![/epubstore/A/N-Alyson/Riley-die-geisterjagerin-noel-a-riley-die-geisterjagerin-nn-4/OEBPS/e9783641069223_i0025.jpg](/epubstore/A/N-Alyson/Riley-die-geisterjagerin-noel-a-riley-die-geisterjagerin-nn-4/OEBPS/e9783641069223_i0025.jpg)
VIERUNDZWANZIG
Theocoles ging neben mir her, und Messalina, Bodhi und Buttercup folgten uns. Eine Anordnung, mit der ich nicht gerechnet hatte, aber es lief ohnehin nie etwas wie geplant.
Obwohl ich seine sanfte Seite bereits kennen gelernt hatte – schließlich hatte ich ihn ihm Ludus mit Messalina beobachtet –, war ich sehr überrascht davon, wie liebenswürdig er sich benahm. Ich meine, er war ein riesiger, muskelbepackter Kerl, der seinem Spitznamen Säule der Verdammnis mit Sicherheit alle Ehre gemacht hatte, und doch sprach er so freundlich mit mir. Ich hatte keinen Zweifel mehr daran, dass er in der Arena nur eine Rolle gespielt hatte, um zu überleben – eine Rolle, die sich sicher irgendwann verselbstständigt hatte –, die aber nicht widerspiegelte, wie er wirklich war.
Und während ich bereits den schimmernden goldenen Vorhang vor mir sah, durch den ich ihn direkt von der Arena zur Brücke bringen konnte, wollte Theocoles noch etwas von Rom sehen, bevor er weiterzog – immerhin war er lange Zeit im Ludus und im Kolosseum eingesperrt gewesen.
Er wollte das echte Rom sehen – das moderne Rom, in dem es Toilettenspülungen und fließendes Wasser gab. Doch im Gegensatz zu mir, die die neue, verbesserte und weniger barbarische Version vorzog, wirkte Theocoles nicht wirklich beeindruckt.
»Also, was hältst du davon?«, fragte ich ihn, nachdem ich ihm alles gezeigt hatte.
Er sah mich kopfschüttelnd an. »So ziehen sich die Leute jetzt an?« Er ließ seinen Blick umherstreifen und runzelte die Stirn. »Ich kann die Frauen kaum mehr von den Männern unterscheiden!«
Ich verdrehte die Augen. Das nahm ich persönlich, denn ich hatte bei der ersten Gelegenheit, die sich mir bot, das sackartige blaue Kleid gegen Jeans, ein supersüßes T-Shirt und Ballerinas eingetauscht. Und da ich mein Haar wieder zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, und mein Körper wieder so dürr war wie vorher, bezog ich seine Bemerkung auf mich persönlich. Und das von einem Mann, der sein ganzes Leben Kleider getragen hatte!
Ich warf ihm einen beleidigten Blick zu. »Nun, gewöhn dich dran. Die Zeiten haben sich geändert. Außerdem ist niemand so wunderschön wie Messalina. Wir sind nicht alle mit so tollen weiblichen Attributen ausgestattet.«
»Messalina ist natürlich die Schönste von allen.« Er warf rasch einen Blick zu ihr hinüber. »Und du, Miss Riley Bloom, solltest dich nicht selbst unterschätzen«, fuhr er an mich gewandt fort. »Du magst noch jung sein, aber du siehst sehr vielversprechend aus.« Er beugte sich zu mir herunter, versetzte meinem Pferdeschwanz einen Schubs, zwinkerte mir mit seinen topasfarbenen Augen zu und schenkte mir ein Lächeln, bei dem sich meine Kehle zusammenschnürte. Dieser Mann strömte Charme und Charisma aus, ohne es zu wollen – er war auf eine Weise unwiderstehlich, der man sich nicht entziehen konnte.
»So, das war’s dann wohl«, erklärte ich, begierig darauf, ihn endlich über die Brücke zu führen. »Alte Sachen, neue Sachen, Autos, Motorroller, Menschen und große Geschäftigkeit – hast du nun genug gesehen?« Wir waren wieder am Ausgangspunkt unserer Tour angelangt und standen vor dem Kolosseum.
Theocoles kniff die Augen zusammen und sah sich um, während Messalina und Bodhi miteinander tuschelten. Auf eine Weise, die mich misstrauisch machte.
Ich beobachtete sie aufmerksam, bis Theocoles mich aus meinen Gedanken riss. »Was erwartet mich dort?«, fragte er, und ich war nicht sicher, was ich darauf antworten sollte.
