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SECHZEHN

Am nächsten Morgen weckte mich Messalina auf, indem sie mich am Arm rüttelte und in mein Ohr kicherte. »Wach auf, Schlafmütze – auf uns wartet ein großer Tag!«

Ich fuhr mir mit der Hand durch meine zerzausten Locken, wühlte mich aus dem riesigen Kissenberg und ging mit ihr zu einer Truhe hinüber, in der sich eine scheinbar unbegrenzte Menge an traumhaft schönen Seidenkleidern befand. Messalina forderte mich auf, mir etwas herauszusuchen, aber als ich ein schimmerndes Kleid aus pinkfarbener Seide mit aufwändig eingewebten Goldfäden herauszog, nahm sie es mir aus der Hand. »Das nicht.« Sie versuchte, ihre zornige Miene wieder unter Kontrolle zu bringen und die Schärfe aus ihrer Stimme zu nehmen, aber ich hatte ihre Verstimmung bereits bemerkt. »Ich hätte dir sagen sollen, dass ich mich bereits dazu entschlossen habe, heute Pink zu tragen. Und da du Dacian sicher sofort ins Auge fallen möchtest, musst du eine andere Farbe wählen.«

Ich warf einen sehnsuchtsvollen Blick auf das Kleid. Jetzt, da ich es nicht haben durfte, gefiel es mir noch besser als vorher. »Aber wir sind doch wie Schwestern, richtig?« , sagte ich, in der Hoffnung, sie damit umzustimmen. »Wenn wir beide Pink tragen, können wir uns noch näher sein – beinahe wie Zwillinge!«

Das Argument war gut, und ich war mir sicher, sie damit überzeugen zu können, aber Messalina blieb unnachgiebig, ohne meine Worte auch nur in Erwägung zu ziehen. Sie winkte mit einer ungeduldigen Handbewegung ab und griff nach einem Kleid in leuchtendem Kobaltblau mit eingewebten grünen Fäden.

»Das hier – das ist das richtige, daran habe ich keine Zweifel.« Sie wollte, dass ich ihr zustimmte, und hielt mir das Kleid an den Körper, um mich davon zu begeistern, aber ich trauerte immer noch dem pinkfarbenen Kleid nach. »Mit Saphirschmuck oder vielleicht sogar Lapislazuli …« Sie presste einen Finger gegen ihr Kinn, als würde sie ernsthaft darüber nachdenken, wofür sie sich entscheiden sollte. »Nun, wie auch immer, dieses Kleid wird dir gut stehen, davon bin ich überzeugt. Es wird auf jeden Fall deine wunderschönen blauen Augen zur Geltung bringen. Dacian wird völlig außer sich sein, wenn er dich sieht!«

Dacian.

Der Junge, der mich geküsst hatte.

Der Junge, den ich allmählich gernhatte – oder etwa nicht? Messalina schien das auf jeden Fall zu glauben.

Ich bemühte mich verzweifelt, nichts durcheinanderzubringen, aber immer, wenn ich versuchte, in Gedanken sein Bild heraufzubeschwören, sah ich eine in die Stirn fallende braune Haarsträhne, merkwürdige Klamotten, strahlend grüne Augen und ein tröstliches, aber trotzdem fremdes Gesicht vor mir, und all das konnte ich nicht einordnen, so sehr ich mich auch anstrengte.

Ich schüttelte den Kopf, um mich von diesem Bild zu befreien. Messalina starrte mich an – offensichtlich spürte sie meinen Stimmungsumschwung. Da ich ihr nicht erklären wollte, was ich mir selbst kaum erklären konnte, griff ich nach dem kobaltblauen Kleid und zog es mir über den Kopf. Und sobald alle Schärpen und Schleifen an der richtigen Stelle saßen, der Schmuck angelegt und die Haarnadeln festgesteckt waren – und wir beide um die Wette strahlten –, schob Messalina ihren Arm unter meinen. »Und nun lasst die Spiele beginnen!«

 

Das Kolosseum war überwältigend – so etwas hatte ich noch nie gesehen. Ich versuchte, alles gleichzeitig aufzunehmen. Als ich mit Messalina in einer privaten, schattigen Loge angekommen war, sah ich sie aufgeregt an. »Wow! Schau dir nur all die Menschen an! Ist es hier immer so voll?«

»Wenn Theocoles auftritt, dann schon.« Sie sah mich prüfend an.

Ich nickte. Der Name kam mir irgendwie bekannt vor. Er war ein Champion. Und hatte einen merkwürdigen Spitznamen. Aber ich verdrängte den Gedanken daran wieder. Diese Einzelheiten waren nicht wichtig für mich – ich war viel mehr daran interessiert, Dacian wiederzusehen.

