
FÜNFUNDZWANZIG
Wir beschlossen nicht zu fliegen. Genauer gesagt, Bodhi und Messalina entschieden sich dagegen, und Buttercup und ich waren gezwungen, uns ihrem Wunsch zu fügen.
Wie sich herausstellte, konnte Messalina nicht fliegen. Und obwohl ich ihr anbot, es ihr beizubringen – ich hatte es Buttercup gezeigt, also konnte ich es jeden lehren –, erhob Bodhi Einspruch. Er meinte, wir müssten uns beeilen und hätten dafür keine Zeit mehr, also stiegen wir in einen Zug.
Ich saß schmollend am Fenster und verbrachte den Großteil der Fahrt damit, Bodhi und Messalina verstohlene Blicke zuzuwerfen. Sie steckten pausenlos ihre Köpfe zusammen, flüsterten miteinander und schenkten mir keine Aufmerksamkeit. Nach dreieinhalb Stunden auf den Schienen hielt der Zug endlich an, und ich sprang sofort auf. Ich seufzte tief und schüttelte den Kopf, als ich zur Tür ging. Diese dreieinhalb Stunden hätten mehr als ausgereicht, um jemandem das Fliegen beizubringen, davon war ich überzeugt.
Und wie sich herausstellte, hatten die dreieinhalb Stunden ausgereicht, um uns von Rom nach Venedig zu bringen.
Ja, in die Stadt der Kanäle mit ihren Palästen und Gondeln. Eine Stadt, die ich schon immer einmal hatte besuchen wollen.
Eine so wunderschöne Stadt, dass es mir beinahe den Atem verschlug, als ich versuchte, alle Eindrücke in mir aufzunehmen.
Eine so romantische Stadt, dass ich unwillkürlich ein wenig Bedauern bei dem Gedanken an den Verlust meiner eigenen Romanze empfand, auch wenn es nur ein Schwindel gewesen war.
Mitten auf dem Markusplatz blieben wir stehen und sahen zu, wie Buttercup wie ein Verrückter hinter den Tauben herjagte und sie nicht erwischte. Er bellte, knurrte, machte Luftsprünge und versuchte immer wieder vergeblich, sie zu schnappen, wobei er jedes Mal durch sie hindurchflog.
»Kann ihm jemand mal erklären, dass er tot ist?« Ich deutete mit einer Kopfbewegung auf meinen Hund. Ich wusste, dass ich mich mürrisch und griesgrämig verhielt, aber ich fand, dass ich dafür auch einen guten Grund hatte. Im Kolosseum hatte ich mich großmütig verhalten, sogar heldenhaft. Ich hatte darauf verzichtet, den bisher schwierigsten Seelenfang zu Ende zu bringen, damit Messalina den glücklichen Ausgang selbst herbeiführen konnte. Und zum Dank dafür hatte ich jetzt bei ihrem spontan geplanten Ausflug die Rolle der lästigen Dritten. Ich war nur jemand, den sie zwangsläufig auf ihrer Reise mitschleppen mussten.
»Hört mal, wenn ihr eine Fahrt mit der Gondel machen wollte, lasst euch nicht aufhalten. Buttercup und ich werden hier warten.« Ich ließ mich auf den Boden plumpsen und machte es mir bequem, fest entschlossen, das Beste aus dieser unangenehmen Situation zu machen. Allerdings konnte ich mir eine weitere Bemerkung nicht verkneifen. »Ich meine, ich habe schließlich nur Messalina bei dem Seelenfang des Jahrhunderts geholfen – dafür kann ich wohl keine Anerkennung erwarten, obwohl es meine Idee war. Meine Worte haben Theocoles wachgerüttelt, aber was soll’s? Das war keine große Sache. Ich meine, schließlich bin ich inzwischen daran gewöhnt, denn ich …«
Messalina sah mich an und legte einen Finger auf ihre Lippen. Diese Geste reichte aus, um mich zur Besinnung zu bringen.
Ich tat es schon wieder.
Ich vergrub mich in meine eigene traurige Geschichte, anstatt mich auf das zu konzentrieren, was wirklich zählte. Ich war in Venedig – das musste gefeiert werden. Ich meine, auch wenn die beiden planten, mich loszuwerden. Und wenn schon, ich hatte immer noch meinen Hund.
