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DREI

Ich kauerte auf der Erde, schützte mich mit den Armen und legte meinen Kopf auf die Knie. Ich wollte mich so klein wie möglich machen, um kein Angriffsziel für die zornigen Geister darzustellen. Sie boxten mit ihren Fäusten in die Luft, brüllten und schrien einem unsichtbaren Feind eine Reihe Drohungen entgegen. Ihre Worte erklangen in einer Sprache, die, ähnlich wie sie selbst, bereits vor Jahrhunderten ausgestorben war, aber ihre Botschaft war trotzdem deutlich zu verstehen. Jeder Einzelne von ihnen ging so sehr in seinen Erinnerungen auf, dass er allen anderen gegenüber blind war.

Als ich eine freie Stelle in der Menge erspähte, sprang ich auf, wurde aber sofort von einem riesigen Geist, der an mir vorbeistampfte, wieder umgestoßen. Der Hüne machte sich nicht einmal die Mühe, kurz stehen zu bleiben oder wenigstens sein Tempo zu drosseln, als seine Schulter mit voller Wucht mein Kinn traf.

»Hey – pass doch auf!«, rief ich, verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf, während ich mich wieder aufrappelte. »Ich meine, ich habe schon kapiert, dass du zigtausend Mal größer bist als ich, aber musst du deshalb so grob sein?«

Ich runzelte die Stirn, stemmte die Hände in die Hüften und starrte ihm wütend hinterher. Er sollte sich umdrehen und sich bei mir entschuldigen, so wie ich das verdiente, aber er ging einfach weiter und nahm mich ebenso wenig wahr wie den ohrenbetäubenden Lärm um uns herum. Geräusche, die nicht nur laut und unangenehm waren, sondern sich, zumindest zu Beginn, nicht einordnen ließen. Es dauerte jedoch nicht lange, bis ich einiges heraushören konnte. Ich erkannte Laute, die Hunger, Schmerz und unkontrollierbare Wut ausdrückten  – in anderen Worten, Laute, die für Versklavung standen. Ich hatte sie schon einmal gehört.

Unaufhörlich und andauernd. Die einzige erleichternde Unterbrechung war ein kurzer Ausbruch eines Gelächters, der jedoch sofort wieder verstummte. Ich konnte mir allerdings nicht vorstellen, worüber man hier in diesem schrecklichen, scheinbar unterirdischen Gefängnis lachen konnte.

Ich klopfte mir den Staub von meiner Jeans und machte mich wieder auf den Weg. Nach allem, was ich bisher von dem Ludus gesehen hatte, war mir klar, dass ich hier nicht länger als unbedingt nötig bleiben wollte. Ich war fest entschlossen, diesen Theocoles so schnell wie möglich zu finden, ihn rasch über die Brücke zu schicken und dann von hier zu verschwinden.

Allerdings war es nicht annähernd so einfach, den Meistergladiator zu finden, wie ich gedacht hatte, vor allem, weil ich keine sehr gute Beschreibung von ihm hatte. Das wenige, was Bodhi mir über ihn gesagt hatte – groß, stark, robust, einschüchternd, temperamentvoll –, war nur eine allgemeine Typbeschreibung, die auf jeden der Geister, die diesen Ort heimsuchten, zutraf.

Auf den ersten Blick sahen sie alle gleich aus. Ein Haufen von muskelbepackten, dreckigen Männern mit fettigem Haar, die so oft aufgeschlitzt und wieder zusammengeflickt worden waren, dass ihre Haut einer billigen Lederhandtasche glich. Alle hatten Hände wie Schaufeln  – so groß und fleischig, dass sie mit einer schnellen Drehung des Handgelenks leicht jemanden umbringen konnten.

Sie marschierten in einer nicht enden wollenden Parade von furchtlosen Kriegern und Kämpfern an mir vorbei. Und als ich versuchte, sie als Einzelpersonen wahrzunehmen, tanzte einer von ihnen aus der Reihe, ich verlor den Überblick, und alle verschwammen wieder zu einer Masse.

Ich hatte mich wohl nur darauf konzentriert, mit Theocoles fertigwerden zu müssen, und deshalb war es mir gar nicht in den Sinn gekommen, dass sich hier außer ihm noch viele andere verlorene Seelen aufhalten könnten. Allerdings hätte ich es mir denken können. Orte aus alten Zeiten, an denen sich grauenhafte Gewaltakte abgespielt hatten und Menschen unterdrückt worden waren, wurden sehr oft von wütenden Geistern heimgesucht, die Gerechtigkeit forderten, bevor sie weiterzogen.

