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ZWÖLF

Ich entschlüpfte Dacian, schob mich an den römischen Aristokraten vor mir vorbei, hob die Seiten meines Kleids hoch, hielt den Stoff fest und warf mich über den Rand der Loge. Ich landete auf den Schultern eines erschrockenen und empörten Mannes, wich seinen zornig ausgestreckten Händen aus und kam auf dem Boden auf. Dann bahnte ich mir den Weg in die Mitte der Arena, wo Theocoles mit abgeschlagenem Kopf bäuchlings im Sand lag. Daneben stand eine vollkommen unversehrte, aber leicht durchscheinende Version von ihm und starrte verwirrt und niedergeschlagen auf seinen ehemaligen Körper.

»Theocoles.« Ich zerrte an seiner Hand – mir war bewusst, dass ich jetzt schnell handeln musste. Ich hatte keine Ahnung, wohin Messalina gegangen war, aber ich befürchtete, sie würde nicht lange wegbleiben. »Theocoles, bitte, du musst mir zuhören. Du musst begreifen, dass du tot bist. Es ist vorbei. Der Kampf ist verloren, und es gibt kein Zurück mehr. Es tut mir wirklich sehr leid, was dir zugestoßen ist und dass du auf eine so grauenhafte und brutale Weise sterben musstest, aber jetzt ist es an der Zeit, all das hinter dir zu lassen und weiterzuziehen. Es gibt einen besseren Ort für dich – einen viel besseren Ort, an den du gehörst. Und wenn du mir jetzt erlaubst, dich …«

Er wandte sich mir zu, und seine topasfarbenen Augen richteten sich direkt auf meine, als würde er mich tatsächlich sehen und wirklich hören. Ich strahlte vor Freude über meinen Sieg, aber die Feier hob ich mir lieber für später auf. Zuerst musste ich diese Sache zu Ende bringen.

»Wer ist das?«, fragte er flüsternd und starrte auf seine geschundene Leiche.

»Das bist du«, sagte ich leise und mitfühlend. Ich wusste aus eigener Erfahrung, wie schockierend es war, sich selbst beim Übergang vom Leben in den Tod auf diese Weise zu sehen. »Das ist deinem Körper zugestoßen. Es tut mir wirklich leid, aber wie du selbst siehst, existiert der wichtigste Teil von dir weiter. Es ist nicht vorbei für dich, Theocoles. Weit gefehlt.«

Er trat an seine Leiche heran und kniete sich neben sie. Ich folgte ihm, aber im Gegensatz zu ihm vermied ich es, den leblosen Körper genauer zu betrachten, geschweige denn, ihn zu berühren, so wie er es tat – allein der Gedanke daran war grauenhaft. Als Aurelia hatte mich der Anblick von Blut irgendwie gefesselt, aber jetzt war ich wieder ich selbst, und nun war ich nicht nur angewidert, sondern auch zutiefst beschämt, weil ich mich derart hatte mitreißen lassen und mit all den anderen lauthals »Weiterleben!« und »Tod!« gebrüllt hatte. Ich schwor mir, dass das nie wieder geschehen würde.

Ich meine, das glich den scheußlichen Sachen, die man in Horrorfilmen sah – in den Filmen, die ich zu meinen Lebzeiten nicht hatte anschauen dürfen. Meine Eltern hatten mir versichert, dass ich dafür noch zu jung sei und davon Albträume bekommen würde. Seit ich als Seelenfängerin arbeitete, war ich schon oft gezwungen gewesen, mir entsetzliche, blutige, grausige Dinge anzusehen  – Dinge, die meinen Würgereflex bis zum Äußersten strapazierten.

Das reicht, dachte ich. Sobald die Sache mit Theocoles ausgestanden ist, werde ich ein nettes, langes Gespräch mit dem großen Rat über altersgerechtere Aufträge führen!

Doch eine Sekunde später fiel mir ein, warum ich eigentlich hier gelandet war – ich hatte praktisch darum gebettelt, mit einem schwierigen Seelenfang beauftragt zu werden.

»Sei vorsichtig mit deinen Wünschen«, hatte meine Mom immer gesagt. Und als ich jetzt auf den Ekel erregenden, kopflosen Körper vor mir starrte, begriff ich, dass sie Recht gehabt hatte.

Theocoles wandte sich von seiner Leiche ab und starrte seinem Gegner hinterher. Urbicus wurde aus der Arena geschleift. Er befand sich in einem bedauernswerten Zustand, und mir schoss unwillkürlich der Gedanke durch den Kopf, dass auch er nur noch wenige Augenblicke zu leben hatte.

»Und was wird aus ihm?«, murmelte Theocoles, als spräche er mit sich selbst.

