ACHT
Dacian wartete auf eine Antwort, aber anstatt etwas zu sagen, rannte ich los und ließ ihn einfach stehen. Er starrte hinter mir her, wie ich quer durch den Raum lief, bis ich die Stelle erreichte, an der Messalina verschwunden war.
Ich stemmte die Hände in die Hüften, drehte meinen Kopf nach allen Seiten und versuchte herauszufinden, welchen Weg sie eingeschlagen haben konnte. Währenddessen ließ ich mir noch einmal ihre Worte durch den Kopf gehen.
Sie hatte gesagt, sie wolle sich um ihre Tante kümmern, aber das hatte sich nicht überzeugend angehört. Ich war mir sicher, dass es irgendetwas mit Theocoles zu tun hatte.
Doch ich hatte keine Ahnung, wo ich ihn finden konnte. Es gab unzählige Möglichkeiten, und ich hatte keinen blassen Schimmer, wo ich mit meiner Suche beginnen sollte. Jeder Durchgang, der in einen anderen Raum führte, schien in ein weiteres Zimmer zu führen und von dort in ein nächstes und dann wieder in einen weiteren Raum. Messalinas Welt glich allmählich einem komplizierten Labyrinth.
Einem weit verzweigten Irrgarten, der mich verwirren und austricksen sollte, so wie alle anderen Seelenfänger vor mir, davon war ich überzeugt.
Dacian rief meinen Namen – meinen neuen Namen. Seine Stimme übertönte das schallende Gelächter, als er sich seinen Weg durch die Menge bahnte und mir dicht auf den Fersen blieb. Seine verblüffte Miene und sein besorgter Blick zeigten, dass er befürchtete, mich irgendwie beleidigt zu haben.
Mir blieben nur noch wenige Sekunden, bis er mich einholen würde. Ich schloss meine Augen und blendete mit aller Kraft alle Geräusche aus, bis ich nur noch meine innere Stimme hörte. Die Treppe – such die Treppe, die nach unten führt! Die Worte waren nur ein Flüstern, aber sehr eindringlich.
Aber bevor ich weitergehen konnte, stand Dacian vor mir. Seine Miene entspannte sich, und seine Stimme klang erleichtert. »Da bist du ja, Aurelia!« Er verbeugte sich tief vor mir, so dass ich einen kurzen Blick auf seine braunen Locken werfen konnte, bevor er sich wieder erhob und mich aus seinen dunklen Augen ansah. »Ich hoffe, ich habe dich nicht auf irgendeine Weise gekränkt?« Er schenkte mir ein hoffnungsvolles, unwiderstehliches Lächeln, bei dem sich auf beiden Wangen Grübchen bildeten.
Und in diesem Augenblick sah er so unglaublich süß aus, dass mir kein guter Grund einfallen wollte, warum ich von ihm weggehen sollte. Zum ersten Mal seit sehr langer Zeit war alles, was ich mir wünschte, in greifbarer Nähe.
Ich war ein Teenager.
Ein hübscher Teenager, genau wie meine Schwester.
Und ebenso wie meiner Schwester folgten mir süße Jungs quer durch den Raum und waren bereit, sich zum Narren zu machen, nur um in meiner Nähe zu sein.
Ich war die Hauptfigur in meinem eigenen Märchen.
Diese Gelegenheit war zu gut, um sie auszuschlagen.
Also packte ich sie beim Schopf.
»Bitte mach dir darüber keine Gedanken – darum geht es nicht«, versicherte ich ihm und schaute ihn verlegen an. »Es ist nur, weil ich …« Ich zog meine Augenbrauen zusammen und wusste nicht, wie ich fortfahren sollte. Meine Stimme klang merkwürdig. Sie hatte einen seltsamen melodischen Tonfall, den ich von mir nicht kannte.
Dacian runzelte die Stirn und trat einen Schritt vor, bis er so nahe vor mir stand, dass ich jeden einzelnen goldfarbenen Fleck in seinen verträumten Augen sehen konnte. Seine Nähe trieb mich dazu, mir auf die Unterlippe zu beißen und meine Finger in die Falten meines Gewandes zu krallen. Ich drehte den Stoff hin und her, bis ich zwei zerknüllte Bündel in meinen Fäusten hielt. Ganz vage nahm ich im Hinterkopf noch diese Stimme wahr, die mich zu … irgendetwas überreden wollte. Ich wusste allerdings nicht mehr, worum es dabei ging.
Mir war nur noch bewusst, dass Dacian vor mir stand, mir ein süßes, offenes Lächeln schenkte und mich auf charmante Weise hoffnungsvoll anblickte – alles andere verschwamm vor meinen Augen.
Er zwinkerte mir zu und wartete darauf, dass ich meinen Satz beendete, also räusperte ich mich und sprach weiter – und hoffte, dass die richtigen Worte einfach aus mir heraussprudeln würden. Meine Stimme klang immer noch heller und mädchenhafter. »Es ist nur, weil ich …« Dacian nickte mir aufmunternd zu. »Nun, ich …« Ich presste meine mit Ringen geschmückten Finger an meine Lippen und unterdrückte ein Kichern, das ebenfalls nicht nach mir klang. »Ich schäme mich ein wenig, das zuzugeben, aber ich muss gestehen, dass ich nicht daran gewöhnt bin …« Dass Jungs mich so ansehen, dass sie mit mir flirten und sich mit mir unterhalten … Durch meinen Kopf ratterte eine lange Liste mit Möglichkeiten. »Na ja, die Wahrheit ist, dass ich nicht an diese Art von Festen gewöhnt bin«, stammelte ich und spürte, wie meine Wangen heiß wurden und sich röteten. Das war zwar nur ein Punkt auf meiner langen Liste von Dingen, mit denen ich noch keine Erfahrung hatte, aber es war nicht gelogen.
