ELF
Verwirrt beobachtete ich die Parade, die den Auftakt zu den Spielen darstellte. Ich war überrascht davon, wie merkwürdig ruhig, beinahe ehrfürchtig sich die Menge verhielt, doch Dacian erklärte mir, dass es sich hierbei um eine Gelegenheit handelte, bei der die Waffen inspiziert sowie die Gladiatoren vorgestellt wurden und des toten Kaisers gedacht wurde. So konnte sich die Menge alle noch einmal genau anschauen, denn, wie die Zuschauer wussten, würde mehr als die Hälfte am Ende des Tages nicht mehr leben.
Als dieser Teil vorüber war, öffneten sich die Tore, und ein Rudel wilder Raubkatzen stürmte in die Arena. Zuerst brüllten sie voll Angst, unsicher, was sie in dieser neuen Umgebung erwarten würde, doch es dauerte nicht lange, bis sie sich daran gewöhnt hatten, ihre Instinkte die Überhand gewannen und sie sich auf Beutefang begaben – und schließlich die armen, unglückseligen Gefangenen einen nach dem anderen verschlangen.
Die Menge johlte, stampfte und klatschte begeistert in die Hände, während sie beobachtete, wie etliche Menschen zerfetzt und ausgeweidet wurden, in blutige Stücke gerissen und in einen Kampf getrieben, den sie auf keinen Fall gewinnen konnten.
Und das Publikum grölte ebenso, als später dieselben Raubkatzen von Gladiatoren, die speziell dafür ausgebildet waren, gejagt und getötet wurden.
Nach vielen Stunden des unablässigen Blutvergießens, nach stundenlanger Darbietung von unfassbarer Gewalt und Tod war es schließlich an der Zeit für die Gladiatoren, die Bühne zu betreten. Ich war bereits so abgestumpft, dass mich nichts mehr erschütterte, und es dauerte nicht lange, bis ich mich ebenso mitreißen ließ wie die anderen Zuschauer und in ihr Geschrei und Gejohle einstimmte.
Wie die anderen streckte ich beide Daumen nach oben, wenn ein Kampf unentschieden ausging, und ich der Meinung war, beide Kämpfer sollten weiterleben. Und ich senkte die Daumen, wenn ich mich nicht genügend unterhalten fühlte und forderte, dass jemand dafür verantwortlich gemacht werden musste – und einen grausamen Tod sterben sollte, um für meine Langeweile zu büßen.
Je nach Stimmung rief ich »Weiterleben!« oder »Tod!«. Ich war berauscht von der Macht, die ich besaß. Mir war bewusst, dass ich nur eine von vielen war und dass schlussendlich der Kaiser über Leben und Tod der Kämpfer entscheiden würde. Aber war er nicht von den Launen seiner Untertanen abhängig? War er nicht beeinflusst durch ihr Verlangen, ihr hartes Leben durch Brot und Spiele erträglicher zu machen?
Ich genoss es, an dieser Entscheidung teilhaben zu können, zu wissen, dass meine Stimme Einfluss drauf hatte, wer noch einen weiteren Tag leben durfte und wer zum Tode verurteilt wurde.
Und als die schweren Eisentore ein weiteres Mal aufgestoßen wurden und Theocoles die Arena betrat, erkannte ich sofort, warum er so beliebt war.
Theocoles ging nicht; er rannte auch nicht, sondern er stolzierte langsam mit hoch erhobenen Armen herein. Er schwenkte sein Schwert und seinen Schild zur Begrüßung und ließ keinen Zweifel daran, dass er seine glühenden Fans ebenso liebte wie sie ihn.
Das Kolosseum bebte, als das Publikum mit den Füßen trampelte und in die Hände klatschte, während Theocoles sich langsam im Kreis drehte, um sich jedem Bereich zuzuwenden und sich in dem Jubel zu sonnen.