»Ich habe gehört, dass Dacian bereits den ganzen Morgen nach dir gefragt hat.« Messalina lächelte, als hätte sie gerade meine Gedanken gelesen. »Anscheinend ist er schon sehr früh gekommen, in der Hoffnung, dich bald wiederzusehen.« Sie beugte sich zu mir vor und kicherte leise in mein Ohr. »Wir wollen ihn nicht enttäuschen, also lass uns noch einmal überprüfen, ob alles richtig sitzt.« Sie hielt mich eine Armeslänge von sich entfernt, musterte mich gründlich und vergewisserte sich, dass alles an seinem Platz war. Dann fuhr sie mir leicht mit einem Finger über die Augenbrauen. »Perfekt! Du bist einfach perfekt. Ich hoffe, du genießt die Vorführung, Aurelia. Und glaub mir – das erste Mal bei den Spielen vergisst man nie!«

Sie schob mich zu Dacian hinüber, der meine Hand ergriff, mich zu unseren Plätzen führte und sofort über das Tagesprogramm zu plaudern begann.

Zuerst kam der Paradeeinzug, rasch gefolgt von den Spielen, die genauso brutal und grausam waren, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Und trotzdem dauerte es nicht lange, bis ich unwillkürlich auf meinem Sitz nach vorne rutschte und mich von der Begeisterung um mich herum mitreißen ließ. Ich jubelte, klatschte in die Hände, trampelte mit den Füßen auf den Boden und fieberte bei diesem Spektakel von schrecklichem, unvorstellbarem Sterben mit, während sich die Leichen von Menschen und Tieren stapelten.

Und als Theocoles die Arena betrat, war mir sofort klar, warum er so verehrt wurde. Er besaß Charisma und war ein strahlender Stern in einer Masse von anmutslosen Rohlingen. Die Art von Krieger, auf den man alle seine Fantasien übertragen konnte.

Der Kampf begann, und ich ging begeistert mit wie alle anderen auch – begierig darauf, noch mehr von dem Gemetzel, Massaker und Blutbad zu sehen, verzehrt von einer unstillbaren Gier nach Zerstörung, die von den vorherigen Kämpfen angefacht worden war. Hin- und hergerissen zwischen der Ungeduld, Urbicus fallen zu sehen – zerfetzt in kleine, blutige Stücke –, und dem Verlangen, die Vorstellung hinauszuzögern, um noch länger diesen Rausch der Gefühle auskosten zu können.

Gespannt verfolgte ich jeden Schlag, jeden Sprung und jeden Schwerthieb von Theocoles – bis sich plötzlich jemand auf den Platz vor mir setzte und mir die Sicht nahm.

»Entschuldigung!« Ich tippte dem Jungen auf die Schulter und wünschte, Dacian würde eingreifen und das für mich erledigen, aber sein Blickfeld war frei, und er starrte gebannt auf die Arena, um nichts zu versäumen. »Entschuldigung, aber ich möchte den Kampf genauso gern sehen wie du, aber das kann ich nicht, weil du mir die Sicht versperrst!«

Der Fremde drehte sich um und schob sich eine Haarsträhne aus den strahlend grünen Augen – es war der Junge vom Abend zuvor, nur dass er jetzt mit einer blauweißen Toga, die ihm bis zu den Knien reichte, weitaus passender angezogen war.

Mein Mund wurde trocken, meine Kehle zog sich zusammen, und in meinem Kopf drehte sich alles. Und ich konnte mir nicht erklären, warum.

Ich meine, ja, er war süß.

Obersüß.

Unglaublich süß.

Aber nicht süßer als Dacian.

Nicht süßer als mein neuer Freund Dacian.

Also warum interessierte er mich überhaupt? Warum empfand ich so? Das ergab einfach keinen Sinn.

»Ich wusste nicht, dass du dich so sehr für die Spiele begeisterst, Riley. Normalerweise widert dich der Anblick von Blut und Gemetzel total an. Und du zeigst sonst mehr Respekt vor Menschenleben. Ich befürchte, ich habe dich wohl falsch eingeschätzt.«

»Ich heiße nicht Riley«, blaffte ich ihn an. Das war das Einzige, was ich mit Sicherheit wusste.

»Tatsächlich?« Er musterte mich aufmerksam. »Nun, dann entschuldige. Du erinnerst mich stark an jemanden, den ich kenne. An jemanden, um den ich mir große Sorgen mache. Und den ich suche.«

»Mein Name ist Aurelia«, erklärte ich. Ich brachte es nicht fertig, meinen Blick von ihm abzuwenden.

