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FÜNF

Ich bin mir nicht sicher, was ich erwartet hatte – ich rechnete jedoch damit, dass irgendetwas geschehen würde. In der Vergangenheit hatte ein solcher Kontakt, also ein Händeschütteln, immer dazu geführt, dass ich mich in einer Furcht einflößenden Welt wiedergefunden hatte, in der ich verzweifelt kämpfen musste, um sie wieder verlassen zu können. Daher war ich total verblüfft, als ich feststellte, dass wir beide immer noch dastanden, uns die Hände schüttelten, und das Mädchen lächelnd sagte: »Du kannst mich Messalina nennen.«

Ich nickte und machte mich nach wie vor auf ein dramatisches Ereignis gefasst. Doch nichts geschah. Es war einfach nur ein ganz normales Händeschütteln, also zog ich schließlich meine Hand zurück. »Ich bin Riley«, sagte ich. »Riley Bloom. Es freut mich, dass wir uns unterhalten konnten, aber, offen gesagt, habe ich hier einen Job zu erledigen. Ich muss dringend einen Weg finden, zu Theocoles durchzudringen. Falls du also irgendwelche hilfreichen Tipps für mich hast, irgendwelche Insiderinformationen, dann wäre ich dir dafür sehr dankbar. Aber wenn nicht …« Ich zuckte die Schultern – ich hielt es nicht für nötig, ein Blatt vor den Mund zu nehmen. »Tja, dann sollten wir uns jetzt besser verabschieden, denn ich muss diese Sache wirklich dringend erledigen.«

Ich hatte den Satz kaum beendet, als sie etwas vollkommen Unerwartetes tat: Anstatt wütend zu werden, mir das übel zu nehmen oder beleidigt zu sein, lachte sie mich an.

Sie stand direkt vor mir und lachte auf diese wundervolle, mädchenhafte Art, die ich nie beherrschen würde, auch wenn ich mich noch so sehr bemühte.

Wenn ich lachte, verzogen sich meine Wangen, meine Augen wurden zu Schlitzen und tränten, meine Nase lief knallrot an, und wenn etwas richtig lustig war, tja, dann kam dieses schreckliche Geräusch aus meinem Mund – eine Mischung aus einem Prusten und einem Schnauben  –, das mich normalerweise dazu brachte, weiterzulachen. Kurz gesagt, es klang nicht sehr schön.

Messalinas Lachen dagegen erinnerte an ein Windglockenspiel in einer leichten Sommerbrise. Ihre Schultern hoben sich so, dass ihre glänzenden Locken auf und ab hüpften. Ihre Wangen nahmen die Farbe von Rosenknospen an, und ihre Augen funkelten vergnügt.

Das war beinahe ein wenig zu viel.

Beinahe genug, um mich dazu zu bringen, sie auf der Stelle zu verabscheuen.

Schließlich legte sie eine ihrer mit vielen Ringen geschmückten Hände auf ihre Lippen und beruhigte sich. »Hast du es immer so eilig?«, fragte sie mich.

Ich dachte einen Moment lang nach. »Ja, fast immer«, erwiderte ich. Und ich begriff nicht, was daran so witzig war.

Aber als sich dann unsere Blicke trafen, geschah etwas sehr Merkwürdiges. Der Ärger, der mich noch vor wenigen Sekunden zu überwältigen drohte, verflog einfach. Bei ihrem Blick war mir plötzlich so wohlig zu Mute, als würde ich langsam in warmes Badewasser gleiten.

»Das ist wirklich schade«, meinte sie. »Denn damit wirst du hier nicht weit kommen. Hast du schon jemals den Spruch gehört: Andere Länder, andere Sitten

Ich zuckte die Schultern und starrte auf meine Füße. Ich wollte nicht zugegeben, dass ich das noch nie gehört hatte. Schließlich wollte ich vor ihr nicht total dumm dastehen.

»Du kannst dich nicht einfach in die Sache hineinstürzen, Riley. Wenn du Theocoles erreichen willst, musst du ihn zuerst verstehen. Du musst dich mit seiner Welt vertraut machen, mit der Zeit, in der er gelebt hat, mit den Gründen, die er für sein Verweilen hat. Und zufälligerweise kann ich dir dabei helfen.«

Sie streckte abermals ihre Hand aus und lächelte mich freundlich an. Ihr Blick war heiter, aber dieses Mal nahm ich ihre Hand nicht in meine. Ich stand einfach nur da und starrte auf ihre ausgestreckten Finger. Anscheinend hatte sie vor, mir alle Zeit der Welt für meine Entscheidung zu geben.

