SIEBEN
Ich weiß, es klingt eingebildet. Und selbstverliebt und ziemlich unmöglich. Aber ich konnte einfach nicht anders – ich konnte nicht aufhören, mich selbst anzustarren.
Ich nutzte jede spiegelnde Fläche, an der ich vorbeiging, mich mit offenem Mund zu bestaunen und meinem neuen strahlenden Ich ganz unverhohlen verliebte Blicke zuzuwerfen.
»Du siehst sehr hübsch aus, glaub mir«, flüsterte Messalina mir zu. Ihre Stimme klang nicht ungehalten, sondern vielmehr belustigt. Sie legte mir eine Hand fest auf den Rücken und schob mich durch einen sehr großen Raum. »Das ist sicher aufregend für dich, richtig?«
Ein Bediensteter kam mit einer langen Servierplatte aus Silber auf uns zu, die sofort meine Aufmerksamkeit erregte. Die aufgehäuften Früchte in der Mitte interessierten mich nicht, sondern ich schaute auf die Kanten, die mein Spiegelbild zurückwarfen, zwar unvollständig und verzerrt, aber schöner anzusehen als je zuvor.
»Also, wo sind wir hier?«, fragte ich, nachdem der Diener weitergegangen war. Es wurde Zeit, dass ich mich wieder beruhigte und mich auf meine vor mir liegende Aufgabe konzentrierte. Aber bei all der Spannung, die in der Luft lag, und bei der Pracht, die mich umgab, fiel mir das zunehmend schwerer.
Ich konnte mich gar nicht schnell genug umschauen, um so viel Extravaganz, so viel Üppigkeit und Fülle und all den Glanz und Glamour aufzunehmen.
Jede Oberfläche schimmerte. Jeder Tisch bog sich unter Bergen von Süßspeisen und Leckereien und aufgetürmten Delikatessen, die von einer Parade von Dienern ständig nachgefüllt wurden. Überall in dem Saal befanden sich Springbrunnen mit Blütenblättern, und die Böden waren mit kunstvollen Mosaikbildern verziert, aber trotz der prächtigen Ausstattung galt meine Aufmerksamkeit in erster Linie den anderen Gästen.
Die Frauen trugen wunderschöne Kleider aus Satin und Seide und funkelnde, beinahe faustgroße Schmuckstücke. Und die Männer standen ihnen in nichts nach. Ihre kunstvoll gefertigten Tuniken waren am Halsausschnitt und am Saum mit glitzernden Borten verziert, und um den Hals hatten sie sich schwere Goldketten geschlungen.
An diese Art von Leben konnte man sich mühelos gewöhnen – und sich leicht darin verlieren. Selbst nach der kurzen Zeit, die ich hier verbracht hatte, konnte ich bereits verstehen, warum einige der anderen Seelenfänger sich zum Bleiben entschieden hatten. Es war das Gegenteil von der Welt, in die ich zuerst gestolpert war – so unterschiedlich zu dem Ludus wie es nur sein konnte.
»Morgen beginnen die Spiele.« Messalina ließ ihren Blick über die ausgesuchte Gästeschar gleiten, bevor sie sich wieder mir zuwandte. »Und obwohl die Spiele den besten Teil der Festivitäten darstellen, ist das hier eine Art … Feier zum Auftakt.« Sie schenkte mir ein Lächeln, das sich jedoch nicht in ihren Augen widerspiegelte. »Ein Fest, um den Beginn der Spiele zu feiern.«
Die Spiele, richtig. Gladiatoren. Theocoles. Der eigentliche Grund, warum du hier bist. Lass dich nicht ablenken! Meine Güte, Riley!
»Die Party findet also im Rahmen der Spiele statt?«, fragte ich. Mir war klar, dass das eine unnötige Wiederholung war, aber ich war entschlossen, zum eigentlichen Thema zurückzukommen.