Der Applaus nahm merklich ab, als sein Gegner Urbicus erschien, und Pfiffe und Buhrufe wurden laut. Obwohl er ebenso stark und kampfeslustig wirkte – und gleichermaßen entschlossen, alles zu geben –, war sofort klar, dass ihm das innere Feuer und das Charisma des Meistergladiators fehlten. Und deshalb würde sich die Menge niemals auf seine Seite stellen. Er konnte einfach nicht mit Theocoles’ einzigartiger Anziehungskraft konkurrieren – der unschlagbaren Kombination aus Mut, Geschicklichkeit, gekonnter Selbstdarstellung und der unbestreitbaren Attraktivität eines Schauspielers.
Wie fast alle um mich herum beobachtete ich fasziniert den Beginn des Kampfes. Urbicus schlug sich tapfer, aber er war nicht gut genug. Er verschwendete den Großteil seiner Energie darauf, Theocoles’ gut platzierte Schläge abzuwehren, die ihm blutige Wunden zufügten. Er verlor schnell an Kraft, während Theocoles, der offensichtlich nur wenige oberflächliche Verletzungen davontrug, ihn immer wieder angriff.
Obwohl sein Gegner immer schwächer wurde, und obwohl Theocoles zahlreiche Möglichkeiten hatte, Urbicus den Rest zu geben, zog sich der Kampf in die Länge. Theocoles war entschlossen, der Menge das zu bieten, wofür sie gekommen war – und noch mehr. Immer wieder setzte er zum Sprung an und fügte seinem Opfer eine klaffende Wunde nach der anderen zu, bis Urbicus’ Haut in blutigen Fetzen herunterhing.
Ich beobachtete den Kampf mit einer Mischung aus Verwunderung und Abscheu und fragte mich, wann Theocoles ihn endlich beenden würde, damit er seinen Gewinn einstreichen und damit seinen Bruder und sich selbst befreien konnte. Trotzdem war ich von dem Spektakel so gefesselt, dass ich den Moment, in dem der Kampf enden würde, ganz und gar nicht herbeisehnte.
Ich beugte mich aufgeregt zu Dacian hinüber. Meine Nerven waren so angespannt, dass ich erst nach einer Weile bemerkte, wie eng unsere Schultern aneinandergepresst waren.
»Warum hat er ihn nicht schon längst getötet und die Sache zu einem Ende gebracht, um sich seinen Sieg abzuholen?«, fragte ich.
Mein Blick huschte zwischen Dacian und der Arena hin und her, als mir plötzlich bewusst wurde, dass er meine Hand in seine genommen und seine Finger mit meinen verschränkt hatte. »Machst du dir etwa Sorgen um Theocoles?«, neckte er mich und beugte sich noch weiter zu mir herüber. »Keine Angst – er tut genau das, was er am besten beherrscht. Er spielt mit dem Publikum. Er liefert uns die Darbietung, für die er berühmt ist, und damit ist er bisher noch nie gescheitert.« Er deutete in die Arena. Theocoles hatte seinen Helm abgenommen und zur Seite geworfen, schüttelte sein langes zerzaustes Haar aus und nahm die Beifallsrufe seiner Zehntausenden Fans entgegen. »Er ist süchtig nach Applaus. Er braucht ihn so sehr wie eine Blume den Regen. Er weiß, dass dies sein großer Moment ist. Ihm ist durchaus bewusst, dass er nach dem heutigen Tag nie wieder auf diese Weise im Mittelpunkt stehen wird. Sie werden noch eine Weile über ihn sprechen und sich jeden seiner Siege ins Gedächtnis rufen, aber schon bald wird ihre Aufmerksamkeit schwinden, so wie es immer der Fall ist. Und dann wird die Erinnerung an Theocoles allmählich verblassen und in Vergessenheit geraten, und ein neuer Champion wird seinen Platz einnehmen. Und auch wenn Messalina das nicht wahrhaben will, wird von dem großen Meister, von der Säule der Verdammnis, eines Tages nur noch der Hauch einer Erinnerung zurückbleiben, und es wird keinen dauerhaften Beweis mehr für seine Existenz geben. Ich bin sicher, dass Theocoles sich dessen in gewisser Weise bewusst ist, und dass er genau aus diesem Grund entschlossen ist, alles herauszupressen – aus diesem Augenblick alles herauszuholen, was möglich ist.«
»Herauspressen?« Ich starrte Dacian an und versuchte herauszufinden, warum mich dieser Ausdruck so verblüffte – vor allem, wenn man bedachte, was hier gerade alles vor sich ging. Ein Junge hielt meine Hand! In der Arena wurde viel Blut vergossen! Und trotzdem stieß mir dieser Begriff auf. Er fiel aus dem Rahmen – er passte nicht zu der Sprache, die er sonst verwendete.
