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DREIUNDZWANZIG

Das verstehe ich nicht.« Sie sah zwischen Theocoles und mir hin und her, und ihre Miene wirkte voreingenommen und verächtlich. »Wie soll das funktionieren? Er reagiert nur auf das Geschrei der Menge – je lauter, umso besser für ihn. Warum sollte er auf etwas achten, das er nicht einmal hören kann? Etwas, was mit Sicherheit in diesem Lärm untergeht?«

»Weil in der Stille manchmal mehr Kraft liegt als im Getöse«, erwiderte ich und versuchte verzweifelt, ihr zu vermitteln, was ich selbst soeben erst begriffen hatte. »Manchmal findet man alles, was man wissen muss, in der Ruhe. Manchmal lassen wir uns so sehr von dem Lärm und von dem Bedürfnis, anderen gefallen zu wollen, ablenken, dass wir den Kern der Wahrheit vergessen, der in unseren Herzen ruht. Aber nur, weil wir vergessen haben, daran zu denken, heißt das nicht, dass diese Wahrheit nicht mehr da ist. Theocoles liebt dich. Ich weiß es, weil ich euch in seiner Kammer beobachtet habe. Und ich habe seinen Blick gesehen, den er dir schenkte, als er in der Arena zusammenbrach …«

»Ja, und wegen dieses Blicks weigert er sich jetzt, mich noch einmal anzuschauen.« Sie schüttelte den Kopf und verschränkte die Arme vor der Brust. »Es tut mir leid, Riley. Ich weiß, dass du nur versuchst, mir zu helfen, und das ist wirklich erstaunlich, nach alldem, was ich dir zugemutet habe, aber du verstehst einfach den Sinn nicht, der …«

»Ich habe auch keinen Sinn darin gesehen, an dem Tag, an dem wir uns kennen lernten, das blaue Kleid anzuziehen. Und ich habe keinen Sinn darin gesehen, eine neue und verbesserte Version meiner Person zu manifestieren. Aber letzten Endes hat es funktioniert, und ganz gleich, wie sich die Dinge entwickelt haben, war ich sehr glücklich darüber.« Ich nickte und wollte ihr zeigen, dass das tatsächlich der Wahrheit entsprach, aber sie tat meine Worte rasch ab.

»Das war etwas anderes – ich hatte keinen Einfluss auf den Ausgang des Geschehens.« Sie zuckte die Schultern und sah zur Seite.

»Ach ja?« Ich zog meine Augenbrauen hoch. »Ich meine, ich war diejenige, die sich ein Idealbild von meinem Aussehen erschuf – nicht du. Hatte ich also nicht auch einen gewissen Einfluss auf das darauffolgende Geschehen?«

Auf ihrem Gesicht zeichnete sich ab, dass ihr allmählich etwas klar wurde.

»Versuch es«, forderte ich sie auf. »Du hast nichts zu verlieren, also kann ein Versuch nichts schaden, oder?«

Sie nickte, strich ihr wunderschönes pinkfarbenes Kleid glatt, zupfte an ihren Locken und rückte ihre Halskette und ihre Ringe zurecht, bevor sie auf ihn zuging. Sie stellte sich neben ihn, als er verwirrt murmelnd auf seine eigene Leiche starrte, und tat genau das Gegenteil von dem, was ich ihr soeben geraten hatte.

Anstatt ruhig und vorsichtig auf ihn zuzugehen, wandte sie sich an die Menge, legte den Kopf in den Nacken, breitete die Arme aus und versetzte das Publikum in einen hemmungslosen Rausch, bis alle im Stadion laut brüllten: Theocoles! Theocoles! Lang lebe Theocoles, die Säule der Verdammnis!

Der Chor erschallte immer wieder, bis Theocoles stehen blieb und die lärmende Bewunderung zur Kenntnis nahm. Er sah sich aufgewühlt um, warf seinen Kopf zurück, streckte die Arme aus und genoss den Applaus.

»Was tut sie da?«, fragte Bodhi und trat neben mich.

Ich schüttelte den Kopf. Das Wort Enttäuschung reichte nicht annähernd aus, um zu beschreiben, was ich in diesem Moment fühlte.

»Aber die wichtigere Frage ist, was du tust«, fuhr er fort und musterte mich aufmerksam.

Ich sah ihn verwirrt an, nicht sicher, was er damit meinte.

»Du überlässt deinen Seelenfang einem Geist, der dich ausgetrickst hat?« Er runzelte die Stirn. »Die Riley Bloom, die ich kenne, würde so etwas niemals zulassen. Sie würde nicht einmal daran denken, auf diesen Ruhm zu verzichten.«

Ach so, das.

Ich nickte und zuckte die Schultern. »Wahrscheinlich hielt ich es einfach für das Richtige. Du weißt schon, für reifes Verhalten. Aber möglicherweise habe ich sie falsch eingeschätzt.«

Ich schloss meine Augen, um mich besser auf die Stimme in meinem Kopf konzentrieren zu können. Auf die Stimme, die mich wegen meiner Dummheit schalt und mir vorwarf, dass ich jemandem vertraut hatte, der mich bereits mehrere Male hereingelegt hatte. Aber plötzlich tauchte ein neuer Gedanke auf und brachte die Stimme zum Schweigen.

