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ZWEI

Als ich im Ludus landete, nahm ich als Erstes den Lärm wahr. Es war laut hier. Wahnsinnig, nervtötend, ohrenbetäubend laut. Ich konnte nicht feststellen, welcher Welt dieser Krach zuzuordnen war – der irdischen, der überirdischen oder beiden.

Und dann bemerkte ich den Gestank. Nur weil ich tot war – nur weil ich nicht mehr atmete –, hieß das nicht, dass ich nichts mehr riechen konnte. Und dieser spezielle Gestank war grässlich – unerträglich, abstoßend und auf die schlimmste Art und Weise Ekel erregend. So, als hätten sich die übelsten Gerüche des Universums vermengt und wären genau an die Stelle geströmt, an der ich stand.

Ich ging weiter und hoffte, ein ruhiges Plätzchen zu finden, an dem es ein wenig besser roch. Meine Schuhe versanken teilweise im Schlamm oder rutschten über große Grasflecken, die noch nass vom Morgentau waren. Ich versuchte, einen besseren Überblick über die Ruine zu bekommen, die ich vorher von oben betrachtet hatte, aber ich sah nur durchweichte Erde, zerbröckelte Mauern und … tja … das war’s. Keine Menschen, keine Geister, keine wilden Tiere – weder tot noch lebendig – und kein erkennbarer Grund für diesen schrecklichen, fauligen Gestank.

Ich schaute zurück zu Bodhi und rechnete beinahe damit, ihn und Buttercup an einem Tisch sitzen zu sehen, wo sie ein ausgesuchtes Fünf-Gänge-Menü genossen und mich bereits total vergessen hatten. Erleichtert sah ich, dass Bodhi immer noch auf der Brüstung balancierte, wo ich ihn zurückgelassen hatte. Er winkte mir lächelnd zu und feuerte mich mit einer telepathischen Nachricht an, die rasch meine Gedanken erreichte.

Mach dir keine Sorgen. Der beruhigende Klang seiner Stimme berührte mich tief in meinem Inneren. Du schaffst das. Stell dir selbst die folgende Frage: Was ist es, was alle Geister gemein haben?

Ich hielt inne, steckte meine Daumen durch die Laschen am Bund meiner Jeans und dachte eine Weile angestrengt nach. Mit einem Lächeln antwortete ich ihm: Einen grauenhaften Modegeschmack? Ich dachte dabei an die furchtbaren Klamotten, die einige Geister trugen, obwohl sie sich problemlos jederzeit etwas anderes manifestieren könnten.

Bodhi lachte. Ich hatte gehofft, dass er so reagieren würde. Das nahm den Druck von mir und half mir dabei, mich zu entspannen. Ja, das mag stimmen, erwiderte er. Aber was beweist dieser mangelnde Sinn für Mode?

Ich brauchte nur eine knappe Sekunde, und ich befürchtete, dass meine Antwort in Bodhis Kopf wie ein Aufschrei ankam: Es zeigt, dass sie feststecken! Es beweist, dass sie in der Zeit festhängen, in der sie gestorben sind, und sich weigern, weiterzugehen!

Genau ☺, bestätigte er und fügte einen Smiley hinzu  – ein telepathisches Emoticon, das mir ein Lächeln entlockte. Sie stecken fest, und Theocoles ist keine Ausnahme. Er nimmt den Ludus nicht auf die gleiche Weise wahr wie du. Bisher hast du nur an der Oberfläche gekratzt. Du musst viel weiter in die Tiefe gehen, um zu sehen, was er sieht. Du musst alles so wahrnehmen, wie es früher einmal war. Leider sind meine Ratschläge damit erschöpft. Es ist mir nicht erlaubt, dir zu verraten, wie du das anstellen kannst.

