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ZWEIUNDZWANZIG

Wir gingen durch den Irrgarten zurück zur Treppe und von dort aus zum Ludus. Wir entfernten uns immer weiter von dem Lärm, den Messalina manifestiert hatte, um uns anzulocken, bis wir die lange Reihe von Kammern erreichten. Ich blieb stehen und lauschte aufmerksam, bis ich das Brüllen der Menge hörte. Dann wandte ich mich in die Richtung, aus der es kam.

»Warte! Ich dachte, wir sollten uns von dem Lärm wegbewegen«, wandte Bodhi ein.

»Das haben wir getan.« Ich beschleunigte meine Schritte.

»Aber jetzt gehen wir wieder direkt darauf zu.«

»Stimmt.« Ich bog um einige Ecken und versuchte, nicht genau darüber nachzudenken – das hätte zu Zweifeln geführt und für Verwirrung gesorgt. Wenn ich diese Sache beenden wollte, musste ich auf meine Instinkte vertrauen.

»Das verstehe ich nicht.« Bodhis Stimme klang entmutigt und so, als würde er am liebsten das Kommando übernehmen.

»Du begreifst es im Augenblick vielleicht nicht, aber du wirst es bald verstehen, das verspreche ich dir. Du musst mir jetzt vertrauen.«

Ich sah ihn an und betrachtete seinen Haarschopf und seine dichten Wimpern und wandte rasch den Blick ab. Ich war mir nicht sicher, warum ich plötzlich ein Gefühl des Verlusts empfand, obwohl wir uns besser miteinander verstanden als je zuvor. Ohne Zweifel hatten sich die Dinge verändert – auf eine Weise, die weitreichender war, als wir beide im Augenblick begreifen konnten. Ob das eine gute oder eine schlechte Veränderung war, blieb abzuwarten. Mir wurde auf jeden Fall bewusst, dass jede Veränderung aus dem Verlust einer vorherigen Sache hervorging.

»Der Partylärm sollte uns ablenken und uns zu etwas führen, was gar nicht existierte«, erklärte ich ihm. »Messalina hat ihn manifestiert. Es gibt keine Partygäste – sie hat uns das nur vorgegaukelt. Nur das, was zwischen ihr und Theocoles geschieht, findet tatsächlich statt.«

»Und was ist mit all den anderen Seelenfängern? Bist du ihnen begegnet? Sind sie immer noch hier, verkleidet als Partygäste, Gladiatoren, Haussklaven oder was auch immer?«

Ich zuckte die Schultern. Ich hatte keine Ahnung, was mit ihnen geschehen war, und, auch wenn ich es nur ungern sagte, es ging mich nichts an. Ich war gewarnt worden, mir keine eigenen Aufträge mehr zu suchen, und diese Lektion hatte ich wirklich gelernt, und zwar, indem ich Lehrgeld gezahlt hatte. Für mich hieß das, dass mich alle Schicksale, außer dem von Theocoles, nichts angingen. Dafür war der große Rat zuständig, nicht ich.

»Damit werden wir uns später beschäftigen.« Ich warf einen Blick über meine Schulter. »Im Augenblick ist nur eines wichtig: Theocoles hält sich immer dort auf, wo das Gebrüll der Menge zu hören ist. Dafür hat er gelebt, dafür ist er versehentlich zu Tode gekommen – und das ist das Einzige, was er nicht aufgeben will.«

Wir bogen um eine weitere Ecke, und ich konnte ein triumphierendes Grinsen nicht unterdrücken, als mir das Licht so grell in die Augen stach, dass ich blinzelte und mein Gesicht mit der Hand abschirmen musste.

»Das Kolosseum«, stieß Bodhi hervor. Buttercup hob die Nase schnüffelnd in die Luft und sah sich verängstigt um, als er die Qual all der armen Tiere spürte, die hier einen schrecklichen Tod gestorben waren. »Es gibt einen Gang, der den Ludus mit dem Kolosseum verbindet. Das hatte ich ganz vergessen.«

Wir standen neben den großen Eisentoren und beobachteten die letzten Minuten des großen Kampfs – die Augenblicke, bevor Theocoles starb, bevor die Menge ihn mit Verachtung strafte, sich gegen ihn wandte und forderte, dass er dafür büßte, was sie als Feigheit ansah.