»Hierher, Buttercup!« Ich klopfte auf meine Knie und lachte hysterisch, als er auf mich zurannte und mich so begeistert ansprang, dass er mich umwarf. Sofort fiel Buttercup über mich her und leckte mich mit seiner schlabberigen Zunge ab. »Schon gut, schon gut!« Ich schob ihn lachend weg und setzte mich neben ihn. Doch schon nach wenigen Sekunden sprang Buttercup wieder auf, tänzelte vor mir hin und her, hob die Nase in die Luft und bellte irgendetwas hinter mir an. »Was ist los? Was hast du denn?« Obwohl ich mir beinahe den Hals verrenkte, konnte ich nichts entdecken.
»Warum sehen wir nicht nach?«, schlug Bodhi vor und bedeutete uns, ihm zu folgen. Er schlenderte durch ein Gewirr von engen Gassen und führte uns an Scharen von Touristen vorbei. Vor einem wunderschönen, alten Palast, der direkt am Wasser lag, blieb er stehen und winkte uns alle durch die Eingangstür.
Buttercup sprang voraus und lief aufgeregt bellend einige Marmortreppen hinauf, und als ich am obersten Absatz angelangt war, hörte ich es.
Das Lied war so unverwechselbar, dass ich es sofort erkannte.
Ich kannte dieses Lied sehr gut – tatsächlich war es eines meiner Lieblingslieder.
Es war ein Geburtstagslied, und sie sangen es für mich.
Ich stürmte in den Raum und sah mich freudestrahlend um. Überrascht stellte ich fest, dass sich hier alle Menschen versammelt hatten, die mir etwas bedeuteten – na ja, zumindest alle, die bereits tot waren. Ich winkte meinen Eltern und Großeltern zu, ebenso wie den Mitgliedern des großen Rats: Royce, Claude, Celia, Samson und Aurora, meine Favoritin – daraus machte ich kein Geheimnis. Auch die Cheerleaderin Jasmine, Bodhis Freundin, war da – wahrscheinlich eher wegen Bodhi als meinetwegen , aber ich fand es trotzdem nett, sie hier zu sehen. Sogar Mort, der Mann, der mir alles über das Traumland erzählt hatte, war gekommen, und neben ihm stand Balthazar, der Regisseur des Traumlands. Und als mein Blick auf Prinz Kanta fiel, den ich seit meiner Zeit auf St. John nicht mehr gesehen hatte, stieß ich einen Freudenschrei aus. Er hatte Rebecca mitgebracht, und ihr kleiner Hund Shucky spielte bereits Fangen mit Buttercup. Sogar die Radiant Boys – von denen es drei gab, wie sich herausgestellt hatte – waren erschienen, und ich stellte erfreut fest, dass sie diese schrecklichen Anzüge mit den kurzen Hosen gegen zeitgemäßere Kleidung eingetauscht hatten. Ich meine, nicht, dass mir das wirklich wichtig war – ich hatte mir abgewöhnt, Menschen nach ihrem Aussehen zu beurteilen – na ja, zumindest meistens. Ein paar Leute fehlten, wie zum Beispiel die weinende Frau und Satchel, der Junge, der Albträume erzeugt hatte, aber ich beschloss, darüber hinwegzusehen.
Stattdessen konzentrierte ich mich auf das Lied, auf die feierliche Stimmung und die Zuneigung, die mir hier entgegengebracht wurde. Und als Bodhi zu mir kam und mir einen riesigen Kuchen mit einer dicken violetten Glasur entgegenhielt, schien meine Geburtstagsfeier perfekt zu sein.
»Das Eckstück ist für dich – aber nur, wenn du alle Kerzen auf einmal ausbläst«, sagte er grinsend.
Mit einem Atemzug. Das ist viel leichter zu bewältigen, wenn man noch nicht tot ist.
Ich starrte auf das Eckstück mit dem großen Schmetterling aus Zucker an der Seite und holte tief Luft. Ich war fest entschlossen, das zu schaffen, doch dann sah ich etwas Merkwürdiges – die Kerzen veränderten sich.
Zuerst waren es dreizehn.