Ich runzelte die Stirn und fragte mich, ob der große Rat ihm untersagt hatte, mir zu helfen, oder ob das auf seinem eigenen Mist gewachsen war. Bodhi hielt nicht viel davon, mir die Tricks für den Seelenfang zu verraten oder mir andere hilfreiche Hinweise oder Ratschläge zu geben, die mir tatsächlich bei meinem Job helfen könnten. Alles, was ich bisher gelernt hatte, war auf praktische Erfahrung zurückzuführen. Ich war auf mich allein gestellt gewesen, hatte einiges ausprobiert und dafür Lehrgeld zahlen müssen. Er hatte mir zwar immer noch nichts gesagt, was ich nicht bereits wüsste, aber er hatte das Wissen, das ich mir angeeignet hatte, untermauert – und vielleicht war das genau das, was ein guter Führer tun musste.

Ich erstarrte, als ich mir diesen Gedanken noch einmal durch den Kopf gehen ließ.

Ich hatte Bodhi als guten Führer bezeichnet.

Eigentlich hatte ich seit dem Moment, in dem wir uns zum ersten Mal begegnet waren, darauf gehofft, dass er durch einen anderen Lehrmeister ersetzt würde. Wir schienen uns nie einig zu sein und uns ständig nur zu streiten – nur wenn wir bereits knietief in Problemen steckten und keine andere Möglichkeit mehr sahen, rauften wir uns zusammen und zogen gemeinsam an einem Strang.

Deshalb konnte ich meinen plötzlichen Gesinnungswandel kaum fassen. Woher kam das? Und wann hatte ich aufgehört, ihn als meinen Feind Nummer eins zu betrachten?

Und dann fiel es mir ein. Ich erinnerte mich an den Tag, an dem ich ihn mit seiner neuen Freundin Jasmine gesehen hatte. Und ich dachte daran, wie merkwürdig ich mich gefühlt hatte, als ich ihn dabei beobachtete, wie er ihr aus einem Gedichtband vorlas, wie er einen Moment lang innehielt, um eine Blume zu manifestieren – eine Jasminblüte für Jasmine –, und sie ihr sanft in einen ihrer Zöpfe steckte.

Ich schüttelte den Kopf, um die Erinnerung daran loszuwerden. Ich musste mit einem großen, bösen Geist fertigwerden, einem Gladiator. Und meine Zeit damit zu verschwenden, über meine Beziehung zu Bodhi nachzudenken, würde daran nichts ändern. Also konzentrierte ich mich wieder auf den Ludus. Ich wusste jetzt, dass ich einen Weg finden musste, ihn auf die gleiche Art zu sehen, wie Theocoles es tat, wenn ich ihn finden wollte. Leider hatte ich keine Ahnung, wie diese alten Mauern zu seiner Zeit ausgesehen haben mochten. Ich war schon lange gestorben, bevor in meinem Geschichtsunterricht das Römische Reich auf dem Stundenplan gestanden hatte.

Ich ging weiter und versuchte, die Umgebung so zu sehen, wie sie einmal gewesen war. Ich manifestierte ein Dach und ersetzte die Unkrautfelder durch trockene Erde – aber das war das Einzige, was mir dazu einfiel. Ich meine, ich muss leider darauf hinweisen, dass ich im 21. Jahrhundert gestorben bin – ich war ein Kind des neuen Milleniums und eindeutig ein Mitglied der Generation, die sich vor allem in Einkaufszentren auskennt. Eine alte Gladiatorenschule nachzubilden war eine Nummer zu groß für mich.

Ich biss die Zähne zusammen, schob mir meinen fransigen Pony aus dem Gesicht und versuchte es mit aller Kraft noch einmal. Als ich eine kleine Ansammlung von Steinen entdeckte, die im Mondlicht wie Knochen schimmerten, bückte ich mich, um sie mir genauer anzuschauen. Ich ließ meine Finger über die tiefen Sprünge und Risse gleiten, schloss meine Augen und dachte: Was habe ich übersehen? Bitte zeigt es mir – zeigt mir alles, was es hier zu sehen gibt! Und als ich meine Augen wieder öffnete und mich umsah, schnappte ich überrascht nach Luft.

Das Universum hatte mir meinen Wunsch erfüllt.

Aber anstatt Theocoles von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen, sah ich mich von Hunderten wütenden, rasenden Gladiatorengeistern umgeben.