
ZEHN
Obwohl ich die gleiche Treppe nahm wie vorher, erreichte ich nicht den Ort, den ich erwartet hatte.
Nicht einmal annähernd.
Anstatt auf der glamourösen Party, die ich verlassen hatte, befand ich mich plötzlich im Freien. Ich blinzelte in die grelle Sonne und stellte fest, dass ich von Hunderten, nein, Tausenden Römern in Togen umgeben war, die drängelten und schubsten, um einen Sitzplatz zu ergattern.
»Aurelia!« Eine vertraute Stimme erklang hinter mir, als ich mich verwirrt umschaute. »Aurelia, was machst du hier bei dem Pöbel?«
Messalina stand vor mir. Sie lächelte mich strahlend an, und ihre rosigen Wangen passten farblich zu dem wunderschönen neuen Kleid, das sie trug.
»Wenn du dich ausreichend mit den niedrigen Ständen vertraut gemacht hast, sollten wir uns vielleicht in die Loge meines Onkels begeben. Dort herrscht kein Gedränge, es gibt reichlich zu essen und zu trinken und, was bei dieser Hitze noch wichtiger ist, wir haben dort Schatten!« Sie verdrehte lachend die Augen, zog einen gold- und pinkfarbenen Fächer aus den Falten ihres Kleids und fächelte mir unterhalb des Kinns damit Kühlung zu. »Oh, und vielleicht interessiert es dich, dass Dacian unbedingt erfahren wollte, ob er mit deinem Erscheinen rechnen darf. Er befürchtete, dich nie wiederzusehen. Wie ich gehört habe, hast du ihn geneckt und die Unnahbare gespielt.« Sie warf mir einen listigen Blick zu, bevor sie fortfuhr. »Der arme Junge befindet sich wirklich in einem bedauernswerten Zustand. Er hat einfach keine Ruhe gegeben und mich immer wieder gefragt, ob du kommen würdest. Ich muss zugeben, dass es ein großes Vergnügen war, den armen Kerl so leiden zu sehen, aber natürlich werde ich nicht zu viel ausplaudern.« Sie hob den Fächer vor ihr Gesicht, so dass nur noch ihre Augen zu sehen waren. »Anscheinend ist er ganz hingerissen von dir. Und nun stellt sich die Frage, wie du darauf reagieren wirst. Hat es dich ebenfalls erwischt? Komm schon, Aurelia, mir kannst du es doch sagen – empfindest du ebenso wie er?«
Sie sah mich gespannt an. Ihre Augen glänzten, während sie auf eine Antwort wartete, die ich ihr jedoch nicht gab. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt, herauszufinden, was gerade passiert war – wie aus der Nacht so schnell Tag geworden war, und wie ich, ohne es gemerkt zu haben, in das Kolosseum gelangt war.
Messalina schien mein Schweigen nicht zu stören. Sie lächelte immer noch strahlend, bot mir ihren Arm an und bedeutete mir, neben ihr herzugehen.
Ihr Lächeln verschwand auch nicht von ihrem Gesicht, als ich ihr endlich eine Antwort gab. »Nein.« Ich verschränkte die Arme vor der Brust und schüttelte zur Bekräftigung meinen Kopf so heftig, dass mir die blonden Locken über die Wangen fielen. »Ich muss Theocoles finden, das weißt du doch.« Ich starrte sie herausfordernd an und bemerkte, dass ihre Augenbrauen weit nach oben schossen und ihre Lippen zuckten.