Ich sah zwischen den beiden hin und her und zuckte die Schultern. »Er wird wohl seinen Verletzungen erliegen. Und so wie es aussieht schon bald. Letzten Endes müssen wir alle gehen, so sehr wir uns auch noch anstrengen mögen. Der Körper ist vergänglich, aber die Seele stirbt nie.«

Ich war überrascht, als ich begriff, dass ich bei diesen Worten zum ersten Mal keinen Groll mehr über meinen viel zu frühen Tod empfunden hatte. Ich hatte einfach nur die Fakten genannt, die ich kannte, ohne meine übliche Feindseligkeit. Endlich hatte ich den Punkt erreicht, an dem ich meinen Tod nicht mehr persönlich übel nahm.

»Wo sind die Rosen?«, fragte er und zog verwirrt die Augenbrauen zusammen. Er ließ seinen Blick über die Menge und dann auf den sandigen Boden gleiten, der, anders als er es gewöhnt war, nicht mit Blumen, sondern mit Hautfetzen und Blutklumpen bedeckt war. »Sie werfen immer Rosen. Das Publikum liebt mich, und mit den Rosen zeigen sie ihre Zuneigung zu mir. Sie überschütten mich mit Rosenblättern, Tausenden von Rosenblüten, die ich mit den Händen auffange und zwischen den Fingern zerdrücke, so dass ich den Duft hinterher mitnehmen kann. Das hilft mir, in Gedanken alles noch einmal zu erleben.«

»Es tut mir leid«, erwiderte ich. »Wahrscheinlich haben sie es vergessen.« Ich überlegte kurz, ob ich versuchen sollte, ganz schnell einige Rosenblätter zu manifestieren und sie auf dem Boden auszubreiten, damit er sich besser fühlte, aber dann entschied ich mich dagegen.

Es war besser, ihn nicht zu verwöhnen. Er musste den Tatsachen ins Auge sehen, ganz gleich, wie brutal sie waren. Ein wichtiger Teil des Prozesses bestand darin, mit der Wahrheit konfrontiert zu werden. Das würde ihm helfen, endlich weiterzuziehen, und das war dringend nötig für ihn – besser früher als später, wenn man mich fragte.

»Sie haben sich gegen mich gewandt.« Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen, als er die Situation begriff. »Ich habe ihre Bewunderung verloren – ich stehe nicht mehr in ihrer Gunst!« Er sah sich verzweifelt um, als suchte er nach einer Möglichkeit, den Schaden zu beheben. »Ich bin ihr Champion – die Säule der Verdammnis! Wie können sie es wagen, das zu vergessen?«

Seine Stimme brach, als er aufsprang. Er hob seinen Helm auf und winkte damit der Menge zu, bevor er ihn wieder auf den Kopf setzte.

»Ich werde sie zurückgewinnen! Ich werde ihre Gunst zurückerobern! Und wenn es meine letzte Tat ist – ich werde ihren Jubel hören und mich noch einmal in ihrem tosenden Applaus sonnen!«

Oje.

Ich trat neben ihn. »Äh, Theocoles, mal im Ernst, das solltest du dir noch einmal überlegen.« Ich streckte meine Hand nach ihm aus, aber zu meinem Erstaunen rannte er an mir vorbei und wirbelte mir eine Staubwolke ins Gesicht, als er nach seinem Schwert griff und in die Hocke ging.

»Okay, weißt du was?« Ich runzelte die Stirn und rieb mein Gesicht sauber. »Das reicht! Ich meine es ernst. Es ist mir egal, wer du zu sein glaubst. Es ist mir egal, ob du der Champion in dieser Arena bist – oder sogar der Champion der ganzen weiten Welt! Du kannst mir nicht einfach Sand voller Blut ins Gesicht schleudern! Das ist kein Scherz, ich meine es ernst. Es ist mir egal, aus welcher Zeit du stammst und dass du wie ein Barbar gelebt hast. Es ist nicht in Ordnung, dass du mich einfach missachtest! Hast du das verstanden?« Ich stemmte meine Hände in die Hüften und wartete auf eine Antwort. Dann wandte ich mich noch einmal direkt an ihn und wiederholte meine Frage. »Ich sagte: Hast du das verstanden?«

Er erwiderte meinen Blick, und in diesem Moment wusste ich, dass es mir gelungen war, Verbindung zu ihm aufzunehmen. Ich war endlich zu ihm durchgedrungen.

Theocoles hatte mich gehört.

Er hatte mich gesehen.

Mir war soeben gelungen, was noch kein Seelenfänger vor mir geschafft hatte.

Ich hatte ihn aus seiner Trance gerissen.

Ich ging auf ihn zu, streckte meine Hände aus und griff nach seinen. Jetzt war es nur noch eine Frage der Zeit, bis der goldene Schleier erscheinen würde, durch den ich ihn auf die Brücke dorthin führen konnte, wohin er gehörte.

Die Begeisterung, es geschafft zu haben, verschlug mir beinahe die Stimme. Ich schaute ihm in die Augen. »Komm, Theocoles. Es ist Zeit für dich, weiterzuziehen.«