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VIER

Man hatte mir schon mehr als einmal gesagt, dass ich das Feingefühl und die Gewandtheit eines Elefanten im Porzellanladen besaß, aber ich war fest entschlossen, die Sache mit Theocoles ganz anders anzugehen.

Und das bedeutete, dass ich mich ihm vorerst gar nicht näherte.

Stattdessen nahm ich Kontakt zu dem Mädchen auf, das ihn beobachtete.

Zumindest versuchte ich das, aber, um ehrlich zu sein, weit kam ich damit nicht. In dem Augenblick, als sie sah, dass ich sie anlächelte und ihr von unten zuwinkte, verschwand sie. Wusch, weg war sie. Aber nicht schnell genug, um den Ausdruck des Erschreckens auf ihrem Gesicht zu verbergen.

Im Gegensatz zu den anderen hatte sie mich gesehen. Und da ich nichts anderes hatte, an das ich mich halten konnte, war das bereits ein Fortschritt für mich. Zumindest ein Anfang.

Ich schlängelte mich an den Gladiatoren vorbei, duckte mich und wich ihren wild durch die Luft zischenden Schwertern aus und blieb schließlich neben dem Kämpfer stehen, den das Mädchen beäugt hatte. Jetzt fragte ich mich, warum er mir nicht vorher schon aufgefallen war.

Aus diesem Blickwinkel sah er noch größer aus, als ich ihn geschätzt hatte. Er überragte die anderen um gute dreißig Zentimeter. Wahrscheinlich war das der Grund, warum er nicht so gedrungen wirkte. Damit will ich nicht sagen, dass er nicht stark war, denn das war er mit Sicherheit. Der Umfang von nur einem seiner Bizepse schien größer als der meiner beiden Beine zusammen. Seine Haut trug zwar einige Kampfspuren, aber im Gegensatz zu den Narben, die ich bei seinen Kampfgefährten gesehen hatte, wirkten sie eher unauffällig.

Er ließ sein Schwert auf den Boden fallen, wischte sich mit der Hand den schimmernden Schweißfilm von der Stirn und schob sich die dunklen Locken aus den Augen. Obwohl seine Nase offensichtlich ein- oder zweimal gebrochen worden war, trug sein gebräuntes Gesicht ebenmäßige Züge und wirkte für einen Mann mit diesem Beruf erstaunlich unversehrt. Unwillkürlich schoss mir der Gedanke durch den Kopf, dass er zu einer anderen Zeit und an einem anderen Ort – in einem moderneren Zeitalter und in einer moderneren Umgebung – wahrscheinlich auf den Titelseiten vieler Magazine und auf der Kinoleinwand zu sehen wäre. Im alten Rom verdankte er seinen Ruhm jedoch ausschließlich den grausigen Taten, die er mit seinem Schwert vollbracht hatte.

Ich spürte, dass mir nur wenige Sekunden blieben, bevor er seine Übungen wieder aufnehmen würde. Gerade wollte ich ihn ansprechen, als er sich zu mir umdrehte. Seine topasfarbenen Augen verwirrten mich so sehr, dass es mir meine vorbereitete Rede verschlug und ich stattdessen nur ein peinliches Gestammel hervorbrachte. »Äh, hi. Entschuldige, wenn ich dich störe.« In einem schwachen Versuch, freundlich zu erscheinen, fuhr ich mit der Hand durch die Luft und winkte ihm zu. »Bist du zufällig Theocoles … äh, du weißt schon … der Typ, den man Säule der Verdammnis nennt?«

Er schnaubte verächtlich, räusperte sich und besaß die Frechheit, mir einen fetten Schleimklumpen entgegenzuspucken.

Der glibberige Brocken landete genau an der Stelle, wo ich noch vor wenigen Sekunden gestanden hatte, bevor ich mich, nach Luft schnappend, in Sicherheit brachte.

Ich schaute zwischen ihm und dem ekligen Glibber hin und her. »Was fällt dir ein?«, rief ich. Ich schüttelte den Kopf und spürte, wie meine Wangen sich röteten. »Ich meine, ernsthaft! Ich habe zwar kapiert, dass du aus einem anderen, viel barbarischeren Zeitalter stammst, und ich nehme an, dass wir wohl eine unterschiedliche Auffassung von Manieren haben, aber du musst doch zugeben, dass das ausgesprochen unhöflich war!«

Er bückte sich, hob eine Hand voll Erde auf und rieb sich damit die Handflächen ab, bevor er sein Schwert wieder aufnahm und auch den Griff damit einrieb. Er benahm sich, als würde er mich nicht sehen. So, als hätte er mich nicht soeben auf die schlimmste Art und Weise beleidigt.

