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SECHS
Bevor ich die Augen öffnete, kauerte ich mich zusammen. Ich biss die Zähne aufeinander, zog die Schultern ein und machte mich höchst angespannt auf die Situation gefasst, in der ich mich gleich befinden würde. Vielleicht würde ich im Kolosseum hocken, inmitten eines entsetzlichen, blutigen Kampfes auf Leben und Tod – ein Gemetzel, in dem Forken, Schwerter und von Pferden gezogene Streitwagen eingesetzt wurden. Und bei meinem Glück würde ich auch noch einem Rudel wilder, ausgehungerter Löwen gegenüberstehen.
Umso überraschter war ich, als ich mich nicht inmitten einer grauenhaften Schlacht befand, umgeben von einer johlenden, blutrünstigen Menschenmenge, sondern stattdessen in dem luxuriösesten Ankleideraum, den ich jemals gesehen hatte.
»Wow«, murmelte ich. Ich wollte nicht zu sehr beeindruckt erscheinen, aber das Wort entschlüpfte mir unwillkürlich. Ich hatte noch nie einen Raum gesehen, der diesem auch nur annähernd glich, außer vielleicht im Kino oder im Fernsehen. Im echten Leben jedoch noch nie – und ganz sicher noch nicht im Jenseits. »Wo sind wir?« Ich sah zu Messalina und fragte mich, warum sie mich hierher gebracht hatte. Nicht, dass ich mich darüber beschweren wollte, aber es schien keinen Sinn zu ergeben.
Messalina lachte – ein angenehm klingendes Geräusch, das ringsumher von den aufwändig gemeißelten Marmorsäulen und Wänden als Echo zurückgeworfen wurde. »Das ist mein Zuhause«, erklärte sie, offensichtlich belustigt von meiner Reaktion.
»Du wohnst hier?« Ich machte große Augen, als ich mir staunend alles anschaute. Eine Liege, bedeckt mit farbenprächtigen Seidentüchern und edel bestickten Kissen, eine Ansammlung von Kämmen, Schmuckstücken, Duftölen und Cremes auf einem Tischchen daneben und überall funkelnde, glitzernde Kleidungsstücke – typische Mädchensachen –, die beinahe jeden freien Fleck bedeckten und aus mehreren kunstvoll bemalten Truhen quollen.
»Und das … ist das ein Swimmingpool im Haus?« Ich deutete auf einen flachen, mit Mosaiksteinen verkleideten Pool im angrenzenden Raum. Auf dem Wasser schwammen rosafarbene Blütenblätter, und brennende Fackeln warfen ihren hellen Schein auf die weißen Marmorwände.
Mir blieb der Mund offen stehen, während ich dorthin starrte. Ich fragte mich, warum ich nie auf die Idee gekommen war, mir so etwas zu manifestieren. Und schwor mir, das sofort zu tun, wenn ich wieder in meinem Zuhause im Hier und Jetzt war.
»Das ist mein Zimmer, und das ist mein Badezimmer.« Messalina lächelte vorsichtig. »Obwohl ich nicht sagen würde, dass ich wirklich hier wohne. Das ist der Ort, wo ich aufgewachsen bin, Riley. Und wo ich vor vielen, vielen, vielen Jahren auch gestorben bin.«
Ich ließ meinen Blick wieder über ihre Sachen schweifen; hier gab es so viel zu sehen, dass es mir schwerfiel, alles auf mich wirken zu lassen. »Tja, ich kann verstehen, warum du geblieben bist.« Ich zuckte die Schultern. »Im Gegensatz zu den Gladiatoren in den engen Kammern hast du hier ein schickes Zuhause mit allem Drum und Dran.«
»Es ist sehr hübsch und gemütlich, das stimmt.« Sie warf mir einen ernsten Blick zu. »Aber du täuschst dich – das ist nicht der Grund, warum ich noch hier bin. Ganz und gar nicht«, fügte sie hinzu.
