseln, irgendeinen cleveren Kommentar abfeuern und das Gespräch auf sichereren Boden steuern. Stattdessen: »Sie hat ihn verlassen«, sagte sie leise. »Als ich vier war.«
»Was ist geschehen?«
Wieder drängte es Samantha, sich dem Gespräch zu entziehen, aber sie entschied: Was soll's? Sie blieb eine Weile stumm, während sie versuchte, sich darüber klarzuwerden, wo genau die Geschichte ihren Anfang genommen hatte.

Ich war vier, begann Samantha. Wir lebten in einem der winzigen Hohlziegelhäuser für verheiratete Offiziere in der Patuxent River Naval Air Station, ›Pax River‹, in Maryland. Dad - Jim Dooley, Jr. - war bei der Testfliegergruppe für die nächste Düsenjägergeneration nach der A3J. Die Blechsoldaten nannten die neue Maschine den Vindicator. Die Piloten in der Flugstaffel - wie mein Dad - nannten sie die ›Badewanne‹ oder den ›Sarg‹. Ein echter Reinfall mit Flügeln, der es nie zu etwas brachte, und irgendwann hat die Navy das auch eingesehen und die Arbeit daran aufgegeben. Aber bevor die Navy irgendwas aufgibt, muß erst ein hoher Preis gezahlt worden sein.

Es waren die Testpiloten, die den Preis bezahlt haben, in Blut. Es war eine schlimme Zeit für die Gruppe, eine sehr schlimme Zeit sogar. Innerhalb von vier Monaten sind drei Piloten umgekommen. Alle drei wurden bis zur Unkenntlichkeit verbrannt, als sie ihre Vögel aus einer Höhe von zwei Meilen in den Boden jagten. Mir war damals natürlich nicht klar, was vorging. Mit vier Jahren versteht man nicht allzuviel von Flugzeugabstürzen und Tod. Ich wußte nur, daß Mom und ihre Freundinnen wegen irgendetwas wirklich bedrückt und angespannt waren, während Dad und seine Freunde mehr und lauter redeten als gewöhnlich. Und mir fiel auf, daß die Erwachsenen alle paar Wochen sonntags nach der Kirche schwarze Sachen anzogen und ein paar Stunden irgendwohin verschwanden. Es hat Jahre gedauert, bis mir klar wurde, was das bedeutete.

Aber schlimme Zeit oder nicht, manche Traditionen mußten aufrechterhalten werden. Eine davon waren die wöchentlichen Gemeinschaftsessen, zu denen die Piloten und ihre Frauen reihum einluden. Ich fand es immer toll, wenn die Party bei uns stattfand. Damals mochte ich es, viele Leute um mich zu haben. Ich mochte es, ihnen zuzuhören. Ich mochte das Gefühl, wenn ringsherum geredet wurde - das Gefühl, dazuzugehören - auch wenn ich das meiste, worüber sie sprachen, nicht verstand. Aber noch wichtiger war natürlich, daß ich an Partyabenden länger aufbleiben durfte.

Ich durfte Dads Pilotenkollegen begrüßen und Moms Freundinnen: Pete und Maureen, Andy und Catherine und all die anderen. Manchmal erlaubte Mom mir sogar, noch länger aufzubleiben, und ich bekam ein Glas Apfelsaft, während die Erwachsenen ihren Martini oder ein Glas Wein tranken. Irgendwann wurde ich dann rauf ins Bett geschickt.

Aber das hieß natürlich nicht, daß ich gleich eingeschlafen wäre. Die kleinen Offiziershäuser waren billig gebaut, mit dünnen Fußböden und Innenwänden. Ich konnte von oben in meinem Zimmer das Murmeln der Stimmen hören. Ich konnte nicht verstehen, was sie sagten, aber es reichte, um zu wissen, daß sie sich weiter amüsierten, nachdem ich weggeschickt worden war. Das war natürlich viel zu wenig!

Also schnappte ich mir meistens meine Decke und schlich mich bis zur Treppe, außer Sicht des Wohnzimmers, und setzte mich an die Wand. Von dort aus konnte ich hören, was unten geschah.

Ich habe natürlich kaum was von dem, worüber die Erwachsenen geredet haben, verstanden. Die meisten ihrer Witze gingen völlig an mir vorbei, und fast alle Leute, über die sie sich unterhielten, kannte ich nicht. Irgendwann wurde es mir dann langweilig, und ich bin entweder zurück ins Bett getrottet oder da oben an der Treppe eingeschlafen. (Jetzt fällt mir ein: Ich habe Dad oder Mom nie gefragt, wie oft sie mich nach einer ihrer Partys zurück in mein Zimmer tragen mußten.) Aber selbst, wenn ich verstand, worum es ging, hinterließ es keinen bleibenden Eindruck in meinem kindlichen Geist, und ich erinnere mich nicht mehr daran.