»Aha.« Er nickte. »Ich heiße Bodhi.« Er streckte seine Hand aus, aber ich zögerte. Dacian war zwar in die Spiele vertieft und viel zu sehr auf das Geschehen konzentriert, um es zu bemerken, doch ich war mir nicht sicher, ob ich dem Fremden die Hand geben sollte.

»Seid ihr zwei zusammen?«, erkundigte sich Bodhi und sah zwischen mir und Dacian hin und her.

Ich nickte, rieb meine Lippen aneinander und nickte noch einmal.

»Dann will ich dich nicht länger aufhalten«, meinte Bodhi. »Es hat mich gefreut, dich hier zu sehen. Ich kenne nicht viele Leute in dieser Gegend, und es ist nett, ein vertrautes Gesicht zu sehen.«

»Ein vertrautes Gesicht?« Ich zog die Augenbrauen hoch, nicht sicher, ob er das absichtlich gesagt oder sich nur versprochen hatte.

Aber er tat das mit einem ungezwungenen Lachen ab. »Habe ich das gesagt? Das liegt wohl daran, dass du mich tatsächlich sehr an meine Freundin Riley Bloom erinnerst. Ich wollte freundlich sagen. Es ist nett, ein freundliches Gesicht zu sehen. Hier herrscht ein recht raues Klima, falls du das noch nicht bemerkt hast. Aber du scheinst dich ja gut angepasst zu haben, oder?« Er kniff die Augen zusammen und streckte mir erneut seine Hand entgegen.

Ich spähte zu Dacian hinüber und stellte fest, dass er nach wie vor von den Spielen gefesselt war. Also streckte ich meinen Arm aus und legte meine Hand in Bodhis. Er senkte den Kopf, berührte leicht mit den Lippen meinen Handrücken und sah mir dann traurig in die Augen. In diesem Augenblick ging ein Aufschrei durch die Menge.

Theocoles war zu Boden gegangen, und bevor ich mich’s versah, rannte Bodhi, der fremde Junge, in die Arena und hinüber zu Theocoles. »Was ist los?« Ich wandte mich an Dacian. »Was tut er da?«

»Er ist gefallen«, antwortete Dacian und schüttelte betrübt den Kopf. »Die Säule der Verdammnis ist gestürzt.«

Ich richtete meinen Blick auf die Arena. »Nein, ich meine den Jungen, den Fremden von gestern Abend. Was tut er dort unten?«

Dacian kniff die Augen zusammen. »Keine Ahnung.«

Ich sprang auf, bahnte mir den Weg zum Rand der Loge und beobachtete, wie dieser Fremde namens Bodhi sich neben Theocoles kniete und ihm eindringlich etwas ins Ohr flüsterte.

»Das verstehe ich nicht.« Ich drehte mich zu Dacian um, der mir gefolgt war. »Was tun sie dort unten? Was geht hier vor?«

Mein Blick flog über die Menge, und ich fragte mich, warum es niemanden zu kümmern schien, was sich so deutlich vor meinen Augen abspielte.

»Wahrscheinlich haben uns die Hitze und das Spektakel zugesetzt.« Dacian griff lachend nach meiner Hand und zog mich mit sich. »Das ist eine tragische Wende des Geschehens und völlig unerwartet. Was hältst du davon, wenn wir uns einen ruhigen Platz suchen, wo wir uns setzen und ein wenig abkühlen können? Es wird schon bald dunkel, und dann können wir am Nachthimmel wieder Ausschau nach unseren Lieblingssternbildern halten.« Er sah mich so aufrichtig und hoffnungsvoll an, dass ich eigentlich unmöglich widerstehen konnte.

Trotzdem gelang es mir, mich von ihm loszureißen und mich wieder an den Rand der Loge zu drängen, wo ich in die Arena schauen konnte. Überrascht sah ich Messalina dort unten. Sie folgte Theocoles, der hinter seiner Leiche herging, als man sie aus der Arena zog und hinter die schweren Eisentore brachte. Bodhi blieb in der Mitte stehen und sah zu mir herauf. Sein Blick schien mir etwas sagen zu wollen, aber ich verstand seine Botschaft nicht, so sehr ich mich auch bemühte.

Unser Blickkontakt brach ab, als ich ein Geräusch und lebhaftes Gelächter hinter mir hörte, und zuerst an meinem Arm und dann an meiner Stirn eine leichte Berührung wahrnahm. Als ich mich umdrehte, fand ich mich auf einer Party wieder. Messalina stand kichernd neben mir und stellte mir einen supersüßen Jungen namens Dacian vor.