Die unüberhörbare Schärfe in ihrer Stimme erregte meine Aufmerksamkeit. »Warum bist du denn immer noch hier?«, fragte ich. Ich fand, es war an der Zeit, zur Sache zu kommen. Höchste Zeit, mich nicht mehr so stark von dieser luxuriösen Umgebung beeindrucken zu lassen, sondern mich mehr auf den Grund zu konzentrieren, warum ich ihr meine Hand gereicht hatte und mit ihr hierhergekommen war.
Aber Messalina hatte ihre eigenen Vorstellungen, und anstatt mir eine Antwort zu geben, warf sie mir erneut einen strengen Blick zu. »Du versuchst immer noch, mit der Tür ins Haus zu fallen, nicht wahr?« Sie schüttelte den Kopf, hob die Hand an die Stirn und steckte sich eine lose Haarsträhne hinter das Ohr. »Du wirst alles erfahren, wenn die Zeit dafür gekommen ist, Riley, darauf gebe ich dir mein Wort. Aber wenn du etwas über Theocoles’ Welt wissen willst, musst du dich zuerst ein wenig anpassen und dich in diese Welt einfügen.«
»Was soll das heißen?« Meine Stimme klang ein wenig zu hoch, und misstrauisch beobachtete ich, wie sie einen ihrer langen, zarten Finger auf ihre Kinnspitze legte und nachdenklich ihre Augen zusammenkniff. Sie musterte mich von oben bis unten, immer wieder, bis sie anscheinend zu einem Entschluss gekommen war.
»Nun, zuerst einmal müssen wir etwas an deiner Kleidung ändern.« Sie deutete auf mein Outfit und bewegte den Finger hin und her, als fände sie es schrecklich und auch anstößig. »Es tut mir leid, wenn ich das sagen muss, aber in diesem Aufzug wirst du nicht weiterkommen.«
Ich war empört. So verblüfft, dass mir die Spucke wegblieb. Ich meine, im Ernst, sie fand vielleicht meine Kleidung anstößig, aber das war nichts im Vergleich zu ihrem spöttischen Grinsen, mit dem sie mich beleidigte.
»Ähm, nur zu deiner Information«, begann ich und versuchte mit aller Kraft, meine Stimme ruhig klingen zu lassen und meine Gefühle unter Kontrolle zu behalten, obwohl ich immer zorniger wurde. »Das …« Ich deutete mit dem Daumen auf meinen Brustkorb. »Das ist zufällig auf der Erdebene der letzte Schrei. Miley Cyrus hat genau dieses T-Shirt getragen, als sie vor Kurzem unterwegs in ein Café war und die Paparazzi sie mit einem riesigen Teleobjektiv verfolgt haben, um ein scharfes Bild von ihr zu schießen. Natürlich weiß ich, dass du seit ungefähr einer Fantastilliarde Jahren tot bist und wahrscheinlich keine Ahnung hast, wer Miley Cyrus ist, aber nur damit das klar ist, möchte ich dir sagen, dass …«
»Riley, bitte …« Sie hob die Hand und schnitt mir mit einer Bewegung das Wort ab. »Ich weiß, wer Miley Cyrus ist. Ich kann mich jederzeit zwischen dem alten und dem modernen Rom hin- und herbewegen, weißt du. Obwohl ich zugeben muss, dass ich den Großteil meiner Zeit hier verbringe. Es tut mir leid, wenn ich dich beleidigt habe, aber ich wollte dir nur sagen, dass deine moderne Kleidung nicht in diese Welt passt. Wenn du dich hier einfügen möchtest, dann musst du dich auch zeitgemäß anziehen. Und später wirst du auch lernen müssen, entsprechend aufzutreten.«