Was ich gerade tat, war das Gleiche, was Theocoles seit vielen Jahrhunderten tat. Ich konzentrierte mich auf meinen verletzten Stolz, mein angeschlagenes Ego, mein beschädigtes Selbstbild und meine gekränkte Eitelkeit – und ich war so fixiert darauf, dass ich die stille Wahrheit, die darunter verborgen war, ignorierte. Und sobald ich den Lärm in meinem Kopf abgestellt hatte, hörte ich, dass sich auch der Lärm in der Arena gelegt hatte.

Messalina hatte schließlich doch meinen Rat angenommen.

Theocoles stolperte taumelnd über den Sand und suchte nach seinem Helm, seinem Schwert und seinem Schild, bereit, seine endlose Routine wieder aufzunehmen.

Aber als er nach seinen Sachen griff, ließ Messalina einen Gegenstand nach dem anderen verschwinden, bis er sich verwirrt um seine eigene Achse drehte und nicht wusste, was er nun tun sollte.

»Ich weiß, du möchtest sie gern hören«, flüsterte sie und deutete auf das Publikum. Schnell füllte sie die Ränge mit einer jubelnden, klatschenden Menge und beobachtete, wie Theocoles’ Augen bei diesem Anblick und dem Geräusch aufleuchteten. Und als sie die Menge wieder verschwinden ließ, erlosch dieser Ausdruck in seinen Augen sofort. »Aber ich habe dir viel zu lange nachgegeben, und nun hoffe ich, dass du mir statt ihnen zuhörst.«

Er ging an ihr vorbei und rempelte sie dabei an, ohne sie überhaupt wahrzunehmen. Sie wandte sich mir zu. Ihr Gesicht wirkte verzweifelt, und sie suchte nach Ermutigung und Zustimmung, die sie sofort von mir bekam.

»Ich habe so lange versucht, dich zu erreichen«, fuhr sie fort. »Es gibt so vieles, was ich dir sagen möchte – über die vielen Dinge, die dir etwas bedeutet haben, die Ziele, für die du gekämpft hast. Und obwohl du sie anscheinend vergessen hast, dich davon abgewandt hast und dich nicht mehr dafür zu interessieren scheinst, möchte ich dich wissen lassen, dass ich nach deinem Tod für die Freilassung deines Bruders gesorgt habe. Ich habe dir gesagt, dass ich das Geld dafür aufbringen würde, und dass du nicht dafür kämpfen musst, und ich habe meine Versprechen gehalten. Ich habe ihn aus den Minen herausgeholt, und ich freue mich, dir sagen zu können, dass Lucius ein langes und erfülltes Leben hatte. Ich habe auch ein Denkmal zu deinen Ehren errichten lassen. Eine Büste von dir mit einer Namensplakette darunter, damit niemand vergaß, wer du warst – der ehemals amtierende Champion des Kolosseum. Sie stand sehr lange außerhalb dieser Mauern, Hunderte Jahre. Leider ist sie kurz nach dem Untergang umgestürzt. Ja, das Reich ist gefallen.« Sie lächelte. »Vieles hat sich geändert. Manche Teile Roms sind nicht mehr wiederzuerkennen, und andere sind immer noch wie damals. Du hast zwar außer dem Ludus nie viel gesehen, aber du bist nicht mehr gezwungen, hierzubleiben. Die Entscheidung liegt bei dir. Aber wenn du beschließt, hierzubleiben, dann musst du das alleine tun.« Sie warf mir über die Schulter einen Blick zu und fuhr fort. »Ich habe genug von dieser ewigen, langweiligen Routine. Es tut mir leid, dass du dich nie dazu überwinden konntest, mir zu verzeihen. Aber vielleicht ist es an der Zeit, dass ich mir selbst vergebe. Möglicherweise muss ich endlich weiterziehen.«

Sie trat auf ihn zu, packte ihn an den Schultern und sah ihm fest in die Augen. Dann wiederholte sie die Worte, die ich ihr vor wenigen Augenblicken vorgesagt hatte. »Ich wünschte, du würdest lernen, den Lärm der Menge auszublenden, und stattdessen auf das Flüstern der Wahrheit hören, das in deinem Herzen wohnt.«

Er versuchte, an ihr vorbeizugehen und sein Schwert zu suchen, aber Messalina hielt ihn fest. Sie umklammerte seine Arme, während sie den Text, den ich ihr vorgegeben hatte, zu Ende sprach. »Dein Herz weiß immer, was wichtig ist. Es weiß, wohin es dich führen muss. Es ist rein und vertrauenswürdig, aber es wird nie laut schreien, um gehört zu werden. Es wird immer nur flüstern. Und wenn du lernst, darauf zu achten und es anzuhören, wirst du dich auf dieser Welt niemals verloren fühlen.«

Er schob sie zur Seite, machte einen Satz nach vorne und taumelte über den Sand. Frustriert sank ich in mich zusammen. Ich wusste, dass sie ihr Bestes gegeben hatte – besser hätte ich es auch nicht machen können. Wahrscheinlich war das eine verlorene Seele, die keiner von uns über die Brücke führen konnte.