»Bitte warte hier, Bodhi. Lass mich das erledigen, bitte.« Ohne ein weiteres Wort rannte ich zur Arena hinunter. Ich wusste, dass Messalina wie immer erst später kommen würde, aber sie würde auftauchen, daran zweifelte ich nicht. Messalina war ebenso gefangen wie Theocoles.

Offensichtlich war sie mir dicht auf den Fersen, denn ich hatte kaum den Sand betreten, als sie vor mir auftauchte. »Wenn du nicht bleiben und das Fest genießen willst, solltest du besser gehen. Ich habe versucht, eine gute Gastgeberin zu sein. Und ich habe mich bemüht, dich mit allem zu versorgen, was dein Herz begehrt. Aber das scheint dir nicht zu genügen. Du willst mehr. Du willst etwas, was ich dir niemals geben werde. Du kommst nicht gegen mich an, Riley, ebenso wenig wie deine Freunde.« Sie deutete auf die Stelle, wo Buttercup und Bodhi warteten. »Vielleicht ist es daher an der Zeit, dass wir uns voneinander verabschieden.«

»Ich habe gedacht, du liebst ihn?« Ich ging auf sie zu. »Ich habe geglaubt, dass du bei ihm sein willst. Und dass du eine gemeinsame Zukunft mit ihm planst.« Ich sah sie an und bemerkte, dass ihre Augen funkelten. Sie stand stolz und majestätisch vor mir – die Königin ihres eigenen tragischen Märchens.

»So ist es«, erwiderte sie ruhig. »Und all das werde ich bekommen, du wirst schon sehen. Aber wenn es soweit ist, wird es meinetwegen geschehen. Theocoles wird für mich aufwachen. Für mich, Riley, nicht für dich! Meine Liebe wird ihn befreien. Eines Tages wird er mich anschauen, in der Echtzeit und nicht in einem Trugbild aus der Vergangenheit. Eines Tages wird er mich tatsächlich vor sich sehen, und das wird genügen. Er wird sich an unsere Liebe erinnern, die uns verbunden hat, und das wird ihn aus der Vergangenheit reißen. Aber es muss von mir kommen, Riley. Warum verstehst du das nicht? Warum könnt ihr alle uns nicht einfach in Ruhe lassen?«

Mir blieb der Mund offen stehen, als sich eine neue Erkenntnis abzeichnete. »Du gibst dir die Schuld dafür.« Als ich ihr in die Augen sah, zuckte sie unwillkürlich zusammen, und ich wusste, dass ich Recht hatte. »Du glaubst, er würde dich für das verantwortlich machen, was ihm zugestoßen ist.«

»Was? Und du siehst das anders?« Sie warf mir einen mitleidigen Blick zu. »Er wurde getötet, weil er sich auf die Seite rollte, um mich anzusehen! Er hatte den Kampf verloren, daran besteht kein Zweifel. Aber er war der Publikumsliebling, und sie hätten sicher Gnade walten lassen und ›Weiterleben!‹ anstatt ›Töten!‹ im Chor gerufen, hätte er das nicht getan. Die Menge konnte nicht wissen, dass er Blickkontakt zu mir suchte. Niemand wusste Bescheid über uns – niemand durfte es wissen, denn mein Onkel hätte es niemals zugelassen! Er hätte alles nur Erdenkliche unternommen, um unsere Beziehung zu beenden. Aber wie es das Schicksal wollte, bekam mein Onkel genau das, was er wollte. Ich stand neben ihm, als Theocoles mir in die Augen schaute, und das war für meinen Onkel die Bestätigung für das, was er ohnehin bereits vermutet hatte. Aber flüsterte er dem Imperator etwas ins Ohr? Versuchte er, auf irgendeine Weise einzugreifen? Nein. Er ließ es einfach geschehen. Und als es vorüber war, wandte er sich mir zu. ›So ist es am besten‹, meinte er. ›Eines Tages wirst du mir dafür dankbar sein.‹«