Ich wollte ihm gerade richtig die Meinung sagen, als ich hinter mir eine sanfte Stimme hörte. »Ich befürchte, er kann dich nicht hören.«

Ich drehte mich um und sah das Mädchen von der Balustrade vor mir.

»Er kann dich auch nicht sehen. Also nimm es ihm bitte nicht übel.« Sie sah zwischen mir und dem Gladiator hin und her. »Theocoles sieht nur, was er sehen will. Du und ich sind unsichtbar für ihn.«

Ich runzelte die Stirn, warf ihm einen finsteren Blick zu und wandte mich dann wieder an das Mädchen. »Anscheinend bin ich hier für jeden unsichtbar, nur für dich nicht. Wie kommt das?«

Ich verschränkte die Arme vor der Brust und musterte sie eingehend, wobei ich feststellen musste, dass ihre Nähe den Unterschied zwischen uns beiden nur noch verstärkte. Und obwohl ich mich bemühte, mich nicht klein und unbedeutend und in ihrer Gegenwart vollkommen unterlegen zu fühlen, wollte mir das nicht so recht gelingen.

Sie war groß – ich war winzig.

Sie war hübsch – ich musste mich damit zufriedengeben, niedlich auszusehen.

Sie war wohl proportioniert und mädchenhaft – ich war dünn, beinahe mager und einfach viel zu klein.

Ihre Kleidung war zwar total altmodisch, dennoch musste ich zugeben, dass ihr diese wunderschöne rote Robe ausgezeichnet stand.

Ich konnte es nicht leugnen – sie stellte mich auf jede nur erdenkliche Weise total in den Schatten. Sie war ein strahlender Stern, während ich nur ein winziger Planet war, so unwichtig, dass er noch nicht einmal einen Namen hatte.

Ihre melodiöse Stimme riss mich aus meinen Gedanken. »Leider sind alle, die du hier siehst, im Jenseits ebenso versklavt, wie sie es in ihrem Leben vor dem Tod waren.« Sie hielt inne und verzog ihre perfekt geformten, rosafarbenen Lippen. »Sie weigern sich, loszulassen und weiterzuziehen.«

Ich zog eine Augenbraue in die Höhe. Damit eröffnete sie mir nichts Neues. Das war das gleiche alte Lied – eine Situation, die mir nur allzu vertraut war. Alle Geister, die ich bisher kennen gelernt hatte, waren in ihrem Leben versklavt gewesen und hatten sich dagegen gewehrt, ihre Vergangenheit ruhen zu lassen – und alle hatten behauptet, dass sie eine Reihe sehr guter Gründe für ihren Entschluss, noch länger hier zu verweilen, hätten. Ähnlich wie ich auch, als ich auf der Erdebene herumspukte.

»Und du?«, fragte ich. So schnell ließ ich nicht locker. »Warum bist du immer noch hier? Warum bist du nicht weitergezogen?« Ich wartete auf ihre Antwort, aber sie biss sich nur auf die Unterlippe und schaute rasch zur Seite. »Ich meine, ich gehe davon aus, dass du von der Brücke weißt, die auf die andere Seite führt, richtig?« Ich neigte den Kopf zur Seite, so dass mir mein Haar in die Augen fiel. Aber je länger ich auf eine Reaktion von ihr wartete, umso undurchdringlicher wurde ihr Schweigen. »Ich meine, ich habe nicht vor, dich dort hinzubringen oder so. Das gehört nicht zu meiner Aufgabe. Ich bin einfach nur neugierig – das ist alles.«

Ich schob mir den Pony aus der Stirn und sah mich besorgt um. Der große Rat bekam alles mit, was vor sich ging. Also nahmen sie hoffentlich zur Kenntnis, dass ich meine Lektion gelernt hatte. Dass ich kein Interesse mehr daran hatte, mir eigene Aufgaben zu suchen und vielleicht sogar Seelen zu fangen, die mich gar nichts angingen. Nur Theocoles hatte mich zu interessieren. Er war der Einzige, den ich bei meinem Besuch in Rom davon überzeugen musste, die Brücke zu überqueren.

Trotzdem nahm ich an, dass es nicht schaden konnte, die Brücke zumindest zu erwähnen. Nur für den Fall, dass sie noch nichts darüber wusste … oder so.