Ich wandte mich mit widerstreitenden Gefühlen zum Gehen und bedeutete Bodhi, mir zu folgen. Ich wusste zwar, dass ich alles getan hatte, was in meiner Macht stand, aber das machte es nicht leichter. Es war mir schon immer schwergefallen, mit Niederlagen umzugehen.

Unwillkürlich dachte ich an die Worte, die Bodhi mir auf meine Reise mitgegeben hatte. Er hatte einen alten Spruch von Gandhi zitiert: »Voller Einsatz bedeutet vollkommener Sieg.« Und obwohl ich die Bedeutung verstand, war ich nicht in der Stimmung, einen Versuch zu feiern, der mich nicht zum Ziel gebracht hatte – das passte nicht zu mir.

Ich sah Bodhi an und versuchte, mir nicht anmerken zu lassen, wie beschämt ich war. Dabei übersah ich, dass er aufgeregt gestikulierte und hinter mich deutete, bis er schließlich sagte: »Schau doch!«

Ich drehte mich um und sah, dass Theocoles die Augenbrauen nach oben zog und verblüfft beobachtete, wie Messalina quer durch die Arena ging.

Im Kolosseum war es so still, dass man den Flügelschlag eines Schmetterlings hätte hören können. Bis Theocoles’ leidenschaftlicher Aufschrei die Stille zerriss. »Messalina!«

Sie drehte sich auf dem Absatz zu ihm um und blieb ganz still stehen. Ihre Augen waren geweitet, und auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck verhaltener Hoffnung, als könnte sie kaum glauben, dass der Moment, auf den sie so lange gewartet hatte, endlich gekommen war.

»Messalina – wo bin ich?« Er schaute sich verwirrt um. »Wo sind sie alle hingegangen?« Er deutete auf die Arena, die einmal voller Menschen gewesen war, und nun ganz leer vor ihm lag.

»Nach Hause«, erwiderte sie seufzend. »Sie haben das Kolosseum schon vor langer Zeit verlassen. Wir sind die Einzigen, die noch hier sind. Na ja, wir sind ohnehin die Einzigen, die von damals übrig geblieben sind.«

»Und Lucius? Er ist frei? Ist es wahr, was du gesagt hast?«

Sie nickte und ging auf ihn zu, bis sie nur noch einige Zentimeter von ihm entfernt war. »Ja.«

»Und ich … ich bin auch frei?«

Sie schloss die Augen und ließ die Frage auf sich wirken, bevor sie ihn wieder ansah. »Ja. Endlich. Nach vielen Jahrhunderten bist du nun frei. Das heißt, wenn du dich dazu entschließt. Letztendlich liegt es bei dir.«

»Und unsere Zukunft?«

Sie lächelte hoffnungsvoll, und in ihren Augen glitzerten Tränen. »Sie gehört uns, wenn wir dafür bereit sind.«

Er streckte die Arme nach ihr aus und umfasste mit seinen riesigen, groben Händen ihre Wangen auf eine so zärtliche Weise, wie ich es niemals für möglich gehalten hätte. Er sah sie an, als wäre sie ein kostbares Trugbild, das möglicherweise gleich wieder verschwinden könnte.

»Und dein Onkel – ist er mit unserer Verbindung einverstanden?« Er fuhr ihr mit seinen Daumen leicht über das Gesicht und sah ihr in die Augen, als wäre kaum Zeit vergangen und er gerade von einem kurzen Schlaf aufgewacht.

»Nein.« Sie schüttelte den Kopf und hob ihre Hand, um ihre Finger auf seine zu legen. »Leider ist ihm dieser Gedanke nie in den Sinn gekommen. Aber das spielt keine Rolle mehr. Es gibt nur ein Hindernis, das uns davon abhalten könnte, gemeinsam weiterzuziehen – und das bist du

»Ich?« Er trat einen Schritt zurück und sah sich wieder verwirrt um, aber schon nach einem Augenblick traf ihn die Wahrheit mit voller Wucht. »Dann ist es tatsächlich vorbei. Ich bin nicht länger ein Sklave deines Onkels  – nicht länger versklavt von … ihnen.« Er deutete auf die leere Tribüne. »Und von all dem hier …« Er starrte auf seine Füße und trat gegen einige Rosenblüten, die er früher so geliebt hatte. Plötzlich begriff er, dass er eine Liebe, die niemals gewankt hatte, gegen eine Liebe eingetauscht hatte, die so wechselhaft war wie der Wind.

»Ich hoffe nicht«, erwiderte sie. »Aber auch das liegt letztendlich ganz bei dir.«

»Worauf warten wir dann noch?«, fragte er und ging zielstrebig auf sie zu.

»Wir warten auf nichts mehr.« Sie lächelte ihn an und schmiegte sich in seine Arme.