Dacian beugte sich zu mir vor und zog erstaunt die Augenbrauen nach oben. »Willst du damit sagen, dass du zum ersten Mal bei den Spielen dabei bist?«
Ich nickte und bemühte mich, mich unter seinem prüfenden Blick nicht zu winden. Ich hoffte, er würde mein Geständnis eher amüsant als Mitleid erregend finden.
»Aber die Gladiatoren hast du schon gesehen, oder? Bevor sie die Treppe nach unten zum Ludus gegangen sind?«
Die Treppe.
Diese Worte waren ein Hinweis, ein Anstoß. Oberflächlich betrachtet schienen es nur zwei simple Wörter zu sein, doch ich hatte das unbestimmte Gefühl, dass sie eine tiefere, wichtigere Bedeutung hatten.
»Ich hoffe, dass du zumindest den Champion sehen konntest – Theocoles, den Gladiator, den sie die Säule der Verdammnis nennen? Man sagt zwar, dass er ein Günstling der Götter sei, aber man darf nicht vergessen, dass sie letztendlich alle zu Fall kommen. Wer weiß, vielleicht war das deine letzte Chance, ihn zu sehen. Morgen werden wir mehr wissen.«
Theocoles.
Die Säule der Verdammnis.
Diese Worte ließen Alarmglocken in meinem Kopf schrillen. Ähnlich wie ein Händeklatschen oder ein Fingerschnippen schienen sie mich aus einem sehr tiefen Schlaf zu erwecken.
Oder vielleicht eher aus einer Trance.
Plötzlich wurde mir das Ausmaß der Geschehnisse bewusst.
Mit einem Mal wurde mir klar, was mit all diesen armen Seelenfängern, die vor mir hier gewesen waren, geschehen war.
Messalinas Welt war verführerisch und verlockend und versprach, alle Träume wahrzumachen, die bisher unerreichbar erschienen waren. Sie hatte mich ebenso verzaubert wie alle anderen auch. Sie hatte mir ein Leben gegeben, das ich mir schon immer gewünscht hatte – und mich damit von meinen eigenen Plänen abgelenkt.
Trotz Bodhis Warnung und obwohl ich die Risiken kannte, unterschied ich mich nicht von meinen Vorgängern, wie sich nun herausstellte. Ich war gerade erst angekommen und war bereits in die Falle getappt.
Wenn ich Theocoles retten wollte – von mir selbst ganz abgesehen –, dann musste ich mich viel vorsichtiger und wachsamer verhalten. Und vor Messalina musste ich auf der Hut sein. Ich konnte es mir nicht leisten, dass sie mich noch einmal um den Finger wickelte.
Ich musste das tun, was meine Aufgabe erforderte, und dann so schnell wie möglich von hier verschwinden. Sonst würde ich hier für immer als Aurelia stecken bleiben – als ein Mädchen, das sich so sehr von mir unterschied, dass mich niemand mehr finden würde.
Dacian mochte zwar die Nummer eins auf meiner Liste der süßesten Jungs sein, aber ich war hier, um eine Aufgabe zu erledigen – und ich war fest entschlossen, das durchzuziehen.
Ich fuhr mir mit der Hand durch die Locken. Er sollte auf keinen Fall meinen plötzlichen Stimmungswechsel bemerken und erraten, dass ich mich gerade von dem Zauber befreit hatte. »Oh, ich glaube, ich habe ihn wohl verpasst. Wie schade!«, sagte ich und gab vor, ein wenig außer Fassung zu sein. »Aber wenn ich mich spute und rasch nach unten laufe, könnte ich vielleicht noch einen Blick auf ihn werfen. Würdest du mir die Richtung zeigen?«
Dacian sah mich verblüfft an. Offensichtlich hielt er mich für komplett verrückt. »Du meinst den Weg zum Ludus?« Er schnappte nach Luft. »Meine Güte, dorthin kannst du nicht gehen. Dort ist es gefährlich!« Er sah an mir vorbei zu einer Stelle, die rechts hinter mir lag. Ohne es zu begreifen, hatte er mir gerade meine Frage beantwortet und mir verraten, wohin ich mich wenden musste.
»Oh, du hast sicher Recht.« Ich kicherte hinter vorgehaltener Hand und winkte ab, so als hätte ich den Gedanken bereits abgetan. »Aber ich muss Messalina suchen, also entschuldige mich für einen Moment. Ich bin gleich wieder zurück …« Ich sah ihm direkt in die Augen. »Versprichst du mir, dass du hier auf mich warten wirst?« Noch bevor er eine Möglichkeit hatte, mir zu antworten, wirbelte ich auf dem Absatz herum und lief in die Richtung, die er mir unbeabsichtigt verraten hatte.
Er rief mir hinterher, und ich hörte an seiner Stimme, dass er sich von meiner Geschichte nicht hatte täuschen lassen. »Du solltest wirklich nicht dorthin gehen, Aurelia. Und glaub mir, du wirst auch Messalina dort nicht finden. Es ist ihr nicht erlaubt, sich dem Ludus zu nähern – ihr Onkel hat es ihr verboten!«
Ich ignorierte seine Warnung und lief die Treppe hinunter, während ich dachte: Das glaubst du, Dacian. Das glaubst du.