»Natürlich wirst du Theocoles sehen«, sagte sie leichthin, aber ihr Tonfall klang gezwungen. Sie musterte mich langsam von oben bis unten, als wollte sie eine gründliche Bestandsaufnahme vornehmen. »Sei nicht dumm, Aurelia – er ist hier die Hauptattraktion, richtig?« Sie schnalzte leicht mit der Zunge. »Wir werden ihn heute selbstverständlich alle sehen. Schließlich ist er der Grund, warum wir hier sind. Allerdings befürchte ich, dass du noch ein wenig warten musst. Er steht erst für einen späteren Kampf auf dem Plan. Und nun komm, genug von dem Unsinn.« Sie streckte ihre Hand aus und winkte mich zu sich heran. »Warum kommst du nicht einfach mit mir?« Da ich ihrer Aufforderung nicht folgte und mich überhaupt nicht rührte, beugte sie sich zu mir vor und senkte ihre Stimme zu einem Flüstern. »Oh, du hast Recht. Bevor wir gehen, müssen wir uns um dein Kleid kümmern. Du möchtest dich sicher ein wenig frischmachen, richtig? Schließlich ist Dacian so aufgeregt, und wir wollen ihn doch nicht enttäuschen, oder?«
Ich schaute an mir herunter und stellte fest, dass mein Kleid tatsächlich leicht verknittert und ein wenig staubig war, aber es sah bei Weitem nicht so schlimm aus, wie sie zu glauben schien. Aber als ich protestieren und ihr sagen wollte, dass ich ihr nirgendwohin folgen würde, solange sie mir nicht ein paar Dinge erklärt hatte, sah sie mich mit ihren warmen Augen an, legte eine kühle Hand auf meine Stirn und fuhr leicht über meine Augenbrauen. Und plötzlich war ich mit allem einverstanden. Mit dem Kleid, dem Schmuck und der luxuriösen Loge ihres Onkels, die, wie Messalina sagte, der beste, wichtigste, bequemste und begehrteste Platz war, um die Spiele zu verfolgen.
»Du solltest dich sehr glücklich schätzen, dort sitzen zu dürfen«, erklärte sie.
Und tatsächlich empfand ich es als Glücksfall. Ich hatte großes, großes Glück, und das nicht nur in einer Hinsicht. Alles, was mir bisher in meinem Leben nach dem Tod gefehlt hatte, war plötzlich in greifbare Nähe gerückt.
Ich hatte mich nach einer guten Freundin gesehnt, nach einer Freundin, der ich so nahestand wie einer Schwester – und in Messalina hatte ich diese Freundin gefunden.
Ich hatte mich nach ein wenig Spaß und Romantik gesehnt, und dank Messalina hatte ich Dacian kennen gelernt.
Ich hatte großes, großes Glück. Mein Leben war wundervoll. Und das hatte ich alles ihr zu verdanken.
Sobald wir die Loge betreten hatten, ließ Messalina meinen Arm los und blieb hinter mir. Sie beobachtete mit einem amüsierten Lächeln, wie Dacian auf mich zustürmte und das Ritual des Verbeugens und des Handküssens wiederholte, bevor er mich zu dem Platz neben seinem führte. Ich gab vor, ihm aufmerksam zuzuhören, während er mir das Tagesprogramm erklärte.
Es wurden Kämpfe mit wilden Tieren vorbereitet, eine Gruppe von Gefangenen würde hingerichtet werden und so weiter und so fort. Er redete unaufhörlich weiter, ohne zu bemerken, dass mich das alles kaum interessierte. Ich war in eine Welt versunken, in der nur zählte, wie großartig ich in meinem neuen lavendelfarbenen Kleid aussah – und wie unbeschreiblich gut ich mich fühlte, wenn Dacian mir in die Augen schaute.
»Und wenn das alles vorüber ist, wird es Zeit für den großen Theocoles, der seinen Titel als Säule der Verdammnis verteidigen wird. Wie ich gestern Abend schon gesagt habe, könnte das sein letzter Kampf sein. Wahrscheinlich ist das Kolosseum deshalb bis auf den letzten Platz gefüllt. Er ist eine Attraktion und zieht viele Zuschauer an. Viele der Besucher haben schon ihre Wetten auf ihn abgeschlossen, und ich muss zugeben, dass auch ich zu ihnen gehöre. Tatsächlich …«
Seine Worte klangen nur noch gedämpft an meine Ohren, übertönt von dem Namen, der mir immer wieder durch den Kopf ging: Theocoles.
Warum war dieser Name so wichtig?
Warum kümmerte mich das Schicksal eines versklavten Gladiators, der vielleicht heute seinen letzten Tag erlebte?
Ich lehnte mich in meinem Sitz zurück und dachte verwirrt darüber nach, warum dieser Name mich so sehr beschäftigte.
»Hast du gesagt, es sei sein … letzter Kampf?« Ich wandte mich Dacian zu. Irgendetwas tief in meinem Inneren, ein vages Gefühl, drängte mich dazu, ihn das zu fragen.
