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NEUN

Ich rannte die Treppe hinunter und hoffte, so viele Informationen wie nur möglich sammeln zu können. Mir war jetzt klar, dass ich Messalina nicht trauen durfte – was immer sie mir verraten würde, war sorgfältig durchdacht und wurde wohl dosiert weitergegeben. Sie hatte einen bestimmten Plan, davon war ich überzeugt. Und obwohl ich ihn nicht kannte, wusste ich, dass sie nicht nur ihre eigene Welt kontrollierte, sondern auch alle Personen, die sich darin befanden – und das schloss, zumindest im Augenblick, mich ein.

Als ich den Treppenabsatz erreicht hatte, hielt ich einen Moment lang inne. Ich starrte in einen langen Gang, in dem sich eine Menge großer, muskulöser Gladiatorengeister drängten und die gleichen stumpfsinnigen Routineübungen machten wie vorher, als ich sie zum ersten Mal gesehen hatte – sie ließen ihre Fäuste durch die Luft sausen und warfen sich mit aller Kraft gegeneinander. Ich schlängelte mich an ihnen vorbei, drückte mir die Hand auf die Nase, um den Gestank nicht einatmen zu müssen, und lief rasch weiter.

Hektisch sah ich mich nach allen Seiten um und versuchte, eine Spur von Messalina oder Theocoles zu entdecken. Von wem spielte keine Rolle – ich war davon überzeugt, dass derjenige, den ich zuerst fand, mich zu dem anderen führen würde. Ich ging an der langen Reihe von Zellen vorbei und stellte mich auf die Zehenspitzen, um durch die kleinen viereckigen Öffnungen im oberen Teil der Türen zu spähen, aber erst, als ich an der vorletzten Kammer angelangt war, entdeckte ich sie. Messalina sah so makellos aus, dass sie mich an eine kleine, zarte Porzellanpuppe erinnerte, die versehentlich auf einer Müllhalde gelandet war. Theocoles, ein attraktiver Mann in einer Tunika, stand direkt vor ihr. Zwischen die beiden schien kein Blatt Papier mehr zu passen, und sie sahen sich voll Verlangen an.

Ich schloss rasch den Mund, bevor ich unwillkürlich keuchte oder aufschrie oder irgendetwas anderes tat, was ihnen meine Anwesenheit verraten hätte. Staunend betrachtete ich das Bild vor mir – dieser Anblick verlieh meinem Seelenfang eine völlig neue Bedeutung.

Trotz der vielen erheblichen Unterschiede in Statur und Rang – und obwohl sie zwei verschiedenen Welten angehörten – hatten sich Theocoles und Messalina ineinander verliebt. Und soweit ich das beurteilen konnte, waren sie das immer noch.

Aber gerade, als ich dachte, jetzt alles begriffen zu haben, nahm Theocoles eine andere Haltung ein.

Ich beugte mich noch weiter vor und presste meine Wange gegen das raue, abgesplitterte Holz, während ich beobachtete, wie Theocoles sich in Stellung brachte und dann in die Luft sprang. Er streckte die Beine und ließ sein Schwert durch die Luft sausen, knapp an der Stelle vorbei, an der Messalina stand.

Und da begriff ich auch den Rest. Messalina hatte ihm in die Augen gesehen, aber Theocoles hatte ihren Blick nicht erwidert. Er war nach wie vor in seiner Welt gefangen und hatte an ihr vorbeigestarrt.

Doch Messalina gab nicht so leicht auf – sie blieb hartnäckig, denn ich konnte nun beobachten, wie sie seinen Stößen und Tritten auswich und in einem sorgfältig choreografierten Tanz um ihn herumsprang.

Sie rief laut seinen Namen und versuchte verzweifelt, den Meistergladiator dazu zu bringen, von ihr Notiz zu nehmen. Ihre Stimme wurde leiser, ihre Miene wirkte immer betrübter, da er sie weiterhin ignorierte und unermüdlich seine Übungen fortsetzte.