Bis auf eine Gelegenheit.

Einmal konnte ich spüren, daß irgend etwas anders war, irgend etwas nicht stimmte. Dad, Pete und Andy bestritten den Großteil der Konversation. Jemand namens Danny war an diesem Tag abgestürzt - ich habe das später herausgefunden. Seine Maschine war in Flammen aufgegangen, als er eine Seitenwindlandung versuchte. Noch ein Toter.

›Danny war ein guter Pilot.‹ Ich werde nie vergessen, was Dad in jener Nacht sagte, oder die beinahe nonchalante Art, wie er es sagte. ›Und er war ein guter Mann. Aber...‹ - ich sehe noch ganz genau vor mir, wie er seine breiten Schultern zuckte - ›... er hatte nicht gerade allzuviel Erfahrung, oder? Und es ist ja auch nicht, als wäre er der geborene Knüppel-undSeitenruder-Jockey gewesen. Als die Kontrollen gestreikt haben... Na ja, er hatte schlechte Karten und nicht die Erfahrung, sich aus der Lage zu befreien.‹

Inzwischen ist mir klar, daß ich diese Worte, oder ganz ähnliche zumindest, schon vorher gehört hatte. Es war eine Art Litanei der Testpiloten-Bruderschaft, ein Nachruf auf die Toten, die übliche, anerkannte Methode, auf den Verlust eines Freundes und Mitpiloten zu reagieren. Einer holte die Standardentschuldigung raus, und alle anderen - die Piloten und ihre Frauen - nickten wissend. Es war natürlich ein verteufelter Schlag, daß Soundso sich das Genick gebrochen hatte, aber sicher war er selbst daran schuld gewesen. Verdrängung, etwas anderes war es nicht: Verdrängung reinsten Wassers. Entschuldigungen, ein paar Worte drumherum - eine Technik, um die Tatsache, daß ein junger Mann wie sie selbst das Leben verloren hatte, zu überspielen. Eine Technik, mit der sie verdrängten, daß jedem der anwesenden Piloten dasselbe passieren konnte, jederzeit - aus heiterem Himmel, und das im wahrsten Sinne des Wortes. Wenn ich zurückschaue, wirkte es tragikomisch. Aber für sie hat es funktioniert, solange sich alle an die Spielregeln hielten, dem ungeschriebenen Skript folgten. Und weil die Alternative einfach zu grauenhaft war, spielten alle mit.

Außer in jener Nacht. Es war die Stimme meiner Mutter, die das Schweigen brach, laut und schrill genug, um mich erschreckt hochfahren zu lassen. ›Ich glaube das einfach nicht!‹

Schockiertes Schweigen. Das war die einzige Antwort, die sie bekam. Dann, nach ein paar Sekunden, hörte ich eine ruhige Stimme - einer der Piloten versuchte Mom zu beruhigen, sie zu stoppen, bevor sie die tröstende Scheinwelt der anderen ruinierte.

Aber Mom ließ sich nicht zum Schweigen bringen. ›Ich glaube es nicht!‹ rief sie wieder, und in ihrer Stimme lag soviel Schmerz, daß ich weinen mußte, obwohl ich das Ausmaß dessen, was sie tat, nicht verstand. ›Danny ist tot. Er ist tot, weil das gottverdammte Flugzeug kaputtgegangen ist. Etwas anderes ist ein ,Streiken der Kontrollen' doch nicht, oder? Etwas ist kaputtgegangen! Mein Gott!‹ Ihre Stimme war ein einziger Klageschrei. ›Was, in Gottes Namen, läßt irgendeinen von euch glauben, ihr wärt besser davongekommen? Es kann jedem von euch passieren – jederzeit!‹

Selbst heute kann ich mir nichts vorstellen, was Mom hätte sagen können, um die Menschen in diesem Zimmer schlimmer zu verletzen, um ihre Schutzmechanismen wirksamer zu zerschlagen. Sie hatte die unausgesprochenen Regeln gebrochen - das größte Verbrechen. Das war das Ende der Feier, und es war das Ende der Ehe meiner Eltern.

Niemand hat Moms Ausbruch je wieder erwähnt. Am nächsten Morgen waren Mom und Dad ruhig, beherrscht. Aber zwei Tage später packte Mom unsere Sachen, und wir haben Dad in dem Hohlziegelhaus zurückgelassen und sind weggefahren.