Dacian nickte. »Für Theocoles steht nicht nur sein Leben auf dem Spiel. Gleichgültig, wie der Kampf ausgehen wird, es verspricht ein wahres Spektakel zu werden.« Er senkte verschwörerisch die Stimme, offensichtlich aufgeregt, dass er mir das als Erster erzählen konnte. »Er hat hier sehr viele Anhänger, wie du schon bald sehen wirst. Und das nicht nur, weil die Einsätze sehr hoch sind, sondern weil er es versteht, den Leuten eine richtige Schau zu bieten. Er hat sehr schnell gelernt, wie er das Publikum für sich gewinnen kann. Theocoles hat rasch begriffen, dass für einen Gladiator nicht nur Geschick mit dem Schwert und der Wille zum Sieg zählen, wenn er überleben will, sondern dass er auch dafür sorgen muss, dass sich das Publikum unterhalten fühlt. Es genügt nicht, seinen Gegner zu töten – daran sieht sich das Publikum schnell satt. Gemetzel und Blut, immer wieder …« Er setzte eine gelangweilte Miene auf. »Wenn die vielen übel zugerichteten Tierkadaver aus der Arena gezogen werden, haben die Zuschauer bereits ein stundenlanges Blutbad gesehen, und nach einer Weile geht ein grausiger Kampf in den nächsten über. Ein wahrer Gladiator, ein Champion wie Theocoles ist sich dieser Tatsache bewusst. Daher inszenieren Meistergladiatoren ihre Kämpfe und üben sie miteinander auf eine Weise ein, die größtmögliche Unterhaltung bietet und die Aufmerksamkeit des Publikums fesselt.«
Ich hing an seinen Lippen, ließ mir kein Wort entgehen und speicherte alles in meinem Gedächtnis ab. Als Dacian meinen angestrengten Blick bemerkte, schüttelte er in gespieltem Entsetzen den Kopf. »Oh, nein. Mir wird klar, dass ich zu viel verraten habe. Am Glanz deiner Augen sehe ich, wie sehr dich das begeistert, und nun ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis ich gezwungen bin, mich selbst in die Arena zu stürzen, um deine Zuneigung zu gewinnen!«
Er lachte bei diesen Worten, aber sein Scherz kam bei mir nicht gut an. Aus einem unerfindlichen Grund nahm ich seine Worte ernst. »Was? Nein!« Ich schüttelte den Kopf. Damit hatte er mich auf dem falschen Fuß erwischt. »Bitte, das darfst du nicht meinetwegen tun«, stammelte ich. Es war mir peinlich, aber ich konnte die Worte nicht zurückhalten.
»Was soll er deinetwegen nicht tun?« Messalina tauchte hinter mir auf. Ihre Bewegungen waren geschmeidig wie die einer Katze, und sie lächelte mich merkwürdig an, als sie sich über die Rückenlehne meines Stuhls beugte. Ich fragte mich unwillkürlich, wie lange sie uns schon belauscht hatte.
»Ich habe offensichtlich den Fehler begangen, Aurelia zu viel über die Spiele zu verraten. Jetzt ist sie ganz versessen darauf. Der legendäre Theocoles ist noch nicht einmal in der Arena erschienen und hat schon ihr Herz erobert.«
»Oh, die Säule der Verdammnis.« Messalina lachte, aber ihre Augen wirkten glanzlos.
»Hast du gesagt, er würde vielleicht freigelassen?« Ich beugte mich zu Dacian vor. »Hat das etwas mit Lucius zu tun?«
Dacian wirkte verblüfft, aber er konnte kaum so verwirrt sein wie ich. Woher war dieser Name aufgetaucht? Worüber sprach ich eigentlich?
Langsam setzte meine Erinnerung wieder ein, und ich dachte an ein Bruchstück der Unterhaltung zwischen Messalina und Theocoles in dessen Zelle, bei der dieser Name gefallen war. Doch in diesem Moment tippte Messalina leicht auf meine Schulter. »Falls Theocoles heute zum Sieger gekrönt wird, wird sein Preisgeld ausreichen, um Lucius’ Spielschulden zu begleichen. Dann wäre Lucius wieder auf freiem Fuß. Im Augenblick schuftet er im Steinbruch – ein wahrhaft schreckliches Schicksal.« Sie rieb ihre Arme und schauderte leicht, ohne ihren Blick von mir abzuwenden. »Damit wäre auch der Vertrag erfüllt, den Theocoles mit meinem Onkel abgeschlossen hat, und das würde ihn ebenfalls zu einem freien Mann machen. Für beide ist es in der Tat ein sehr wichtiger Tag.«
»Heißt das, Theocoles hat sich freiwillig gemeldet?« Ich starrte Messalina an. Allmählich begann ich, alles zu begreifen. »Und deshalb hast du …«
»Deshalb habe ich was?« Als sich unsere Blicke trafen, war ich mir plötzlich nicht mehr sicher. Was vor einer Sekunde noch glasklar gewesen war, löste sich im Nu wieder in Nichts auf.