Ich schlich vorsichtig weiter und blieb zuerst im Schatten der Mauern, um möglichst wenig aufzufallen und niemandem im Weg zu stehen. Ich redete mir ein, dass mir nichts passieren würde, solange ich den stoßenden Ellbogen und schwingenden Fäusten auswich. Auf meinem Weg an den Mauern entlang steckte ich den Kopf in eine Reihe von kleinen, schmalen Räumen, die, wie ich annahm, die Schlafkammern der Gladiatoren waren. Sie waren so ziemlich das genaue Gegenteil von meinem eigenen, vor Kurzem renovierten Schlafzimmer im Hier und Jetzt, in dem es jeglichen modernen Komfort und alle Annehmlichkeiten gab, die ich mir erträumen konnte. (Und das meine ich wörtlich, denn ich hatte alle Einrichtungsgegenstände selbst manifestiert.) Die Kammern konnte man nur als trostlos bezeichnen. Die Böden bestanden aus festgestampftem Lehm, und an jeder Wand stand ein Bettgestell aus grobem Holz. Und das war’s dann auch schon – mehr gab es darin nicht. Es überraschte mich nicht, dass alle diese Räume leer waren.

So ist das eben bei Geistern – sie schlafen kaum und weigern sich meistens sogar, sich auszuruhen. Sie sind viel zu sehr damit beschäftigt, ihre Vergangenheit nachzuvollziehen, und gönnen sich keine Zeit für irgendwelche Freizeitaktivitäten. Bei diesen Geistern verhielt es sich offensichtlich nicht anders. Sie streiften durch die Gemäuer und schrien und brüllten dabei. Je länger ich sie beobachtete, umso größer schien ihre Zahl zu werden, und ich fragte mich, ob es mir jemals gelingen würde, in dieser Menge Theocoles zu entdecken.

Mir war klar, dass ich irgendwo anfangen musste, also begann ich, an Tunikas zu zupfen und gegen Ellbogen zu tippen und dabei jedes Mal die gleiche Frage zu stellen: Weißt du, wo ich Theocoles finden kann, den Gladiator, den sie die Säule der Verdammnis nennen?

Und jedes Mal erlebte ich die gleiche Reaktion: Ein ausdrucksloses Starren, das nur bestätigte, was ich bereits wusste – für diese Geister war ich unsichtbar.

Ich bog um eine Ecke, ging durch eine Reihe von kurzen Gängen und hatte gerade einen weiteren betreten, als ich wie angewurzelt an dem Eingang zu einem Raum stehen blieb. Der Anblick war so grauenhaft, dass ich entsetzt nach Luft rang und mir die Hand vor den Mund schlug, um nicht laut aufzuschreien.

Ich spähte in die Dunkelheit und ließ meinen Blick von den rauen, blutbefleckten Wänden zu dem Haufen von schwer verletzten Gladiatoren wandern, die auf groben Brettern lagen. Sie warfen ihre Körper gegen die massiven Ketten, mit denen sie an Fuß- und Handgelenken gefesselt waren, und stöhnten, klagten und heulten vor Schmerz – ein Chor der Qualen, der sich so furchtbar anhörte, dass ich unwillkürlich vor Angst zu zittern begann.

Es handelte sich um eine Folterkammer, um ein Schreckenskabinett, da war ich mir sicher. Doch es dauerte nicht lange, bis sich meine Augen an das dämmrige Licht gewöhnt hatten, und ich sah, dass ich mich getäuscht hatte  – das war es ganz und gar nicht.

Es war ein Krankenhaus, ein Hospital, ein altertümliches Sanatorium, geführt von einem kleinen, dunkelhaarigen Mann, den ich für einen Arzt hielt oder für einen Mediziner, oder wie auch immer sie diese Leute damals genannt haben mochten. Ich zuckte unwillkürlich zusammen, als ich beobachtete, wie er die Verletzungen der Gladiatoren mit einer Reihe von merkwürdigen Pasten und Salben und anderen seltsamen Mixturen behandelte, die noch schrecklicher stanken als die Flüssigkeiten, die aus den infizierten Wunden sickerten.

Obwohl er offensichtlich sein Bestes tat, um den Verletzten zu helfen, wirkte das Ganze für mich wie eine Szene aus einem Horrorfilm – eine Szene, vor der ich verzweifelt fliehen wollte. Ich rannte los, so schnell ich konnte, nahm zwei Stufen auf einmal und verlangte meinen Beinen beinahe mehr ab, als sie leisten konnten – ich wünschte, ich könnte den entsetzlichen Bildern, die immer wieder vor meinem geistigen Auge aufflackerten, einfach davonlaufen.