»Richtig.« Sie nickte. »Diese Spiele werden veranstaltet, um den toten Kaiser zu ehren. Es handelt sich wie bei den meisten Spielen um Leichenspiele, mit denen man machtvollen Männern, deren Zeit gekommen ist, Ehre erbringen will. Je länger die Spiele andauern, umso wichtiger ist dieser Mann – so ist es zumindest gedacht. Und glaub mir, diese speziellen Spiele werden das größte, sensationellste Spektakel aller Zeiten bieten. Es wurden keine Kosten und Mühen gescheut, wie du sehen wirst.« Sie ließ ihren Blick durch den Raum schweifen, als suchte sie jemanden. »Hunderte Gladiatoren werden gegeneinander antreten, und Tausende wilde Tiere wurden von weit entfernten Ländern wie Afrika hierher gebracht, um daran teilzunehmen.«
Es fiel mir schwer, mir ein solches Unterfangen vorzustellen. Schließlich durfte ich nicht vergessen, dass ich mich in einer Zeit befand, in der es noch keine Autos, keine Flugzeuge, keine Straßenbahnen und Züge gegeben hatte. Eine solche Reise schien eigentlich unmöglich zu sein.
»Sie wurden auf einer Reihe von Booten und Flößen transportiert und dann auf Pferdewagen verladen, nur um hier einen spektakulären Tod zu sterben – vor einer blutrünstigen Menge, die sich mit nichts anderem zufriedengibt.« Sie seufzte. »Und auch die Gladiatoren werden auf ähnliche Weise sterben. Einige von ihnen haben diese Reise zusammen mit den Tieren gemacht.«
»Das klingt schrecklich.« Meine Stimme hörte sich plötzlich sehr ernst an, denn meine Begeisterung über mein neues, herrliches Ich war verflogen.
»Das ist es auch.« Sie nickte. »Und ich muss zugeben, dass ich früher nicht besser war als der Rest.« Sie deutete auf die glanzvolle Menge. »Panem et circenses.« Sie sprach die Wörter so mühelos und wunderbar melodisch aus, wie es mir nie gelingen würde. »Das bedeutet übersetzt Brot und Zirkusspiele. Das Brot wird der Menge während der Spiele zugeworfen, damit diese ihren Hunger stillen kann. ›Beschwichtigt die unteren Schichten mit Brot und Spielen, und sie werden Wachs in euren Händen sein‹ – so oder so ähnlich hieß es damals. Aber fass das nicht falsch auf – die oberen Stände waren davon ebenso gefesselt. Auch ich habe früher einmal die Spiele und alle diese schrecklichen Tode als die höchste Form der Unterhaltung betrachtet. Doch dann hat mich eines Tages einer dieser Todesfälle persönlich stark berührt, und von diesem Moment an hat sich alles für mich geändert …«
Gespannt lauschte ich ihren Worten. Mir war klar, dass sie mir soeben etwas sehr Persönliches anvertraut hatte, und ich fragte mich, ob sie mir diesen Hinweis ganz bewusst gegeben hatte. Bei ihr schien alles genau geplant zu sein – es gab nichts Unbesonnenes in ihrem Verhalten.
Spielte sie auf Theocoles an? Ich hatte beobachtet, auf welche Weise sie ihn von der Balustrade aus angesehen hatte. Es war eindeutig, dass sie ihn kannte. Aber woher? Hatten sie sich nahegestanden? Das schien durchaus möglich. Sie stammten zwar aus zwei unterschiedlichen Welten, aber verschiedene Welten überlappten sich manchmal.
»Waren nicht alle Gladiatoren Sklaven?«, fragte ich sie möglichst beiläufig. Ich befürchtete, sie würde sich sofort verschließen, wenn sie das Gefühl hatte, dass ich zu neugierig wurde. Sie hatte einen Plan – da war ich mir sicher –, und sie befolgte ihn ebenso konsequent, wie sie ihre eigene Welt kontrollierte.