Ich sah von ihr zu Theocoles hinüber, der eine dicke Staubwolke aufwirbelte, als er eine Reihe Sprünge und Tritte vollführte. Er nahm weder sie noch mich noch irgendetwas in seiner Umgebung wahr und war nur auf den Film konzentriert, der sich in seinem Kopf abspielte. Das führte mir deutlich vor Augen, dass meine Möglichkeiten sehr begrenzt waren.

Ich befand mich in mehr als nur einer Beziehung auf fremdem Terrain. Was konnte es also schaden, ihre Hand noch einmal zu ergreifen und ihr Hilfsangebot anzunehmen? Beim ersten Mal hatte ich auch nicht gezögert, also warum überfielen mich nun plötzlich Zweifel?

Weil es sehr wehtun könnte! Der Gedanke setzte sich in meinem Kopf fest. Du könntest hier stecken bleiben und den Weg zurück nie wieder finden – so wie all die Seelenfänger, die vor dir an diesen Ort geschickt wurden!

Obwohl mir bewusst war, dass das stimmte, presste ich meine Lippen aufeinander und erwiderte ihren Blick. »Aber nur unter einer Bedingung«, erklärte ich.

Mir war klar, dass es ein wenig merkwürdig war, ihr ein Ultimatum zu stellen, obwohl ich von ihr abhängig war.

Sie nickte, und ihr Gesicht sah so hübsch, so freundlich, so arglos und offen aus, dass es mir beinahe schwerfiel, weiterzusprechen.

Aber nur beinahe.

Ich räusperte mich und zwang mich dazu, meine Hände ruhig zu halten. »Meine Bedingung ist, dass du mich nicht in eine Falle lockst, mich nicht in Angst und Schrecken versetzt, mich nicht verspottest oder … oder irgendetwas mit mir anstellst, was auch nur im weitesten Sinn so ähnlich ist. Du wirst mir helfen, Theocoles, seine Welt und seine Beweggründe zu verstehen, und mir alles sagen, was ich wissen muss, um zu ihm durchzudringen und ihn davon zu überzeugen, dass es an der Zeit für ihn ist, weiterzuziehen. Und wenn es für mich Zeit wird, zu gehen, dann gehe ich. Ich bin nicht wie die anderen Seelenfänger, die du kennen gelernt hast. Ich meine, ich will niemanden beleidigen, aber dieser Ort gefällt mir überhaupt nicht. Ich habe also keinen Grund, hierbleiben zu wollen. Das bedeutet, dass ich meinen Weg zurück auf jeden Fall finden werde. Du kannst mich nicht länger festhalten, als ich hierbleiben will. Ganz gleich, wie sehr du das auch versuchst.«

Sie schwieg eine Weile. Ihre Unterlippe verzog sich zu einer lächerlich hübschen Schnute, und sie schien tief in Gedanken versunken, bis sich ihre braunen Augen auf mich richteten. »Und wie kommst du auf den Gedanken, dass ich für das Schicksal der vorherigen Seelenfänger verantwortlich bin?«

Ich kniff die Augen zusammen und antwortete ohne Zögern: »Reines Bauchgefühl.« Ich ließ meine Stimme ernst und geschäftsmäßig klingen, um ihr zu bedeuten, dass ich wirklich meinte, was ich sagte. »Mein Bauchgefühl sagt mir, dass du nicht bist, was du zu sein scheinst. Und nur damit du’s weißt, mein Bauchgefühl täuscht mich so gut wie nie, wenn es um solche Dinge geht.«

Sie senkte den Kopf, so dass ich den wunderschönen Rubin in ihrem Haar funkeln sah. Dann richtete sie sich wieder auf und lächelte gezwungen. »Abgemacht, Miss Riley Bloom.« Ihre Augen glitzerten vor Aufregung. »Also, wie sieht es aus? Bist du bereit, noch tiefer in Theocoles Welt vorzudringen?«

Sie streckte zum dritten Mal ihre Hand aus. Ihre Handfläche zeigte nach oben, und ihre Finger winkten mich näher zu sich heran. Und wie beim ersten Mal zögerte ich nicht. Ich biss die Zähne zusammen, schloss die Augen und ergriff ihre Hand.