»Also, was nun?«, fragte ich. So leicht wollte ich nicht nachgeben. Meine Klamotten gefielen mir. Sie waren brandneu – ich hatte sie erst vor Kurzem manifestiert – , und Messalina musste mir noch mehr überzeugende Gründe als bisher dafür liefern, damit ich mich davon trennen würde. »Willst du mich etwa in eine dieser verdreckten Gladiatoren-Tuniken stecken, in der Hoffnung, dass ich mich dann auf wundersame Weise unter all diese brutalen Mörder mischen kann? Es tut mir leid, aber ich habe große Zweifel daran, dass das funktionieren wird. Ich bezweifle, dass ich mich ihnen anpassen kann.«
Ich schüttelte den Kopf und murmelte noch ein paar Worte, die nicht für ihre Ohren bestimmt waren. Doch sie brachte mich auf überraschende Weise zum Schweigen, als sie ihre Hände in die Hüften stemmte und sich zu mir vorbeugte. »Zuerst einmal – sie sind nicht alle brutale Mörder.« Sie schwieg eine Weile, damit ihre Worte wirken konnten. Als sie weitersprach, funkelten ihre Augen. »Oberflächlich betrachtet, sieht das vielleicht so aus, das verstehe ich, aber wenn du deine Mission hier erfüllen willst, dann darfst du sie nicht alle so gedankenlos über einen Kamm scheren. Du darfst nicht vergessen, dass hinter ihrer Geschichte viel mehr steckt, als du bisher mitbekommen hast. Jeder Einzelne von ihnen hat seine persönlichen Gründe für das, was er tut. Ich glaube, du wirst sehr überrascht sein, wenn du mehr darüber erfährst. Und außerdem hast du anscheinend ein Problem damit, anderen Menschen zu vertrauen, richtig?« Sie musterte mich wieder. Offensichtlich betrübte dieser Gedanke sie, also stellte ich das schnell richtig.
»Nein, nicht anderen Menschen. Nur Geistern.« Ich ahmte ihre Körperhaltung nach, indem ich ebenfalls meine Hände in die Seiten stemmte und mich vorbeugte, bis sich unsere Nasenspitzen beinahe berührten. »Und glaub mir, ich habe meine Gründe dafür. Ich habe mir schon mehr als einmal die Finger verbrannt. Und ich habe nicht vor, das noch einmal zuzulassen.«
Ich nickte bekräftigend, um ihr klarzumachen, dass man sich mit mir nicht anlegen sollte, aber Messalina wandte sich ab. Sie bückte sich zu einer Truhe mit schimmernden, wunderschönen Kleidungsstücken aus Seide und wühlte darin herum.
»Nun, dann erlaube mir, dazu etwas zu sagen. Es ist mein aufrichtiger Wunsch, dass du lernen wirst, dich zu entspannen und mir zu vertrauen.« Sie warf mir über die Schulter einen Blick zu und lächelte. »Ich hoffe sehr, dass wir Freundinnen werden. Es ist schon so lange her, dass ich die Gesellschaft eines Mädchens in meinem Alter genießen konnte.«
Ich schob meine Hände tief in meine Hosentaschen und sah sie zweifelnd an. Ich hatte auch schon seit einiger Zeit keine Freundin mehr, und das war etwas, was ich allmählich wirklich vermisste, aber glaubte sie tatsächlich, dass wir im gleichen Alter waren? Sie musste doch sehen, dass uns einige Jahre voneinander trennten.
»Aber bis dahin …«, fuhr sie fort und tat meinen Blick mit einer Handbewegung ab. »Was hältst du davon, wenn wir deine Blue Jeans und dein Miley-Cyrus-T-Shirt gegen das hier eintauschen?«
Ich beobachtete gespannt, wie sie ein blaues Seidentuch aus einer der Truhen zog und es mit den Fingerspitzen in die Luft hielt – das Licht der Fackeln, das durch das Fenster hereinfiel, tauchte es in ein schimmerndes Glühen.