Die Szene wirkte so hoffnungslos und zog sich so lange hin, dass ich kurz davor stand, die Sache abzubrechen und mich auf den Rückweg zu machen, als Messalina plötzlich aufseufzte und zu seiner Pritsche hinüberging. Sie setzte sich auf den Rand, schlug anmutig die Beine übereinander und faltete sittsam die Hände. »Theocoles, ich wünschte, du würdest auf mich hören. Bitte überleg es dir noch einmal. Du musst das nicht tun, weißt du. Du musst das nicht durchhalten. Ich gebe dir gern das Geld, damit dieser Wahnsinn endlich ein Ende hat.«

Sie hatte das letzte Wort kaum ausgesprochen, als Theocoles innehielt, sich umdrehte und sie anschaute. Es war, als hätte sich der Nebel um ihn verzogen, und er würde wieder klar sehen. Er ließ seine Hände sinken und beugte sich zu ihr vor. »Dein Angebot beleidigt mich – du erniedrigst mich damit!« Er schüttelte den Kopf, fuhr sich mit den Fingern durch sein Haar und richtete seine topasfarbenen Augen auf sie. »Glaubst du, ich sei es nicht wert? Glaubst du, ich hätte mich so weit vorangekämpft, so viele würdige Gegner niedergemetzelt, nur um eine große Schau aus meiner Niederlage zu machen?«

Als sie ihn ansah, war ihre Miene ausdruckslos, und ihre Antwort kam so schnell, dass ich sofort begriff, was hier vor sich ging.

Es war eine Aufführung.

Sie deklamierten Zeilen aus einer Szene, die sie schon unzählige Male gespielt hatten.

Theocoles ging so sehr in seiner Rolle auf, dass es für ihn wohl genauso war wie beim ersten Mal. Messalinas Worte dagegen klangen halbherzig und matt. Sie sprach so leidenschaftslos, als würde sie die Zeilen aus einem Drehbuch vorlesen.

Sie versuchte, eine neue Szene zu beginnen, um ihn an einen Tag jüngeren Datums zu bringen, aber Theocoles blieb mit seinen Gedanken in einer Vergangenheit, die er immer wieder nachvollziehen wollte. Und zwang damit Messalina, in eine Rolle zu schlüpfen, die sie vor langer Zeit gespielt hatte, um seine Aufmerksamkeit zu erregen.

Ich drückte mich noch stärker an die Tür, um kein Wort zu verpassen. Wenn es sich um eine Szene handelte, die er immer wieder erleben wollte, war sie sicher von großer Bedeutung. Ich durfte mir nichts entgehen lassen.

»Du weißt, dass ich es nicht so gemeint habe. Ich kann es nur kaum erwarten, endlich unser gemeinsames Leben zu beginnen.« Messalinas Stimme klang leise und erschöpft.

»Das geht mir ebenso.« Er ging zu ihr hinüber, kniete vor ihr nieder und sah ihr in die Augen. »Alles was ich tue, tue ich in Vorfreude auf diesen Tag. Weißt du das denn nicht?«

Sie neigte den Kopf zur Seite und sah ihn zweifelnd an. »Du tust das alles nur für mich?« Sie schürzte die Lippen und wickelte eine lose Haarsträhne um ihren Zeigefinger. »Bist du dir ganz sicher? Nicht etwa auch für Lucius?«

Theocoles schwieg und sah zur Seite. Seine Miene wirkte traurig und nachdenklich, als er schließlich erwiderte: »Ich fürchte, unsere Schicksale sind untrennbar miteinander verbunden.« Er streckte die Hand aus und fuhr langsam mit einem Finger über ihre Augenbrauen, zog die Kurve ihrer Wange nach und fasste sie unter das Kinn. Dann hob er ihren Kopf an, bis sich ihre Blicke trafen. »Komm, es ist Zeit, dass wir uns verabschieden und uns ein wenig Ruhe gönnen.« Er stand auf, und sie folgte seinem Beispiel. »Ich hoffe, dass du die wunderbare Aussicht auf unsere gemeinsame Zukunft mit in deine Träume nimmst – und morgen, in weniger als vierundzwanzig Stunden, wird die Welt uns gehören.«

Messalina lächelte tapfer und fuhr sich mit der Hand schnell über die Wange, um eine herunterrollende Träne wegzuwischen, bevor Theocoles sie entdeckte. Mit stoischer, schicksalsergebener Miene trat sie einen Schritt auf ihn zu und nahm seine Hand in ihre. Ich stieß mich rasch von der Tür ab und rannte den Gang zurück.