»Ja«, erwiderte sie. »Die meisten waren Sklaven, aber davon solltest du dich nicht täuschen lassen. Sie gehörten zu den stärksten, mutigsten und leidenschaftlichsten Männern überhaupt. Mein Onkel hatte ein gutes Auge dafür. Andere Besitzer von Gladiatorenschulen beobachteten ihn bei Sklavenauktionen sehr aufmerksam und versuchten ständig, ihn zu überbieten, aber das gelang ihnen nur sehr selten. Mein Onkel besaß viel Geld und außerdem eine Art zweites Gesicht – ein Gespür für solche Dinge. Eigentlich ein Geschenk, wenn man das so nennen kann.« Sie tat das mit einer wegwerfenden Handbewegung ab, und der glänzende Ring an ihrem Finger fing dabei das Licht einer Fackel ein und reflektierte es. »Allerdings waren sie nicht alle von Anfang an Sklaven. Das mag dir vielleicht merkwürdig vorkommen, aber es gab darunter auch einige, die sich freiwillig meldeten und einen Vertrag mit meinem Onkel unterzeichneten. Sie waren begierig darauf, ihre Zeit und Talente gegen mögliche Gewinne und Ruhm einzutauschen. Gladiatoren besaßen einen besonderen Status – sie wurden respektiert und gefürchtet zugleich. Du musst dir vorstellen, dass im Kolosseum Platz für fünfzigtausend Menschen war und es meistens bis auf den letzten Platz besetzt war. Ich glaube, man könnte sagen, dass sie die Rockstars ihrer Zeit waren – sie beherrschten die Arena wie Götter. Junge Männer, die ein behütetes Leben führten und aristokratischer Herkunft waren, ahmten ihre Bewegungen nach, und unzählige Frauen schwärmten für sie – sie zeigten ihre Zuneigung, indem sie sich kleine Schwerter mit blutigen Spitzen ins Haar steckten.«
Sie schaute zur Seite, und ihr Gesicht nahm einen Ausdruck an, den ich nicht deuten konnte, und obwohl ich jedes ihrer Worte gehört hatte, gab es einen bestimmten Teil, den ich nicht so recht verstand.
»Du meinst das wirklich ernst? Es gab tatsächlich Menschen, die freiwillig in der Arena kämpfen wollten und es riskierten, dabei einen grausigen, gewaltsamen Tod zu sterben?« Ich riss die Augen auf. Das konnte ich mir einfach nicht vorstellen. Ich wusste noch nicht viel, aber ich war davon überzeugt, dass die Arena ein brutaler und Furcht erregender Ort gewesen war.
»Dafür gab es viele Gründe.« Messalinas Stimme klang plötzlich unwirsch und ungeduldig. »Und ich sollte erwähnen, dass einige komplizierter waren als andere.«
Ich wollte gerade vorsichtig nachfragen, um mehr darüber zu erfahren, als sie mit einer Hand durch die Luft fuhr und mich freundlich anlächelte. »Nun sag mir, wie gefällt dir diese Party?«
Ich sah mich in dem Raum um und wusste nicht, was ich ihr antworten sollte. Plötzlich schämte ich mich für meine erste Reaktion, für meine Aufregung und Begeisterung, dabei sein zu können, und sah meine Umgebung mit anderen Augen als zuvor.
Alle diese fröhlichen, schillernden Menschen, die noch vor wenigen Augenblicken so glamourös auf mich gewirkt hatten, kamen mir nun verkommen vor, unmoralisch und auf schlimmste Weise blutrünstig. Alle diese Diener, die die schweren Servierplatten mit Essen herbeischleppten, waren nicht freiwillig hier – sie waren ebenso versklavt wie die Gladiatoren. Sie dienten zwar in einem Haus und mussten nicht in der Arena kämpfen, trotzdem waren sie Sklaven.
»Sind diese Leute alle Geister?«, fragte ich und lenkte das Gespräch auf ein neutraleres Thema. Ich wollte sie nicht weiter verärgern, und außerdem interessierte mich das wirklich. »Haben sich alle diese Menschen dazu entschlossen, an diesem Ort zu spuken?«
Ich fragte mich, warum so viele Sklaven sich dafür entschieden hatten, eine so elende, undankbare Rolle zu behalten. Aber, es war wohl so, wie sie mir gerade gesagt hatte – jeder Geist hatte seine eigene Geschichte. Ich hoffte, dass sie alle irgendwann eine Möglichkeit finden würden, endlich weiterzuziehen, doch das war nicht meine Aufgabe. Ich war hier, um etwas über Theocoles zu erfahren und mich auf diese verlorene Seele zu konzentrieren, die mir zugeteilt worden war, mehr nicht.