Das Blau war mein absoluter Lieblingsfarbton – ein tiefes, leuchtendes Aquamarinblau. Eine Farbe, die sofort Bilder von einem entspannten Tag, an dem ich mich in den Tropen im Meer treiben ließ, in meinen Gedanken hervorrief. Nicht, dass ich jemals einen solchen herrlich faulen Tag verbracht hätte, aber daran musste ich unwillkürlich denken. Und als sie auf mich zukam und der Stoff zwischen uns raschelnd hin und her wogte, wusste ich, dass ich nicht widerstehen können würde. Die Verlockung war viel zu groß.
Sie drückte den Stoff gegen meine Brust, zupfte an den Schultern und an der Taille herum und presste die Lippen aufeinander, während sie das Kleid an einigen Stellen noch zog und zerrte, um den Sitz zu prüfen.
»Was sagst du dazu?«, fragte sie, während ich an mir heruntersah. »Gefällt es dir? Ich finde, es betont deine blauen Augen.«
»Es ist wirklich schön«, gab ich zu. Obwohl ich mir auch eingestehen musste, dass das Kleid sicher lange nicht mehr so schön aussehen würde, wenn ich es erst einmal anhatte. Jetzt, da sie es gegen meinen Körper presste, war mir klar, dass das nicht funktionieren würde.
Ich meine, um das klarzustellen, ich fahre eigentlich auf Klamotten richtig ab, und ich bilde mir ein, dass ich einen recht guten Geschmack habe, auch wenn Messalina anders darüber denken mochte. Aber die Sachen, die ich üblicherweise trage, sind ein bisschen sportlicher als das Kleid, das sie mir gerade andrehen wollte – ein langes Kleid aus fließendem Stoff, das sehr feierlich und irgendwie bedeutungsvoll aussah.
Das war ein Kleid, das man tragen würde, wenn man für einen Oscar oder einen Grammy oder so etwas nominiert wäre.
Und ein solches Kleid erforderte einen Körper, der das Material ausfüllte – die Art von Körper, die mir bisher versagt geblieben war.
Im Ernst, man musste nur einen Blick darauf werfen, um zu wissen, dass das nur in einer riesigen Enttäuschung enden konnte. In dem Moment, in dem ich mir das Kleid anzog, würde es nicht mehr so magisch fließen und wogen. Stattdessen wurde es schlapp an mir herunterhängen wie eine zu lang gekochte Nudel.
»Äh, hast du noch etwas anderes?« Ich schob das Kleid beiseite, als fände ich es unerträglich. »Irgendetwas, was besser zu jemandem … na ja, jemandem wie mir passt.«
Messalina neigte den Kopf zur Seite, zog die Augenbrauen hoch und betrachtete mich. »Das passt sehr gut zu jemandem wie dir. Ganz sicher. Komm schon, Riley, warum lässt du es nicht darauf ankommen und probierst es an? Ich glaube, dass dich das Ergebnis sehr überraschen wird.«
Ihre Stimme klang sehr überzeugend, doch auch wenn ich mich versucht fühlte, ihr aufs Wort zu glauben, zögerte ich.
Ich hatte keine Lust auf diese Art von Demütigung.
Ich wollte nicht bestätigt haben, was ich bereits wusste.
Aber trotz meiner Proteste blieb Messalina beharrlich – so schnell gab sie nicht auf. »Vergiss nicht, dass du deine Welt weit hinter dir gelassen hast. Du befindest dich jetzt in meiner Welt. Bitte, warum versuchst du nicht, mir zu vertrauen? Warum wagst du es nicht einfach, dieses Kleid anzuprobieren und dann selbst zu entscheiden?«
Ich hatte keine Ahnung, warum es so wichtig für sie war, aber ich begriff, dass es sinnlos war, mich gegen sie zur Wehr zu setzen. Soweit ich das beurteilen konnte, hatten wir beide den gleichen Dickkopf. Und das hieß, je länger ich mich querstellte, umso mehr Zeit würde es mich kosten, bis ich mich meinem Auftrag widmen und dann ganz schnell von hier verschwinden konnte – und genau das konnte ich kaum mehr erwarten.