Dacians Stimme durchdrang meine vagen Gedanken. »Sein Bruder hat sich ein wenig übernommen.« Er verzog verächtlich das Gesicht und ließ keinen Zweifel daran, was er davon hielt.
Ich stand zwischen den beiden und spürte, wie Messalina sich bei seinen Worten versteifte. Irgendetwas tief in meinem Inneren stieß mich an, stupste mich und versuchte, meine Aufmerksamkeit zu erregen, aber meine Gedanken waren vernebelt. Ich ließ meine Hände über die tiefen Falten meines lavendelfarbenen Kleids gleiten und verlor mich darin, es zu bewundern.
»Theocoles ist ein ehrenvoller, mutiger Mann«, erklärte Messalina, und die Schärfe in ihrer Stimme war nicht zu überhören. »Sein Bruder Lucius bedeutet ihm sehr viel, und was Theocoles für ihn getan und geleistet hat, zeugt von großem Mut. Und ich bin der Ansicht, dass er dafür höchstes Lob verdient hat. Ganz gleich, wie dieser Tag endet, er darf niemals in Vergessenheit geraten, denn das käme einem Verbrechen gleich.«
»Nun gut, wenn er überlebt, werde ich der Erste sein, der ihn gebührend lobt«, erwiderte Dacian, ohne auf Messalinas Ton zu achten oder auf das Entsetzen, das sich bei seinen Worten auf ihrer Miene abzeichnete. »Und wenn nicht …« Er grinste, ließ seinen Blick zwischen uns hin und her schweifen.
»Nun, das bleibt abzuwarten, nicht wahr?« Messalinas Bemerkung entlockte Dacian ein sarkastisches Lachen, und ich schwieg dazu.
Ich war weg.
Verschwunden in einem Nebel, den ich nicht durchdringen konnte.
Ich hatte das Gefühl, in zwei verschiedene Richtungen gezerrt so werden, so als wäre ich in ein unsichtbares, heftiges Tauziehen geraten, ohne zu wissen, wer an den Seilenden zog und welche Seite ich unterstützen sollte.
»Aurelia? Alles in Ordnung?« Messalina beugte sich besorgt über mich.
Aurelia. Das war ich. So wurde ich von allen genannt.
Oder etwa nicht? Ich war mir plötzlich nicht mehr sicher.
Messalina legte einen Finger unter mein Kinn und hob mein Gesicht an, so dass sie mir direkt in die Augen schauen konnte. Sie zupfte mein Haar zurecht und steckte eine lose Haarsträhne fest, bevor sie mir mit einem kühlen Finger über die Augenbrauen strich. Bei ihrer Berührung hob sich sofort der Nebel, die Sonne brach durch die Wolken, und ich konnte alles wieder klar sehen.
»Alles in Ordnung?«, wiederholte sie und betrachtete mich prüfend.
Ich schaute mich in der riesigen Arena um und ließ meinen Blick über die Zehntausende jubelnder Zuschauer wandern, überzeugt davon, dass jeder einzelne von ihnen alles dafür geben würde, seinen Platz mit mir zu tauschen. Überzeugt davon, dass sie sich alle danach sehnten, hier zu sitzen, umgeben von Luxus und Komfort, Bergen von Essen und einem unbegrenzten Vorrat an Getränken, in der Gesellschaft reicher und einflussreicher römischer Aristokraten – ganz zu schweigen von dem unglaublich süßen Jungen, der direkt neben mir saß.
Ich wandte mich wieder Messalina zu, und in meiner Stimme lag tiefe Dankbarkeit. »Alles ist großartig. Einfach perfekt. Und das verdanke ich dir.«