»Einige von ihnen sind Geister, andere nicht.« Messalina zuckte die Schultern. »Ich wollte diese Feier so genau wie möglich nach meinen Erinnerungen gestalten, damit du die Welt, in der Theocoles lebt, besser verstehen kannst.«
»Und wo ist er?« Ich sah mich um, obwohl ich nicht wirklich erwartete, ihn hier zu entdecken. Schließlich war Theocoles ein Sklave, ein Gladiator. Ich bezweifelte, dass er in dieser Welt tatsächlich eine Rolle spielte – zumindest nicht in diesem Teil, der glamourösen Seite davon. »Ist er hier? War es ihm erlaubt, zu solchen Festen zu kommen?«
Messalina nickte. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht war vorsichtig und zurückhaltend, als sie den Arm hob und einen Finger ausstreckte. »Er ist dort drüben.«
Ich folgte ihrer Geste mit meinem Blick und sah eine Gruppe von an Armen und Beinen gefesselten Gladiatoren, die gerade von einigen Partygästen begutachtet wurden. Sie schubsten sich gegenseitig an, als wären die kämpferischen Krieger nur aus einem Grund hier – die kranke Gier nach Vergnügen zu stillen.
Ich wollte zu ihm hinüberlaufen, doch Messalina schlang ihre langen Finger um mein Handgelenk und hielt mich zurück. »Nicht jetzt.« Sie sah mich an, und ihr Lächeln wirkte angespannt, gezwungen und kein bisschen echt. »Du wirst ihn schon bald kennen lernen, darauf gebe ich dir mein Wort. Aber im Augenblick gibt es Wichtigeres für uns zu tun. Wir müssen einen neuen Namen für dich finden, mit dem ich dich vorstellen kann.«
Ich musterte sie stirnrunzelnd. Das gefiel mir nicht, ganz und gar nicht. Ich meine, wie konnte das wichtiger sein als ein Treffen mit Theocoles? Und war es denn nicht genug, dass ich mein Aussehen verändert hatte? Musste sie jetzt auch noch an meinem Namen herumpfuschen?
Aber bevor ich mich darüber beschweren konnte, ging ein Diener mit einem großen Tonkrug an mir vorbei und rempelte mich versehentlich an. Ich verlor beinahe das Gleichgewicht und taumelte herum, so dass ich mich der gegenüberliegenden Seite des Raums zuwandte. Und dort sah ich etwas so unglaublich Verblüffendes, dass ich erstarrte und wie angewurzelt stehen blieb.
Dieses Mal war es jedoch keine glänzende Oberfläche, die mein Bild zurückwarf und mich verwirrte.
Es war ein Junge.
Ein Junge, der mich auf eine Weise anstarrte … nun, auf eine Weise, auf die mich noch nie jemand angeschaut hatte.
Neugierig.
Eindringlich.
Und mit einem gesunden Maß an unverkennbarem Interesse.
Die gleiche Weise, auf die Jungs meine Schwester Ever ansahen – und ebenso Messalina –, aber niemals mich. Bisher noch nie.
Zumindest hatte noch nie jemand die alte Version von mir so angesehen.
Mein Gesicht wurde heiß, meine Hände begannen zu zittern, und ich blieb stocksteif stehen und kam mir dumm und total albern vor.
Ich hatte keine Ahnung, was ich jetzt tun sollte. Wie ich reagieren sollte. Ich hatte keine Ahnung von den Gebräuchen in diesem Zeitalter – und keinen blassen Schimmer, wie man sich verhielt, wenn man von einem Jungen angestarrt wurde.