Ich seufzte laut und ließ keinen Zweifel daran, wie ungern ich mich fügte und es zuließ, dass sie mir das duftige, blaue Stoffstück über den Kopf streifte.
Ihre Finger bewegten sich geschickt und schnell, während sie den Stoff zurechtzog, daran zupfte, ihn in Falten legte und noch einmal in die richtige Position rückte. Dabei gab sie pausenlos glucksende Geräusche von sich und schnalzte wiederholt mit der Zunge. Ich war versucht, nach unten zu schauen, aber sie hatte mir streng befohlen, entweder die Augen zu schließen oder nach vorne zu schauen. Es war mir nicht erlaubt, das Endergebnis zu begutachten, bevor sie mir ihre Einwilligung dazu gab.
Als das Kleid richtig saß, begann sie, weiter an mir herumzuzupfen. Sie zog an meinem Haar, schob einige Strähnen nach oben und befestigte sie mit etlichen glitzernden Schmuckstücken, die sie von dem Beistelltisch nahm. Nachdem sie noch Clips an meinen Ohrläppchen befestigt hatte und mir eine schwere, mit Edelsteinen besetzte Kette um den Hals gelegt hatte, bat sie mich, erneut die Augen zu schließen – na ja, eigentlich war es eher ein Befehl –, und da ich mich ohnehin schon damit abgefunden hatte, ihr zu gehorchen, folgte ich ihrer Anweisung.
»Und halte sie geschlossen«, fügte sie hinzu, sobald ich ihrer Bitte Folge geleistet hatte. »Du darfst nicht gucken, bevor ich es dir sage. Versprochen?« Ich nickte seufzend, fest davon überzeugt, dass sie mich hereingelegt hatte, und wir beide gleich eine Riesenenttäuschung erleben würden.
Ihre Füße tappten leise über den Boden, und sie hantierte mit irgendetwas in einer Ecke. Kurz darauf kam sie zurück und murmelte leise in mein Ohr: »Jetzt möchte ich, dass du dich in deine Gedanken vertiefst und dich nicht auf das Bild konzentrierst, das du sehen wirst, sondern auf deine Wunschvorstellung.«
»Du meinst, so … als würde ich etwas manifestieren?« Frustriert sank ich buchstäblich in mich zusammen. Ich war sicher, dass das nicht funktionieren würde.
Ich war zwar inzwischen daran gewöhnt, mir Sachen wie Kleidung, Bücher, iPods und neue Möbel für mein Zimmer manifestieren zu können, indem ich mir einfach nur das vorstellte, was ich haben wollte. Die Sachen erschienen dann wie von Zauberhand, aber ich wusste genau, dass das nicht funktionierte, wenn es um mich ging. Ich meine, natürlich hatte ich bereits daran gedacht – und ich hatte es auch schon versucht.
Aber Messalina war fest entschlossen, mich davon zu überzeugen – aus welchem Grund auch immer. »Ja, es ist genau wie das Manifestieren«, erwiderte sie. »Und damit es funktioniert, darfst du keine Zweifel haben. Bitte denk daran, dass du dich jetzt in meiner Welt befindest, Riley.«
Ehrlich gesagt, fühlte ich mich ziemlich albern in diesem blauen Kleid. Ich kniff die Augen zusammen und versuchte, in Gedanken ein Bild von mir heraufzubeschwören, das es ganz sicher niemals wirklich geben würde.
Aber ein Teil von mir fragte: warum eigentlich nicht? Schließlich hatte ich nicht viel zu verlieren. Ich meine, hatte Bodhi mir nicht eingetrichtert, dass ich mich selbst als Teenager sehen musste, wenn ich ein Teenager sein wollte? Dass ich mich so verhalten musste, als wenn ich bereits ein Teenager wäre? Wenn es funktionierte, nun, dann würde mein Traum endlich wahr werden – und allein der Gedanke daran war das Risiko wert, dass ich mich vielleicht gleich noch alberner fühlte, als ich es ohnehin schon tat.