Dacian sah mich an. Offensichtlich dachte er, ich hätte die Bedeutung des Wortes nicht verstanden. »Ich meine damit, dass er diesen Moment nutzen will – er will alles herausholen, was für ihn machbar ist. Alles herauspressen wie den letzten Tropfen Milch aus dem Euter einer Ziege …«
»Ich habe es verstanden.« Ich nützte die Gelegenheit, um ihm meine Hand zu entziehen. Plötzlich war ich nervös und gereizt. Irgendetwas zerrte an meinen Gedanken, und ich wusste nicht, was es war. Ich hatte keine Ahnung, warum ich mich so fühlte.
Die Menge johlte und zog meine Aufmerksamkeit zurück zur Arena. Ich wollte schnell alles nachholen, was ich versäumt hatte. Ich beobachtete, wie Theocoles den Kreis der Arena abschritt und dabei sein Schwert und seinen Schild zu beiden Seiten ausstreckte. Dacian hatte Recht – Theocoles liebte es, bewundert zu werden. Er blühte dabei auf, soweit ich das sehen konnte. Er versuchte eindeutig, alles herauszuholen. Und er würde nicht so leicht loslassen.
Ich sah mich in der Loge um und stellte fest, dass alle anderen ebenfalls auf ihren Stühlen nach vorne gerutscht waren, einschließlich des Imperators, der seinen mit Wein und Trauben überladenen Servierteller zur Seite geschoben hatte, um sich ganz den Spielen widmen zu können, während Messalinas Onkel, der Besitzer des Ludus und Besitzer von Theocoles, neben ihm stand und unterdrückt etwas vor sich hin murmelte, was ich kaum verstand.
Als ich zu Messalina hinübersah, bemerkte ich, dass sie sich ganz anders verhielt als die Leute um uns herum. Während alle anderen begeistert mitfieberten, drehte sie sich zur Seite und wandte ihren Blick ab. Obwohl für sie, außer für Lucius und Theocoles, am meisten auf dem Spiel stand.
Aber einen Augenblick später, als Dacian nach meiner Hand griff, verschwand dieser Gedanke sofort. Ich war mir nur noch bewusst, dass er vorsichtig wieder meine Finger umfasste und sich noch näher zu mir vorbeugte. »Er macht sich jetzt bereit. Gleich wird es vorbei sein. Und, glaub mir, du wirst das Ende nicht verpassen wollen.«
Alle standen auf, und wir taten es ihnen nach. Die ganze Menge beugte sich nach vorne, um besser sehen zu können, wie Theocoles schließlich dem Publikum den Rücken zukehrte und auf seinen schwer verletzten Gegner zuging. Sein Kontrahent war zwar in schlechter Verfassung, aber obwohl er kaum mehr genügend Kraft hatte, aufrecht zu stehen, weigerte er sich aufzugeben. Er war sich bewusst, dass er bereits dem Tod ins Auge blickte, und war entschlossen, nobel zu sterben – den ehrenwerten Tod eines tapferen Gladiators. Ohne einen letzten Kampf würde er nicht aufgeben.
»Töten!«, brüllte ich zusammen mit dem Publikum und streckte meine Daumen nach unten, wie Dacian neben mir. Das Wort ertönte immer wieder in einem unaufhörlichen, rhythmischen Chor der blutrünstigen Menge.
Theocoles drehte sich um und ließ uns wissen, dass er uns gehört hatte und dass er nach einem zustimmenden Zeichen des Imperators unserem Wunsch Folge leisten würde.
Aber während Theocoles uns sein Gesicht zuwandte, hatte sein Gegner die Gelegenheit ergriffen, um sich erneut in Stellung zu bringen. Er versuchte noch einmal, den Sieg zu erringen – oder in Würde zu sterben.