Also blieb ich einfach wie erstarrt stehen und glotzte, bis Messalina schließlich eingriff und mich vor meinem peinlichen Ich rettete. »Ich habe es dir vorher bereits gesagt: Du musst nicht nur dein Aussehen anpassen, sondern auch dein Auftreten. Komm schon, es wird dir Spaß machen.« Sie fasste mir an die Stirn und fuhr lächelnd mit einem Finger meine Augenbrauen nach, bevor sie mir eine Locke aus dem Gesicht strich. Ihre Berührung beruhigte mich etwas. »Ich habe dir diese schwere Arbeit schon abgenommen und zwei Namen ausgewählt. Beide passen hierher und auch zu dir. Also such dir den Namen aus, der dir besser gefällt: Lauricia oder Aurelia?« Ihre Augen funkelten, und ihre juwelenbesetzten Ohrringe schwangen hin und her. »Beeil dich! Wir müssen uns rasch entscheiden«, flüsterte sie und deutete mit einer Kopfbewegung auf die andere Seite des Raums. »Falls du es noch nicht bemerkt haben solltest – du hast bei einem speziellen Gast großes Interesse erregt«, fügte sie hinzu, und ihre Stimme klang drängend und ungeduldig. »Und so wie ich das sehe, ist es nur eine Frage der Zeit, bis er vor uns stehen wird. Er wird wissen wollen, wer du bist, und dann müssen wir ihm eine Antwort geben, nicht wahr?«
Ich schwieg einen Augenblick und tat so, als würde ich gründlich über die beiden Namen nachdenken. In Wahrheit hatte ich mich bereits für Aurelia entschieden, als ich den Namen gehört hatte. Wenn aus keinem anderen Grund, dann weil er mich an Aurora erinnerte – an die hübscheste, heiterste, kultivierteste Angehörige des großen Rats, die mir zufälligerweise von allen die Liebste war. Und außerdem klang darin ein klein wenig mein eigener Name an, und das war eine perfekte Kombination.
Doch bevor ich die Möglichkeit hatte, Messalina meine Entscheidung mitzuteilen, stand der Junge bereits vor uns. Sein Blick glitt zwischen Messalina und mir hin und her. »Messalina, es ist mir wie immer ein Vergnügen.« Er senkte den Kopf, nahm ihre Hand und berührte sie mit seinen Lippen. Dann nickte er mir zu. »Und wen hast du uns mitgebracht?« Er sah mir tief in die Augen.
Messalina warf mir einen beunruhigten Blick zu, unsicher, wie sie mich jetzt nennen sollte. Aber das spielte keine große Rolle. Es war, als gäbe es keine Zeit mehr.
Es war, als wäre die gesamte Party zu einem Stillstand gekommen.
Als existierte nichts mehr, außer seinem dunklen Haar, seiner glatten, olivfarbenen Haut und seinen dunkelbraunen, fast schwarzen Augen, bei deren Anblick sich in meinem Kopf alles drehte.
»Mein Name ist Aurelia«, sagte ich mit erstaunlich sicherer Stimme und streckte ihm mit einem seltsamen Anflug von Gelassenheit meine Hand entgegen.
Ich hatte keine Ahnung, woher das plötzlich kam. Keinen blassen Schimmer, wie es mir gelang, so leicht in die Rolle einer jungen und vornehmen römischen Aristokratin zu schlüpfen. Ich senkte schüchtern den Blick, schürzte kokett die Lippen und hielt kurz die Luft an, um meine Wangen runder erscheinen zu lassen, während ich darauf wartete, dass er meine Hand in seine nahm und sie kurz mit den Lippen streifte – die übliche Begrüßung zu dieser Zeit. Es war, als wäre ich tatsächlich Aurelia, und in diesem Moment zog ich sie mir vor.
»Aurelia, das ist Dacian«, sagte Messalina zu mir, und ihre Augen funkelten wissend. »Wie du ja weißt, ist Dacian der Sohn eines der Senatoren«, fügte sie hinzu und betonte ihre Worte, um mir die Bedeutung klarzumachen. Dacian war wichtig, jemand, von dem ich so tun sollte, als würde ich ihn kennen.
»Merkwürdig, dass wir uns bisher noch nicht begegnet sind.« Dacians Stimme klang verwundert, und auch seine Miene wirkte, als könne er das nicht begreifen und würde vergeblich versuchen, eine Erklärung dafür zu finden.
Ich hob meine Schultern und ließ sie wieder sinken, während ich meinen Blick abwandte. Es verblüffte mich, wie cool ich mich verhielt, doch es dauerte nicht lange, bis meine Gelassenheit abebbte und ich der Rolle nicht mehr gewachsen war, in die Messalina mich gedrängt hatte.