Ich kniff meine Augen noch fester zusammen und bereitete mich darauf vor, hineinzutauchen, mein Äußerstes zu geben und mich selbst als Kinostar oder Supermodel zu sehen – oder als eine Mischung aus beidem. Aber bevor das Bild vor meinen Augen Gestalt annehmen konnte, löschte ich es wieder und begann von Neuem. Ich stellte mir vor, dass es viel interessanter wäre, eine Version von mir zu sehen, die wirklich meinem ganzen (und viel glaubhafteren) Potenzial entsprach – ganz anders als das Bild, das meine Mutter von mir hatte.
»Kannst du dich sehen?« Messalinas Stimme klang aufgeregt. »Kannst du dir vorstellen, dass du wie eine Blume erblühst?«
Sie fuhr mir sanft mit einem kühlen Finger über die Augenbrauen, während ich mich weiterhin so stark konzentrierte, wie ich konnte. Ich versuchte, eine Version von mir heraufzubeschwören, die sich nicht komplett von dem unterschied, wie ich im Moment war – nur besser, größer. Eine Version, bei der der Babyspeck in meinem Gesicht zwei wohl geformten Wangenknochen gewichen war, und bei der auf wundersame Weise meine Stupsnase … na ja … nicht mehr so knubbelig war.
Oh, und natürlich gestaltete ich mein Haar dichter und welliger und auch viel glänzender – so wie die Haare, die man in der Shampoowerbung sah. Und als ich dann an meinen Körper vom Hals abwärts dachte, tja, da verwandelte ich meine magere Gestalt ganz schnell in eine Figur mit den Kurven an den richtigen Stellen, die in dem Kleid entsprechend zur Geltung kommen würden.
Als ich dieses Bild fest in meinen Gedanken verankert hatte, nickte ich Messalina kurz zu, damit sie wusste, dass ich bereit war. Sie klatschte in die Hände und rief: »Schau dich an!« Ich schlug die Augen auf.
Ich starrte in den großen Spiegel, den sie vor mir aufgestellt hatte, und für einen Moment verschlug es mir den Atem. Das Spiegelbild glich meiner älteren Schwester Ever, aber trotzdem zeigte es noch mein wahres Ich – wenn auch eine bessere, hübschere und reifere Version von mir.
Ich sah genauso aus wie das Bild, das ich in meinen Gedanken heraufbeschworen hatte.
»Was hältst du davon? Gefällt dir, was du siehst? Mit dem Kleid lag ich richtig, oder?« Messalinas Stimme klang aufgeregt, und sie sah mich gespannt an.
Ich fuhr zuerst langsam mit den Fingern über den Spiegel und dann über meinen Körper – ich konnte die ungeheuere Veränderung, die sich so rasch vollzogen hatte, kaum fassen. Ich drehte mich zu ihr um und lächelte sie strahlend an. Meine Augen glänzten, meine Wangen glühten, und meine Stimme klang ein wenig heiser, als ich meine Dankbarkeit ausdrücken wollte. »O ja, es gefällt mir sehr gut. Ich sehe aus, als wäre ich mindestens …« Ich wandte mich wieder meinem Spiegelbild zu. Gerade wollte ich sagen: Ich sehe aus wie dreizehn – das Alter, nach dem ich mich so sehr gesehnt habe! –, doch dann begriff ich, dass ich es geschafft hatte, die Dreizehn hinter mir zu lassen.
Vielleicht sogar die Vierzehn.
Und möglicherweise auch die Fünfzehn.
»Wie alt bist du?«, fragte ich sie und musterte sie erneut, in der Hoffnung, dass sich mein Fortschritt mit ihrem messen ließ, denn sie wirkte nach wie vor älter als ich.