Sie schüttelte den Kopf, und in ihren Augen spiegelte sich der Verlust wider, als sei das alles erst soeben geschehen. »Täusch dich nicht, Riley. Theocoles gibt mir tatsächlich die Schuld. Ich bin schon seit Tausenden von Jahren hier und habe es noch kein einziges Mal geschafft, zu ihm durchzudringen. Er weigert sich, mich zu sehen, außer wenn wir gemeinsam eine Szene aus der Vergangenheit nachspielen. Er liebt sein Publikum, und das ist eine Liebe, mit der ich nicht konkurrieren kann – es ist ein Schicksal, das ich akzeptieren muss. Und das, obwohl meine Liebe für ihn stärker brennt als je zuvor. In all den Jahren ist sie nicht im Geringsten schwächer geworden. Im Gegenteil, ich bin entschlossener denn je. Also bitte, bitte lass uns tun, was wir tun können. Komm in ein paar hundert Jahren wieder, wenn es sein muss, aber lass uns bis dahin in Frieden.«

»Du bist tatsächlich bereit, ein weiteres Jahrhundert abzuwarten?«

Sie nickte.

»Noch einmal hundert Jahre mit der gleichen langweiligen Routine?«

»Es mag sich alles wiederholen, aber für mich ist das nicht langweilig. Ich kann in seiner Nähe sein, und nur das zählt für mich.«

Ich betrachtete sie – diesen wunderschönen, bezaubernden Geist, den ich für meine Freundin gehalten hatte. Und obwohl ich sie bereits als böse eingeschätzt hatte, empfand ich jetzt unwillkürlich Mitleid für sie. Sie befand sich auf dem falschen Weg, daran bestand kein Zweifel, aber alles, was sie tat, geschah aus Liebe.

Ich starrte auf den sandigen Boden. Jetzt steckte ich in einer Zwickmühle, mit der ich nicht gerechnet hatte. Auf keinen Fall würde ich sie weitere hundert Jahre in Ruhe lassen, das stand völlig außer Frage. Vor allem, weil ich jetzt genau wusste, wie ich Theocoles aus seiner Vergangenheit reißen konnte. Ich wusste genau, wie ich zu ihm durchdringen konnte. Das war eine Entdeckung, die mir mit Sicherheit einen Platz in der Ruhmeshalle der Seelenfänger einbringen würde – falls es so etwas gab. Ich hatte etwas herausgefunden, worüber alle anderen Seelenfänger noch in vielen Jahren bewundernd reden würden. Vielleicht würden sie sogar einen Feiertag nach mir benennen, um dieser monumentalen Errungenschaft zu gedenken.

Der Haken an der Sache war jedoch, dass nicht ich diejenige sein musste, die meine Erkenntnis in die Tat umsetzte. Ich konnte ebenso gut Messalina mein Geheimnis verraten und ihr die Anleitung dazu in die Hand drücken. Schließlich hatte sie die letzten Jahrhunderte nur auf diesen Augenblick gewartet – und ich war mir nicht sicher, ob ich ihr diesen Moment stehlen konnte, ganz gleich, wie viel Ruhm er mir einbringen würde.

Ich bohrte meinen großen Zeh in den Sand. Mir war bewusst, dass ich ohne Schwierigkeiten an ihr vorbeiziehen und mich in den Mittelpunkt rücken könnte.

Es wäre ganz leicht, aber nicht unbedingt richtig.

Und ganz sicher nicht sehr nett.

Ich seufzte tief und sah zu ihr auf. »Ich kann dich nicht weitere hundert Jahre in Ruhe lassen, also werde ich dir etwas verraten. Wenn du zu Theocoles durchdringen willst, musst du lernen zu flüstern …«