Als ich endlich den Treppenabsatz erreicht hatte, blieb ich neben einer massiven Steinsäule am Eingang eines offenen, im Schatten liegenden Raums stehen. Eine Reihe von Gladiatoren saß auf langen Holzbänken. Sie beugten sich über flache Holzschalen und schlürften gierig eine Art klumpigen Haferbrei, also nahm ich an, dass das die Schulkantine war. Obwohl hier im Gegensatz zu der Krankenstation kein Blut oder offene Wunden zu sehen waren, war der Raum auf seine eigene Weise schaurig. Wieder einmal wunderte ich mich über die Logik einiger dieser Geister – ich konnte nicht einmal ansatzweise begreifen, warum sich jemand freiwillig dafür entschied, an einem solch schauderhaften Ort zu bleiben.

Nur einige Meter entfernt entdeckte ich die Trainingsarena und ging darauf zu. Ich presste meine Hand gegen die Stirn und schirmte meine Augen gegen das gleißende Licht ab. Als ich mich umschaute, bemerkte ich, dass es auch hier, wie in den Zellen, der Krankenstation und der Kantine, von Geistern wimmelte.

Sie ließen ihre Trainingsschwerter aus Holz durch die Luft sausen, stießen ihre runden, hölzernen Schutzschilde vor sich her und schlugen auf unbekannte Gegner ein. Ich sah mich rasch um und versuchte, Theocoles in der Menge zu entdecken. Wenn ich eine Chance hatte, ihn in diesem Ludus zu finden, dann hier. Zumindest schien mir das für einen ungeschlagenen Champion der richtige Ort zu sein.

Mein Problem war allerdings, dass ich überhaupt keine Ahnung hatte, wie das hier alles ablief, und deshalb auch nicht beurteilen konnte, wer von diesen Gladiatoren der Beste sein könnte – wer der Champion war und den Titel Säule der Verdammnis verdienen könnte. Sie wirkten alle sehr verbissen, furchtlos und wild entschlossen, jeden unglückseligen Gegner, der ihnen im Weg stand, zu vernichten. Alle hatten anscheinend ein mitleidloses Verlangen danach, zu töten, zu metzeln, zu zerfetzen und zu zerstören – es flackerte wie Kerzenlicht in ihren Augen.

Ich wollte gerade aufgeben und zum Kolosseum hinübergehen, um dort mein Glück zu versuchen, als ich etwas vollkommen Unerwartetes sah. Ich zwang mich dazu, ein paar Mal zu blinzeln, um sicherzugehen, dass es sich nicht um eine Art Fata Morgana handelte, und um auszuschließen, dass ich das nicht nur träumte.

Es war ein Mädchen.

Ein wunderschönes, dunkelhaariges Mädchen stand an einer Balustrade, von der aus sie einen Blick über die Arena hatte.

Das einzige Mädchen an diesem Ort außer mir.

Im Gegensatz zu mir war sie jedoch für diese Zeit viel passender angezogen. Während ich Jeans, ein (supersüßes) T-Shirt und meine Lieblingsballerinas anhatte, trug sie ein hinreißendes Seidenkleid, das fließend ihre Beine umspielte und bis auf den Boden reichte.

Ich musterte sie eingehend und bewunderte ihre zarte, olivfarbene Haut und ihren glänzenden dunklen Haarschopf. Eine glitzernde, mit Edelsteinen besetzte Spange hielt ihr Haar am Scheitel zusammen, so dass es in dichten Locken über die Schultern bis zur Taille herabfiel.

Sie ließ eine Hand über ihr kunstvoll gefertigtes Kleid gleiten und konzentrierte sich wieder auf die Gladiatoren in der Arena. Sie zupfte mit ihren langen, schlanken Fingern an der goldbestickten Schärpe an ihrer Taille und sah dabei so elegant und wunderschön aus, so anmutig und edel, dass mir einfach nicht in den Kopf wollte, was sie an einem so schrecklichen und schmutzigen Ort verloren hatte.

Zumindest dachte ich das, bis ich genauer hinschaute und bemerkte, dass ihr Interesse einem bestimmten Gladiator galt. Die Anspannung in ihrem Blick verriet mir, dass er etwas ganz Besonderes war – nicht nur für sie, sondern für alle in der Arena. Ich folgte dem Blick ihrer funkelnd braunen Augen, bis ich einen Gladiator entdeckte, der aus der Masse herausragte. Er war größer und stärker, und seine Bewegungen wirkten sowohl kräftig als auch anmutig. Und er unterschied sich gewaltig von den anderen, die keuchend um sich schlugen und große Staubwolken aufwirbelten.

Seine Haltung und sein Auftreten wiesen auf eine Überheblichkeit hin, die sich nur ein Champion leisten konnte.

In diesem Moment wurde mir klar, dass ich soeben Theocoles gefunden hatte.