Dann vierzehn.
Dann fünfzehn.
Und plötzlich waren wieder nur noch dreizehn auf dem Kuchen.
Einen Moment lang waren es sogar nur zwölf.
Ich schaute Hilfe suchend zu Aurora hinüber – sie hatte auf alles eine Antwort –, und sie gab mir sofort eine Erklärung. »Die Entscheidung liegt bei dir. Welches Alter auch immer du dir aussuchst – du hast in jedem Fall unseren Segen. Wir sind sehr stolz auf dich, Riley, stolz auf die selbstlose Wahl, die du getroffen hast. Du hast dich großartig entwickelt.«
Ich schluckte und wandte meine Aufmerksamkeit wieder dem Kuchen zu, und als wieder fünfzehn Kerzen zu sehen waren, dachte ich: Los! Tu es! Dann bist du Bodhi ebenbürtig! Und dann wird er vielleicht …
Doch als ich ihn daraufhin anschaute, beschloss ich, diesen Gedanken zu verwerfen. Manche Dinge kann man nicht erzwingen – sie müssen einfach geschehen.
Nachdem ich auf die Fünfzehn verzichtet hatte, war es nicht mehr schwer, auch die Vierzehn außer Acht zu lassen.
Das hatte ich bereits erlebt. Und ich war mir absolut sicher, dass es einen enorm großen Unterschied gab, ob man so aussah, als wäre man in einem bestimmten Alter, oder ob man sich auch so fühlte.
Ich war noch nicht bereit für diesen großen Augenblick. Noch nicht einmal annähernd.
Ich dachte daran, was Ever mir bei unserem Treffen im Traumland gesagt hatte – dass ich Glück hatte, nicht zu etwas gezwungen zu werden, bevor ich dazu bereit war. Und dass ich ein Teenager werden würde, wenn die Zeit reif dafür wäre, keinen Moment eher. Und ich hatte keine Zweifel daran, dass meine Schwester Recht hatte.
Ich hatte so lange darauf gewartet, dreizehn zu werden, und konnte es kaum fassen, dass dieser Moment endlich gekommen war.
Aber ich hatte in der Zeit seit meinem Tod auch so viel erlebt, dass ich mir nicht mehr sicher war, ob das noch passte.
Die Kerzen flackerten vor meinem Gesicht – sie wurden ständig mehr und wieder weniger.
Und als meine Zahl schließlich erschien, schloss ich die Augen, holte tief Luft und blies so fest ich konnte.
Und ich erinnerte mich daran, dass ich mir etwas wünschen durfte – man muss sich immer etwas wünschen.
Als ich meine Augen wieder öffnete und an mir herunterschaute, sah ich, dass einer meiner Wünsche wahr geworden war.
Ich war nicht dreizehn, sondern dreizehneinhalb – vielen Dank!
Das war ein Alter, mit dem ich zufrieden war. Ein Alter, das ich mir verdient hatte und in dem ich tatsächlich angekommen war.
Und obwohl meine Figur ganz und gar nicht so eindrucksvoll war wie in Rom, war ich auch nicht mehr so dürr wie eine Bohnenstange.
»Falls du dir das Eckstück gewünscht hast, ist dein Wunsch in Erfüllung gegangen«, meinte Bodhi. Er stellte den Kuchen auf den Tisch und schnitt mir ein großes Stück ab.
»Das wüsstest du wohl gern.« Ich sah ihn an und verdrehte die Augen, aber anstatt uns wie sonst zu zanken, brachen wir beide in Gelächter aus.
Bodhi reichte mir das Stück Kuchen, und ich wollte mich gerade daraufstürzen, als mir einfiel, dass ich nicht die Einzige war, die einen Geburtstag feiern sollte. Also schloss ich meine Augen, manifestierte einen wunderschönen Minikuchen mit einem pinkfarbenen Sahnehäubchen und kleinen Zuckerstreuseln, die wie Diamanten funkelten, und wandte mich an die versammelten Geburtstagsgäste. »Würde es euch etwas ausmachen, noch einmal Happy Birthday zu singen? Dieses Mal singt es bitte für meine Freundin Messalina. Sie hatte noch nie eine Geburtstagsparty, und das ist schon längst überfällig.«