Sie drehte sich zu mir um, kniff ihre dunklen Augen zusammen und betrachtete mich eingehend. Sie fuhr sich mit der Hand durch das Haar und wickelte eine Strähne um eine Fingerspitze. »Es überrascht mich, dass sie dich geschickt haben«, meinte sie und sah mich prüfend an. »Du bist offensichtlich viel jünger als die vorherigen Seelenfänger. Tatsächlich viel jünger.«

Falls sie mich damit beleidigen wollte, hatte sie Pech – das funktionierte nicht. Ich zuckte mit den Schultern und nahm ihre Bemerkung gelassen hin – zumindest tat ich mein Bestes, diesen Eindruck zu vermitteln.

»Der Letzte, den sie schickten, war viel älter. Und übrigens auch viel größer. Er passte sehr gut zu den anderen. Wenn ich es mir recht überlege, hat er sich vielleicht sogar ein wenig zu gut eingefügt. Immerhin hat er den Weg nach draußen nicht mehr gefunden …« Sie schürzte die Lippen und neigte ihren Kopf in Richtung der Gladiatoren, die keuchend übereinander herfielen. Ihre Locken fielen ihr über die Schulter, als sie hinzufügte: »Er ist immer noch hier. Irgendwo. Manchmal läuft er mir über den Weg. Oder sollte ich sagen, sie laufen mir über den Weg. Du kannst mir glauben – er ist nicht der Einzige, der hier von seinem Weg abgekommen ist.«

Sie gab sich alle Mühe, um mich einzuschüchtern, also musste ich ihr gleich von Anfang an etwas klarmachen. Ich mochte zwar jung und mickrig aussehen und scheinbar überhaupt nicht dafür geeignet sein, mit einem Geist fertigzuwerden – schon gar nicht mit dem Geist eines Gladiators –, aber der große Rat hielt mich aus irgendeinem unerfindlichen Grund dafür geeignet. Und das bedeutete, dass ich mir trotz meines äußeren Erscheinungsbilds bereits einige Verdienste im Seelenfang erworben hatte, und das sprach für mich.

»Ich weiß von den anderen«, erklärte ich und verschränkte abermals die Arme vor der Brust.

»Tatsächlich?« Ihre Worte klangen so leise, dass ich sie kaum verstehen konnte. Als sie fortfuhr, hob sie leicht die Stimme. »Nun, wenn das so ist … Auf jeden Fall bist du das erste Mädchen, dass sie jemals in diese Gegend geschickt haben. Und das finde ich sehr interessant. Du etwa nicht?«

Ich erwiderte ihren Blick und verzog leicht die Lippen, als wäre das für mich nur von geringem Interesse, wenn überhaupt.

Ich beobachtete, wie sich unvermittelt ein Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitete. »Obwohl, wer weiß?«, fügte sie hinzu. »Das ist so ungewöhnlich, dass es möglicherweise sogar funktionieren könnte!« Einen kurzen Augenblick lang erhellte sich ihr Gesicht, und sie strahlte mich an, aber dann wurde sie sofort wieder ernst. »Obwohl es mir doch etwas zweifelhaft erscheint.«

Ich hatte genug gehört. Ich meine, schließlich war ich nicht den weiten Weg hierhergekommen, um sie von mir zu überzeugen. Mein Selbstvertrauen stand ohnehin auf wackeligen Beinen, und das Letzte, was ich brauchte, war eine Glitzerprinzessin in einem schicken roten Kleid, die mir das kleine bisschen, was mir noch geblieben war, zerstörte.

Ich schüttelte den Kopf, kniff die Augen zusammen und war kurz davor, eine dieser abgedroschenen Phrasen von mir zu geben, wie: Beurteile nie einen Menschen nach seinem Äußeren!

Oder: Das Gute liegt oft im Kleinen!

Oder: Du wirst dich noch wundern – lass dich überraschen!

Doch bevor ich dazu kam, trat sie auf mich zu. Sie überbrückte die kleine Distanz zwischen uns, indem sie mir die Hand reichte. »Es gibt nur eine Möglichkeit, es herauszufinden«, sagte sie.

Ich schluckte einen Mund voll staubiger Luft und starrte auf ihre ausgestreckte Hand. Mir war bewusst, dass ich jetzt an dem Punkt angelangt war, an dem ich mich üblicherweise, wenn auch nicht immer, kopfüber in eine Menge Schwierigkeiten stürzte.

Trotzdem lächelte ich, als ich ihre Hand in meine nahm.

Ich meine, es war genau so, wie sie gesagt hatte – es gab nur eine Möglichkeit, um es herauszufinden, und irgendwo musste ich anfangen.