Mit letzter Kraft stolperte er vorwärts und schwang sein Schwert. Die scharfe Spitze seiner Klinge bohrte sich in Theocoles Kniekehle, durchstieß sie und riss eine klaffende Wunde auf. Theocoles stolperte und glitt auf dem Sand aus. Sein Schwert und sein Schild glitten ihm aus den Fingern und fielen neben ihm auf den Boden.
Er streckte die Hand in die Luft, als er schwankte und sich zur Seite neigte. Seine Miene zeigte deutlich, wie schockiert er war, dass er fiel und sein einst so gefeierter Körper nur noch ein blutiger, bewegungsunfähiger Klotz war.
In der Menge breitete sich ein seltsames, beinahe unheimliches Schweigen aus, bis sich die Zuschauer an diese unerwartete Wendung des Geschehens gewöhnt hatten. Auch ich schlug die Hand vor den Mund und konnte kaum fassen, was sich da vor meinen Augen abspielte. Dass Dacian mir tröstend seinen Arm um die Taille legte, nahm ich nur am Rande wahr.
Wir stürmten alle zur Brüstung der Loge, wo sämtliche Mitglieder der Elite Roms sich drängten, sich den Hals verrenkten und mit hervorquellenden Augen beobachteten, welches schreckliche, unerwartete Ereignis nun folgen würde.
Theocoles kämpfte verzweifelt darum, wieder auf die Beine zu kommen, aber seine Wunden waren zu tief. Seine durchtrennten Muskeln versagten ihm den Dienst. Er fiel auf den Rücken und starrte ungläubig seinen angeschlagenen, blutenden Gegner an, der über ihm aufragte und sein Schwert hob, bereit es in Theocoles’ Kehle zu stoßen – er wartete nur noch auf das entscheidende Wort, um seinen sicheren Sieg auszukosten.
Er rechnete nicht damit, dass Theocoles sich von ihm abwandte und sich mit letzter Kraft auf die Seite drehte. Theocoles’ Blick suchte hoffnungslos Messalinas Augen, um sich bei ihr entschuldigen und sich von ihr verabschieden zu können.
In diesem einen Blick lag ein so überwältigendes Verlangen, so viel Bedeutung und ein so unermessliches Bedauern, dass mir unwillkürlich Tränen über die Wangen liefen.
Aber dem Publikum entging, was ich sah.
Die Menge missverstand die Situation.
Sie sahen nur, dass Theocoles seinem Gegner den Rücken zuwandte und hielten seinen Versuch, Abschied zu nehmen, für Feigheit.
Sie waren wütend, dass ihr einstiger Held weder nobel noch tapfer genug war, seinem eigenen Tod ins Angesicht zu sehen. Das war ein Verhalten, das nicht toleriert wurde – ein Akt, der gegen alles verstieß, wofür ein Gladiator stand. Also wandten sie sich sofort gegen ihn.
Aus Tausenden Mündern, die noch vor einem kurzen Augenblick vor Schreck offen gestanden hatten, ertönte nun ein rachedurstiger Schrei: »Töten!«
Die Forderung war so übermächtig, dass der Imperator ohne Zögern mit einem Nicken seine Zustimmung gab.
Die Menge drängte weiter vorwärts. Meine Gedanken vernebelten sich, und ich bekam kaum noch Luft. Ich atmete heftig mehrmals ein, bis ich begriff, dass ich nicht ausatmete.
Es war nicht nötig – ich musste nicht atmen.
Irgendetwas zupfte und zerrte an meiner Erinnerung. Es ging um mich und um Theocoles, aber ich hatte keine Ahnung, worum genau es sich handelte.
Während das römische Publikum gebannt in die Arena gaffte, erpicht darauf zu sehen, wie der mächtige Theocoles, die Säule der Verdammnis, den Tod fand, drehte ich mich zu Messalina um und schaute sie Hilfe suchend an. Ich hoffte, dass sie mir erklären konnte, warum ich plötzlich keine Luft zum Atmen mehr brauchte.
Aber Messalina war verschwunden. Ich starrte auf die Stelle, wo sie soeben noch gestanden hatte, und plötzlich hob sich der Nebel, und ich erwachte aus meiner Trance.