Aber Messalina hob und senkte nur ihre Schultern auf diese ihr ganz eigene anmutige Weise. »Ich weiß es nicht«, erwiderte sie. »Ich schätze, niemand hat sich je die Mühe gemacht, darüber auf dem Laufenden zu bleiben.«
Meine Augen traten hervor, und ich starrte sie an – das sah sicher nicht sehr hübsch aus, aber ich konnte nicht anders. So etwas hatte ich noch nie gehört. Das war so unerhört, so unvorstellbar, dass ich sie sofort verdächtigte, mich anzulügen.
»Meine Eltern starben, als ich noch klein war«, fuhr sie fort. Ihre Stimme klang fest und sachlich, ohne eine Spur der Gefühle zu verraten, die sie vielleicht vor langer Zeit empfunden hatte. »Ich habe bei Verwandten gelebt, die mich nur widerwillig aufgenommen haben, bis ich dann hier gelandet bin. Der Ludus gehörte meinem Onkel. Meine Tante konnte keine Kinder bekommen und sehnte sich so sehr danach, Mutter zu sein, dass sie sich mit mir begnügte. Ich habe einige Zeit hier verbracht, aber ich kann nicht genau sagen, wie viele Jahre es waren. Ich weiß nur, dass ich noch ein Kind war, als ich hier ankam, und dass ich bei meinem Tod so aussah wie jetzt.« Sie ließ eine Hand über ihre Seite gleiten.
»Dann hattest du nie eine Geburtstagsfeier?« Ich bemühte mich, meine Überraschung zu verbergen, aber für mich war das undenkbar, ein Unding. Geburtstage waren immer sehr wichtig für mich gewesen.
Sie blinzelte, neigte den Kopf zur Seite und sah mich an, als wäre meine Reaktion völlig unverständlich für sie, so als würde sie nicht begreifen, warum ich so großen Wert auf etwas legte, das ihrer Meinung nach derart unwichtig war, dass man es einfach ignorieren konnte.
Ihr Verhalten veranlasste mich dazu, das Thema mit einer Handbewegung abzutun und zu beenden. Wir stammten aus unterschiedlichen Zeiten und verschiedenen Kulturkreisen – ich durfte mich nicht von Dingen ablenken lassen, die mir vermutlich bei der Aufgabe, für die ich hierhergekommen war, nicht weiterhelfen konnten.
Ich wandte mich wieder meiner grandiosen Verwandlung zu, der erwachseneren Version von mir, und trat näher an den Spiegel heran. Ich ließ eine Hand über meine schimmernden Locken gleiten, die mir bis zur Taille reichten, und betrachtete den blassgrünen Schimmer, der mich umgab – und ich dachte daran, dass er schon in einem tieferen Ton geglüht hatte, ein wenig intensiver, bis sich die Dinge bei meinem letzten eigenmächtigen Seelenfang nicht so gut entwickelt hatten, und mein Fortschritt zum Rückschritt wurde. Ganz im Gegensatz zu Bodhis Glühen, das jetzt viel leuchtender strahlte und sich am Rand grünblau verfärbte, bis es zu einem wunderschönen kräftigen Aquamarinblau wurde – der gleiche Farbton wie das Kleid, das ich jetzt trug.
Er war mühelos fünfzehn geworden, während ich immer noch zwölf war und feststeckte. Und trotzdem war ich mir sicher, dass er ebenso vom Donner gerührt wäre wie ich, wenn er jetzt sehen könnte, wie schnell ich mich weiterentwickelt hatte. Das Einzige, was mir die Verwandlung verdarb, war dieses dumme, kaum vorhandene Glühen.
»Ist alles in Ordnung?« Messalina sah mich prüfend an und verzog das Gesicht. »Bist du nicht zufrieden mit deinem neuen Ich?«
Ich warf einige Blicke zwischen unseren Spiegelbildern hin und her und kam nicht umhin, das klägliche grüne Schimmern als das zu sehen, was es in Wahrheit war – eine ständige Erinnerung an das, was ich falsch gemacht hatte. Ein schmerzhaftes Andenken an das, was ich bereits gelernt hatte. Und das mit mir herumschleppen zu müssen, tat mir nicht gerade gut.