Ich dachte einen Augenblick darüber nach und überlegte, wie ich meine Antwort am besten formulieren sollte, ohne zu viel zu verraten. Ich meine, ich hätte ihn jetzt vorwarnen können, dass ihm ein erleuchtender, aber auch peinlicher Rückblick auf sein Leben bevorstand, dass er sich darauf gefasst machen musste, in gewisser Weise bewertet zu werden, und dass die Ewigkeit nichts damit zu tun hatte, dass man sich auf Wolken räkelte und Harfe spielen lernte, so wie viele Menschen sich das vorstellten. Aber je länger ich darüber nachdachte, umso deutlicher wurde mir bewusst, dass er das damit nicht gemeint hatte. An dieser Art von Details war er nicht interessiert.
Er machte sich Sorgen über die Entscheidungen, die er oftmals getroffen hatte – über die Art und Weise, wie er sein Leben gelebt hatte. Dieser Mann hatte etliche Leichen in der Arena hinterlassen, und nun befürchtete er, dass er dafür auf irgendeine Weise bezahlen musste.
»Alles, was ich sicher weiß, ist, dass dir Mitgefühl, Liebe und Verständnis im Übermaß geschenkt werden wird«, erklärte ich schließlich. Ich dachte daran, wie mein eigenes Leben vor mir wie in einem Film abgelaufen war und wie ich als Einzige meine Handlungen anschließend hatte beurteilen müssen. Ich war die einzige Person gewesen, der das Geschehen auf der Leinwand peinlich gewesen war – der große Rat hatte lediglich gewollt, dass ich mein Handeln so deutlich wahrnahm, wie sie es taten.
Theocoles überlegte einen Augenblick lang, wandte sich dann dem Kolosseum zu, schloss die Augen, warf seinen Kopf zurück und breitete die Arme aus, so wie er es nach jedem seiner Siege getan hatte.
Aber dieses Mal ging es ihm nicht um den Applaus oder um die lautstarken Zuneigungsbekundungen, nach denen er sich stets so gesehnt hatte, sondern jetzt lauschte er gespannt und horchte auf die Wahrheit, die in seinem Herzen ruhte.
Und als er bereit war und mir mit einem Nicken seine Zustimmung bedeutete, ließ ich den schimmernden goldenen Vorhang vor ihm erscheinen und winkte ihn durch. Dann wandte ich mich an Messalina und gab ihr ein Zeichen, ihm zu folgen. Und es erschütterte mich bis ins Mark, als sie keine Anstalten machte, ihm hinterherzugehen.
»Messalina gehört nicht zu unserem Auftrag«, sagte Bodhi, als würde das alles erklären. »Wir sind nicht damit beauftragt, sie über die Brücke zu führen.«
Der Vorhang flatterte vor meinen Augen und zog sich mit jeder Sekunde ein Stück weiter zu. »Aber wenn sie die Brücke überschreiten will? Aus freiem Willen, verstehst du? Ich meine, du willst doch weiterziehen, oder? Du hast Tausende Jahre auf diesen Moment gewartet!«
Als sie ihren Blick auf Bodhi richtete, stöhnte ich unwillkürlich auf. Ich wandte mich angespannt und verärgert ab. Großartig, dachte ich. Das ist wirklich toll. Jetzt geht das schon wieder los. Noch ein wunderschönes Mädchen, das für meinen Führer schwärmt. Stell dich hinten an!
Ich meine, im Ernst. Das stellte sich ja als tolle Liebesgeschichte heraus. Sie schwärmt Jahrhunderte für Theocoles und lässt ihn dann vor dem Vorhang im Stich, weil Bodhi mit seinen grünen Augen auftaucht.
Ich fühlte mich wie ein Totalversager.
Wie der gutgläubigste Geist in der gesamten Truppe.
Ich hatte ihr ihre Geschichte geglaubt, keinen Augenblick an dieser Romanze gezweifelt – und nun stellte sich heraus, dass sie ein ebensolcher Schwindel war wie der, auf den ich selbst hereingefallen war.
»Keine Angst«, tröstete Bodhi mich. »Auf Theocoles warten etliche Leute, die ihm helfen werden, sich zurechtzufinden, also mach dir keine Sorgen. Es wird ihm gut gehen. Und auch Messalina wird die Brücke noch überqueren, aber wir haben unsere Pläne ein wenig geändert.«