Ich war es nicht gewöhnt, mich in der Gegenwart von so süßen Jungs aufzuhalten – und Dacian fiel eindeutig in die Kategorie »obersüß«. Ich meine, ich kannte ihn gerade mal eine knappe Minute, und er war bereits an erster Stelle meiner Top-5-Liste der süßesten Jungs aller Zeiten gelandet – die Liste, die lebende Personen, Geister und Berühmtheiten umfasste (und das, obwohl sein Outfit mehr oder weniger aus einer Art Kleid bestand).
Aurelia gefiel so etwas, Riley weniger. Aber so sehr ich im Augenblick auch Aurelia sein wollte, konnte ich die Warnung nicht überhören, die in meinem Kopf laut wurde. Ich hörte eine lästige, aufdringliche Stimme mahnen: Lass dich nicht ablenken! Dein Name ist nicht Aurelia, und Dacian steht nicht auf deiner Tagesordnung, so süß er auch sein mag. Du bist hier, um Theocoles zu finden und ihn über die Brücke zu führen – das ist alles!
Die Stimme war laut – viel lauter, als ich es mir gewünscht hätte. Und trotzdem hatte ich keine Chance gegen Messalina, als sie meine Hand ergriff und sofort meine Gedanken zum Schweigen brachte, als sie sagte: »Entschuldige mich einen Moment, Aurelia. Ich muss mich kurz meiner Tante widmen. Sicher darf ich dich in Dacians Obhut zurücklassen? Ich denke, ich kann mich für seinen guten und noblen Charakter verbürgen.« Sie wandte sich Dacian zu, und ihre Stimme klang unbeschwert und kokett. »Und ich vertraue darauf, dass ich es nicht bedauern muss, dich auf diese Weise angepriesen zu haben. Ich kann mir doch sicher sein, dass du dich untadelig verhalten wirst, so wie ich dich kenne? Zumindest solange du dich in Aurelias Gesellschaft befindest.«
Ich drehte mich zu ihr um und flehte sie mit meinem Blick stumm an, bei mir zu bleiben. Bei dem Gedanken, mit ihm allein zu sein, wich mein plötzlich besonnenes, gelassenes Verhalten einer ausgewachsenen Panik. Ich mochte älter aussehen, als ich war, aber das war nur der äußere Schein. Tief in mir hatte sich nichts geändert. Ich war nach wie vor die kleine Riley Bloom – immer noch mager und spindeldürr und vor Angst schlotternd. Dieser Sache war ich nicht gewachsen – da brauchte ich mir nichts vorzumachen.
Falls Messalina meinen flehenden Blick bemerkte, beschloss sie, ihn zu ignorieren. Und mir blieb nichts anderes übrig, als entsetzt zuzuschauen, wie sie sich auf dem Absatz umdrehte und quer durch den Raum auf die Stelle zuging, an der noch vor wenigen Minuten Theocoles gestanden hatte.
Ich murmelte irgendeine fadenscheinige Entschuldigung und wollte ihr folgen. Ich heftete meinen Blick angespannt auf ihren wirbelnden Saum und ihre wallenden schwarzen Locken und verfolgte genau jeden ihrer Schritte, bis Dacian seine Hand leicht auf meinen Arm legte. »Bitte geh nicht«, sagte er. »Nicht jetzt, da wir uns gerade erst kennen gelernt haben. Ich möchte noch so viel über dich wissen! Woher kommst du? Warum habe ich dich noch nie gesehen und noch nie etwas von dir gehört?«
Ich wandte meinen Blick nur eine einzige Sekunde von Messalina ab – nein, es war nicht einmal eine Sekunde, das schwöre ich –, doch das reichte aus, um sie aus den Augen zu verlieren. In dem winzigen Augenblick, in dem ich meinen Blick von Dacians lächelndem Gesicht abwandte und wieder auf die Stelle richtete, an der Messalina gerade noch gestanden hatte, war sie bereits verschwunden. Und ich hatte keinen Zweifel daran, dass sie mich absichtlich hier zurückgelassen hatte.