Messalina besaß kein Glühen, ebenso wenig wie die anderen Geister, die ich im Ludus gesehen hatte. Und wenn mein Ziel darin bestand, mich ihnen so gut wie möglich anzupassen, nun, dann war es ganz klar, dass mein Glühen vorerst verschwinden musste.
Ich senkte meinen Blick und stellte mir vor, wie ich ohne dieses grünstichige Schimmern aussehen würde – und als ich wieder nach oben schaute, war es verschwunden. Kinderleicht – einfach so. Und zurück blieb eine perfekte Version meines neuen, herrlichen Ichs.
Messalina starrte mich besorgt an. Ihre Augen glänzten, und sie spielte mit den Ringen an ihren Fingern, während sie gespannt auf meine Reaktion wartete, um zu erfahren, wie ich meine plötzliche Verwandlung fand. Ich musste sie rasch erlösen.
»Genau davon habe ich schon so lange geträumt!« Ich ließ meine Hände über das Kleid gleiten, während sich ein strahlendes Lächeln auf meinem Gesicht ausbreitete. »Ich fühle mich wie ein Schmetterling, der endlich aus seinem Kokon geschlüpft ist.« Ich sah ihr in die Augen und fragte mich, wie ich meine tief empfundene Dankbarkeit am besten ausdrücken konnte. »Ich habe wirklich keine Ahnung, wie ich dir dafür jemals genug danken kann«, sagte ich und meinte jedes Wort ernst.
Messalina lächelte und streckte ihren Arm aus. Sie ergriff meine Hand und führte mich durch den Raum. »Darüber sollten wir uns im Augenblick keine Gedanken machen«, meinte sie. »Dafür haben wir sicher später noch genügend Zeit. Jetzt sollten wir das Werk noch vollenden.« Sie blieb vor einem hübschen Tablett stehen, hob eine Hand voll glitzernder Goldringe hoch und betrachtete sie sorgfältig, bevor sie zwei aussuchte und sie mir reichte. »Das sind genaue Kopien von denen, die ich trage.« Sie hob lächelnd eine Hand und bewegte die Finger hin und her, damit ich die Ringe sehen konnte. »Ich hoffe, du betrachtest das als Besiegelung und Zeichen unserer Freundschaft.« Ihr Lächeln wurde noch strahlender, während sie mir zusah, wie ich die Ringe über meine Finger streifte. »Eigentlich stehen wir uns jetzt sogar noch näher, als es bei Freundinnen der Fall ist – wir sind eher wie Schwestern, findest du nicht?«
Ich runzelte die Stirn und wollte ihr widersprechen. Mit ihr befreundet zu sein, war eine Sache, aber so zu tun, als sei sie meine Schwester, war etwas ganz anderes. Ich hatte bereits eine Schwester – eine Schwester, die ich liebte, bewunderte und sehr vermisste, und die niemals, niemals durch jemanden ersetzt werden konnte.
Genau das wollte ich Messalina gerade sagen, als sie mit einem Finger zart über meine Stirn strich und damit ein merkwürdiges Gefühl in mir erweckte. Ich spürte Freundlichkeit und Anerkennung und fühlte mich plötzlich nicht mehr so einsam wie bisher. Unwillkürlich fuhr mir der Gedanke durch den Kopf: Ach, was soll’s? Was kann es schon schaden, wenn ich so tue als ob?
Und bevor ich mich versah, lachte und kicherte ich und war bereit, ihr zu folgen, wohin sie mich auch führen mochte. Sie hakte sich bei mir unter. »So, Schwesterchen, nun müssen wir uns beeilen«, erklärte sie. »Ein rauschendes Fest wartet auf uns!«