* * *

Samantha seufzte und steckte sich eine zweite Zigarette an. »Er hat mir viel geschrieben nach der Trennung, jede Woche.« Sie lächelte traurig. »Seine Briefe. Sie waren wie diese wunderbaren Augenblicke, wenn die Sonne hinter einer Gewitterwolke aufblitzt, eine Erinnerung, daß die Dunkelheit nicht ewig dauern wird. Ich las sie immer wieder und stellte mir vor, daß er eines Tages kommen und mich mitnehmen würde. Wir würden zusammenbleiben, er und ich, und er würde mir das Fliegen beibringen. Und es würde wunderbar werden. Und dann war er tot, und ein Jahr später war sie es auch.«

Unbewußt krampften sich ihre Hände um das Whiskeyglas. »Manchmal denke ich, daß ich deswegen fliege«, sprach sie weiter, kaum lauter als ein Flüstern. »Daß ich deswegen mit fünfzehn den Pilotenschein gemacht habe, sobald es legal war, mit der Hinterbliebenenrente der Regierung. Ich konnte die Welt hinter mir lassen. Die Trauer, die Erinnerungen.« Sie stockte. »Es ist schon seltsam. Selbst jetzt noch, zwanzig Jahre danach, fühle ich mich ihm näher, wenn ich fliege.« Langsam hob sie den Blick aus dem Glas zum Gesicht ihrer Freundin und suchte... Wonach? fragte sie sich. Mitgefühl? Mitleid? Was sie sah, war wertvoller als beides: Verständnis.

Maggie seufzte. »Du wolltest bei ihm bleiben, nicht wahr?«
Sam nahm einen Zug von der Zigarette, um ihre Antwort zu überdenken. »Wie ich bereits sagte, ich hatte keine große Wahl«, stellte sie schließlich so ruhig fest, wie sie es nur fertigbrachte. »Er war Navy-Testpilot in einer Zeit, in der jede Woche eine Maschine vom Himmel fiel. Sie war Grundschullehrerin. Was glaubst du, wer das Kind bekam?«
»Das Kind wird nicht gefragt, nicht wahr?«
Jedenfalls glaubte Sam, daß Maggie das gesagt hatte, aber die Stimme der älteren Frau war so leise gewesen, daß sie sich nicht sicher sein konnte. »Bitte?« fragte Samantha.
Maggie winkte ab. »Vergiß es.« Sie machte eine Pause. »Was ist aus ihm geworden?«
Sam zuckte die Achseln. Sie versuchte, Miene, Stimme und Körperhaltung locker zu halten, wußte aber nicht, inwieweit ihr das gelang. »Der große Knall.« Wieder hob sie den Drink in einem gespielten Salut. »Erster Flug mit einer neuen Maschine. Wie sich herausstellte, waren noch nicht alle Probleme ausgebügelt.«
»Hmm. War das nicht die Zeit, an der man an der X-12 und ähnlichem gearbeitet hat?«
»Es war keine Militärmaschine«, schüttelte Sam den Kopf. »Er war sechs Monate vorher ins Zivilleben zurückgekehrt.« Sie lachte bitter. »Die Militärarbeit war ihm zu gefährlich geworden.«
»General Dynamics?«
»Schön war's. GD hat seine Angestellten immer bestens versichert.« Sam seufzte. »Nein, er ging zu einer dieser kleinen unabhängigen Firmen, Generro Aerospace. Schon mal davon gehört?«
»Den Namen kenne ich«, gab Maggie nach einem Zögern zu. »Aber er sagt mir nicht viel. Was haben sie gemacht?«
»Gar nichts«, erwiderte Samanta, und diesmal klang in ihrer Stimme deutliche Verbitterung mit. »Nichts von irgendwelcher Bedeutung. Damals haben sie mit Überschall rumgespielt, aber das einzige, was sie jemals zustande gebracht haben, waren große Krater in der Wüste.«
»Überschall.« Maggie runzelte die Stirn. »Da war doch mal was. Generro... der Thunderbolt. Richtig?«
»Thunderflash«, verbesserte Sam. »Der verblichene und von niemandem vermißte Thunderflash - so haben ihn jedenfalls die Marketingdödel getauft. Ein von Grund auf neues Überschallkonzept: der ideale Hochgeschwindigkeitsabfangjäger. Angestrebte Höchstgeschwindigkeit Mach 4, maximale Einsatzflughöhe 63 000 Fuß, Gefechtsradius um die 650 Seemeilen.«
»Beeindruckend.«
Sam nickte. »Allerdings«, stimmte sie zu. »Es hat fünfzehn Jahre gedauert, bis ein tatsächlich einsatzfähiger Jet diese Werte erreicht hat.« Sie stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ich habe später ein Bild des Dings gesehen, ein altes Aktenfoto. Es war wunderschön, Mags. Alles an ihm war hochmodern. Es hatte sogar primitive LERX - eine Grundversion dieses Leading-Edge-Root-Extensions-Mists, den die Sowjets fast zwanzig Jahre später beim Su-27 Flanker eingesetzt haben. Einfach wunderbar. Zu schade, daß es nicht zu fliegen war.«
»Die Maschine ist nie in Dienst gestellt worden?«
Samantha schnaubte verächtlich. »Nein, nie. Sie hat meinen Dad auf dem Gewissen und anscheinend noch eine Reihe anderer guter Piloten. Laut GAs PRFlunkies wurde das Projekt zwei Jahre nach Dads Tod eingestellt. Zwei Jahre zu spät.«
Maggie nickte. Sie deutete auf Sams Glas. »Noch einen?«
»Nein, ich...« Sam unterbrach sich. Immerhin war das Glas leer. Sie hielt es ihrer Freundin hin. »Ach, zum Teufel, warum nicht?«
Maggie hebelte sich aus dem Sessel, nahm beide Gläser und verschwand in der Küche. Eine Minute später kehrte sie zurück und reichte Sam einen frischen Drink.
»Ohne Eis?«
Die ältere Frau verschraubte ihr Gesicht zu einem überzogenen Ausdruck der Verärgerung. »Wofür, zur Hölle, hältst du das hier? Für eine Bar?« Sie ließ sich in die Polster fallen, zog die Beine unter sich und hob das frischgefüllte Glas. »Klarer Himmel!«
»Sichere Landung«, antwortete Sam. Sie nippte am Bourbon und verzog das Gesicht wegen des sauren Geschmacks. »Puh. Das beißt!«
Maggie zuckte verächtlich mit der Hand. »Yeah, aber nur bei der ersten Flasche.« Ihr Lächeln verblaßte langsam, und nach ein paar Sekunden fragte sie: »Und deine Mom?«
»Ein betrunkener Autofahrer.« Sam stellte den Whiskey ab und nahm noch einen Zug von der Zigarette. Sie versuchte, einen Qualmring zu blasen, aber das Ergebnis ihrer Anstrengungen erinnerte mehr an eine Brezel. »Etwa ein Jahr nach seinem Tod.«
»Und dann bist du zum alten Jim gezogen, schätze ich?«
»Ich habe nie bei ihm gewohnt«, stellte Sam kühl fest.
Maggies graue Augen weiteten sich vor Überraschung. »Aber ich dachte...«
»Yeah. Na ja.« Samantha drückte wütend die Zigarette aus. »Das denken die meisten. Aber er war auch Pilot, oder? Und die Familie meiner Mutter, die war das Salz der Erde - Lehrer, genau wie sie. Was glaubst du, wo ich gelandet bin?«
»So einfach ist es nicht«, erklärte Maggie nach kurzer Pause. »Es gibt immer besondere Umstände. Hat Jim kein Sorgerecht beantragt?«
Sam zuckte die Schultern, so teilnahmslos, wie sie konnte. »Weiß ich nicht.«
»Hast du ihn nicht gefragt?«
»Warum sollte ich?«
Maggie zündete sich eine neue Zigarette an und blies den Rauch zur Decke. »Du bist eine kluge Frau, Sam. Viel zu klug für so eine verflucht blöde Antwort.«
Samantha blinzelte, überrascht von der Vehemenz der Zurechtweisung. »Was...?«
Die grauhaarige Frau wedelte mit der Zigarette. »Du weißt genau, was ich sage, Samantha. Himmel! Es nagt doch an dir. Warum fragst du ihn dann nicht, um Himmels willen?«
»Aber das kann ich nicht, nicht jetzt...«
»Wann dann?« Maggie ließ nicht locker. »Wann?« wiederholte sie ruhiger. »Wenn du ein Ouija-Brett dazu brauchst?« Dann seufzte sie. »Sorry, Kiddo«, sagte sie leise. »Vielleicht sollte ich nicht soviel trinken. JD macht mich aufdringlich.« Sie drückte die erst halb heruntergerauchte Zigarette im Aschenbecher aus und stand auf. »War ein langer Tag. Bis morgen früh.«
Nach zwei Schritten drehte sie sich um und hob das volle Glas vom Tisch. »Ein Schluck für die Nacht«, erklärte sie. »Schalt das Licht aus, wenn du ins Bett gehst.« Damit ließ sie Samantha mit ihren Gedanken allein.